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Interview mit dem ägyptischen Filmproduzenten Mohamed Hefzy

»Wir experimentieren, wo die Grenzen liegen«

Interview
von Leo Wigger
Interview mit dem ägyptischen Filmproduzenten Mohamed Hefzy
privat

Der ägyptische Filmproduzent Mohamed Hefzy erzählt, warum die Shitstorms zu seinen Filmen nicht abreißen und warum er sich dank Serien wie »Moon Knight« über eine authentischere Darstellung seiner Heimat Ägypten freut.

zenith: Der von ihnen mitproduzierte erste arabischsprachige Film für den Sender Netflix »Fremde Freunde« schlug in der Arabischen Welt wegen seiner Darstellung von Homosexualität und Alkohol große Wellen. Haben die Reaktionen Sie überrascht?

Mohamed Hefzy: Ich war ehrlich überrascht über die Aggressivität, mit der in den Sozialen Medien gehetzt wurde. Aber das ist das Zeitalter, in dem wir leben. Die Sozialen Medien machen es jedem möglich, seiner Stimme Gehör zu verschaffen, auch wenn die geäußerte Meinung an der Grenze zur Straftat liegt. Was wir brauchen, sind Debatten und Kontroversen, die zu einer gesunden Diskussionskultur beitragen. Online-Hetze, die zu Morddrohungen und Angst führt, wie sie der Hauptdarstellerin Mona Zaki entgegenschlug, ersticken jegliche Kreativität. Ich denke da etwa an den Film »Cairo 678« (2010) des Direktors Mohamed Diab, in dem sexuelle Belästigung thematisiert wird. Ich bin mir nicht sicher, ob man diesen Film heute noch so machen könnte.

 

Woran liegt das?

An Zensur, den Medien im Allgemeinen und natürlich den Sozialen Medien im Besonderen. Die Frage lautet: Wie offen wollen wir gesellschaftliche Missstände ansprechen? Natürlich ist es auch in Ordnung, vorsichtig zu sein und niemanden beleidigen zu wollen. Für mich sind viele »kontroverse Themen« oft nicht kontrovers. Wir sind als Gesellschaft so polarisiert, dass es praktisch unmöglich geworden ist, Inhalte zu produzieren, die nicht irgendjemanden verletzen.

 

Sind Kontroversen in der Kultur manchmal notwendig, um gesellschaftliche Veränderungen zu ermöglichen?

Für meinen Film »Amira« (2021) gab es viel Kritik aus Jordanien und Palästina, »Hudas Salon« (2021) war in Palästina durchaus umstritten und »Feathers« (2021) sorgte in Ägypten für Furore. Und jetzt auch noch die Debatte um »Fremde Freunde«. Von meinen vier neuesten Filmen waren alle irgendwo kontrovers. Ich suche aber meine Filme nicht nach dem höchsten Maß an Schockwert aus, sondern versuche, interessante und wichtige Geschichten zu finden. Ich produziere auch Komödien: Zuletzt zum Beispiel den Film »Defending Champion« (2022) über einen alternden Fußballstar, der plötzlich schwanger wird. Das spricht auch gesellschaftliche Themen an, ist aber leichter verdaubar für das Publikum. Ich kann nicht nur ständig solche Komödien produzieren, sondern brauche auch Filme, die meinen Intellekt herausfordern.

 

Die Reaktionen auf Ihre Filme fallen regional oft sehr unterschiedlich aus. Wo arbeiten Sie am liebsten?

Für ein paar Monate war es sehr schwer, Drehbücher durch die Zensurbehörde in Ägypten zu bekommen. Wir wichen dann auf Jordanien aus und ich arbeite häufig im Libanon. Ägypten liegt mir aber sehr am Herzen: Es ist mein Land und meine Kultur. Hier kann ich am meisten Mehrwert schaffen. Ich will Filme machen, die die Leute bewegen und unterhalten, aber auch herausfordern – aber mehr gesellschaftlich als politisch. Ich will niemanden zu Unruhen anstiften. Ich sehe mich als Produzenten, der es schafft, innerhalb der bestehenden Verhältnisse zu arbeiten und dort die Inhalte zu produzieren, die ich sehen möchte.

 

»Sprache und Sexualität können ganz anders dargestellt werden als im Fernsehen«

 

Das lineare Fernsehen ist weltweit in der Krise. Plattformen wie Netflix werden im Nahen Osten immer aktiver. Wie verändert diese Entwicklung den arabischen Film?

Werfen wir einen Blick auf Ägypten – den größten Markt für das arabische Kino. Traditionell werden rund 70-80 Prozent der Filme und Fernsehserien für die Ramadan-Saison produziert. Das folgte immer einem klaren Schema: 30 Episoden à 30 Minuten, die täglich während des Fastenmonats gezeigt werden. Künstlerisch war das Format limitiert: Das Storytelling, der Aufbau, die Themen glichen sich immer. Das ändert sich – die Plattformen haben das Muster aufgebrochen.

 

Inwiefern?

Es gibt mehr Freiräume für neue Erzählweisen und es wird mehr experimentiert. Statt 30 Folgen mal 30 Minuten werden jetzt auch Serien mit 6 oder 8 Folgen und vielleicht 45 Minuten Länge produziert – das verändert das Storytelling. Eine Ramadan-Serie wird normalerweise mit drei Drehtagen pro Folge berechnet – die Plattformen bezahlen aber auch mal zehn Tage pro Folge. Man hat einfach mehr Zeit, um Qualität zu liefern – egal ob beim Drehbuchschreiben oder der Postproduktion. Das ist befreiend.

 

Eröffnen sich auch inhaltlich neue Freiheiten?

Sprache und Sexualität können ganz anders dargestellt werden als im Fernsehen, viel freier und offener – zumindest dachten die Plattformen das ursprünglich. Aber dann trafen sie auf eine Art der Zensur, die sich über Shitstorms in den Sozialen Medien definiert. Wir experimentieren gerade noch, wo da die Grenzen liegen.

 

Wie sieht es finanziell aus?

In den arabischen Markt fließt momentan eine Menge Geld. Eine sechsteilige Serie auf einer Plattform nimmt schnell das Budget einer normalen Ramadan-Serie an. Disney+, HBO, Apple, Netflix und Amazon Prime buhlen gerade um arabische Inhalte. Bisher wird der Markt von MBC und United Media Services dominiert. Dazu strömen auch lokale Plattformen wie TOD aus Katar auf den Markt. Wenn man das alles zusammenzählt, sprechen wir von Investitionen von bis zu einer Milliarde US-Dollar – mehr als das doppelte von dem, was heute ausgegeben wird.

 

»Die Sender machten sich auf die Suche nach günstigeren Alternativen und wurden in der Türkei fündig«

 

Ägypten ist das alte Filmzentrum des Nahen Ostens. Welche Rolle wird es in diesem neuen Goldrausch spielen?

Ägypten ist längst nicht mehr der Filmhotspot, der das Land vor 15 oder 20 Jahren war. Kinder, die heute in der Region aufwachsen, haben weniger Berührungspunkte mit ägyptischen Filmen als ihre Eltern. Gerade in Nordafrika, in Marokko oder Tunesien, hat diese Vertrautheit abgenommen. In den Golfstaaten ist das Interesse hingegen noch relativ ungebrochen. Für den ägyptischen Film ist das eine große Herausforderung. Ägypten ist aber weit davon entfernt, von den Kinoleinwänden und Bildschirmen zu verschwinden – 40-50 Prozent Marktanteil halte ich weiterhin für realistisch.

 

Wer sind die größten Konkurrenten?

Saudi-Arabien. Ich erwarte, dass die Saudis bald produktionstechnisch in Größenordnungen vorstoßen, die bisher nur Ägypten und vielleicht ansatzweise Tunesien, Libanon oder Marokko erreichen konnten. Sollte sich Ägypten abschotten und versuchen, die Medienproduktion zu monopolisieren, werden wir nicht mit den Saudis mithalten können. Wenn das Land offenbleibt, sollte unser Marktanteil stabil bleiben.

 

In den letzten Jahren haben arabische Filme auch unter Arabern an Beliebtheit verloren, erst an lateinamerikanische Telenovelas und zuletzt an türkische Dizi.

Die Gründe, warum arabische Sender angefangen haben, ägyptische Filme mit türkischen zu ersetzen, waren ursprünglich finanzieller Natur. Die ägyptische Filmindustrie war aufgrund ihres Erfolges zu teuer geworden. Filmlizenzen für Durchschnittsware kosteten plötzlich nicht mehr 30-40.000 Dollar, sondern 80.000 Dollar pro Stunde. Hochklassige ägyptische Filme sogar bis zu 150.000 US-Dollar. Die Fernsehsender machten sich also auf die Suche nach günstigeren Alternativen und wurden in der Türkei fündig.

 

Verändert sich das?

Der anhaltende Erfolg hat auch in der Türkei die Preise mittlerweile hochschießen lassen. Dazu kommen politische Konflikte zwischen Katar, Saudi-Arabien, Ägypten und der Türkei. Einige Sender meiden mittlerweile wieder türkische Serien. Da die Nachfrage nach Filmen aber wächst, brauchen wir mehr Alternativen.

 

»In der arabischen Filmwelt fehlt es an Marketinggeschick«

 

Wächst mit Serien wie der neusten Marvel-Produktion »Moon Knight« das Interesse an Ägypten wieder?

Ich bin begeistert, dass die ersten Episoden von »Moon Knight« sowohl beim Publikum als auch bei den Kritikern auf so ein großartiges Echo stießen. Ich hoffe, dass der federführende Regisseur Mohamed Diab, immerhin selbst Ägypter, in der Lage sein wird, Hollywoods Herangehensweise an Ägypten und die arabische Welt zu verändern. Und dass er es schafft, mit der orientalistischen und etwas stereotypen Sichtweise zu brechen und etwas produziert, dass die ägyptische Erfahrung realitätsgetreuer wiedergibt.

 

Wie hat sich das Star-Sein durch die Sozialen Medien verändert?

Gar nicht so sehr wie man denken würde. Klar, es kommen immer neue Stars hinzu – aber die großen Namen sind im letzten Jahrzehnt die gleichen geblieben.

 

Woran liegt das?

In der arabischen Filmwelt fehlt es an Marketinggeschick. Deswegen verlassen wir uns auf große bekannte Namen und Komödien, wo Erfolg zu erwarten ist. Auch der Trend zu Fortsetzungen hat die Region erreicht. Der einzige Unterschied zum Rest der Welt sind die erfolgreichen Genres. Vor 10 bis 15 Jahren waren fast alle kommerziellen Erfolge Komödien. Heute ist das vielfältiger: Zum Beispiel kommen Action- und Kriegsfilme mit viel Patriotismus in Ägypten gut an. Das ist teils Propaganda, aber eben handwerklich gut gemacht.

 

An welchem Beispiel sollte sich das ägyptische Kino in Zukunft orientieren?

Ich hoffe, wir nehmen uns ein Beispiel an Bollywood: Dort fand in den letzten Jahren eine Transformation statt. Das indische Kino hat seinen Markenkern erhalten und hat sich kommerziell und künstlerisch verbessert und weiterentwickelt. Hoffentlich schaffen wir das auch: 300 Millionen potenzielle Zuschauer zählt die Arabische Welt – wir haben also eine Menge Geschichten zu erzählen.


Mohamed Hefzy (47) ist einer der wichtigsten und einflussreichsten Filmproduzenten der Arabischen Welt. Mehrere seiner Filme liefen als Wettbewerbsbeiträge unter anderem in Cannes und auf dem Sundance Festival. Bis Anfang 2022 war er zudem Direktor des Kairoer Filmfestivals.

Von: 
Leo Wigger

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