Lesezeit: 9 Minuten
Angriff auf Rettungssanitäter in Gaza

»Es sieht nach einem weiteren schweren Kriegsverbrechen aus«

Interview
von Lara Farag
Angriff auf Rettungssanitäter in Gaza
PRCS

Am 30. März werden die Leichen von 15 palästinensischen Rettungssanitätern geborgen – die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung spricht vom tödlichsten Angriff seit 2017. Riad Othman von der NGO medico international über die Lage von medizinischem Personal im Gazastreifen.

zenith: In Rafah wurden Ende März 15 Leichen palästinensischer Rettungssanitäter geborgen. Lässt sich der Ablauf rekonstruieren?

Riad Othman: Bei den Getöteten soll es sich um acht Angestellte des Notfallteams des Palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS), um einen UN-Mitarbeiter und sechs Mitglieder des Zivil- und Katastrophenschutzes gehandelt haben. Das Team des Palästinensischen Roten Halbmonds war ein medizinisches Notfallteam. Ein neuntes PRCS-Mitglied, Assad Al-Nassara, wird weiterhin vermisst. Auch im Zusammenhang mit den betroffenen Mitarbeitern des Zivilschutzes war von einem Notfallteam die Rede, je nach Meldung mal von einem Krankenwagen, mal von einem Feuerwehrauto. Ob es sich dabei auch um medizinisches Personal gehandelt hat oder eher um Rettungskräfte zur Bergung verletzter und verschütterter Menschen oder Feuerwehrleute, lässt sich nicht eindeutig sagen.

 

Was war zuvor genau passiert?

Die Teams waren am 23. März 2025 zu einem Notfalleinsatz nach Rafah aufgebrochen, als sie unter israelischen Beschuss gerieten. Seither fehlte von ihnen jede Spur. Die Kommunikation brach ab, tagelang verweigerte die IDF den Suchtrupps von PRCS und UN den Zugang nach Rafah. Die israelische Armee hat am 29. März bestätigt, auf Ambulanzen und Feuerwehrautos geschossen zu haben. Mindestens ein Leichnam soll gefesselt gewesen sein. Die genauen Todesumstände sind ungeklärt. Es sieht sehr stark nach einem weiteren, schweren Kriegsverbrechen durch israelische Streitkräfte aus.

 

Mitte März wurde die Waffenruhe gebrochen. Wie haben Sie die letzten Wochen erlebt?

Zur Zeit bin ich nicht vor Ort, bin aber immer noch laufend mit unserem Team in Kontakt. Früher habe ich das Büro Palästina und Israel geleitet, arbeite heute jedoch von Deutschland aus. Die Vereinbarungen von Phase I der mittlerweile einseitig durch Israel beendeten Waffenruhe wurden schon kurz nach ihrem Inkrafttreten nicht eingehalten: Laut Berichten wurde über Wochen nur ein Zehntel der benötigten Zelte für die von Massenobdachlosigkeit schwer gebeutelte Bevölkerung zugelassen. Von den vereinbarten Container-Notunterkünften war keine einzige nach Gaza gelangt und von dem im Abkommen verhandelten Treibstoff weniger als ein Drittel der vereinbarten Menge – der wäre zur Räumung von Trümmern sowie für die Inbetriebsnahme der Wasserversorgung oder für Krankenhäuser dringend notwendig gewesen.

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.

 

Wie gestaltete ich die Lage in Gaza während der fast zweimonatigen Waffenruhe?

Die israelische Armee hat während der Waffenruhe über 100 Menschen geötet. Schon ab dem 2. März wurde humanitäre Hilfe wieder vollständig blockiert – in Verletzung internationalen Rechts und der rechtverbindlich gleich mehrfach angeordneten vorläufigen Maßnahmen des Internationalen Gerichtshofs. Eine solche Blockade gab es während des gesamten Kriegsverlaufs seit dem 7. Oktober 2023 nur zu Beginn des Kriegs auf Befehl des damaligen Verteidigungsministers Yoav Gallant. Das war schon damals so skandalös, dass sogar die USA unter Präsident Joe Biden immerhin nach etwas mehr als zwei Wochen der Totalabrieglung darauf drängten, dass Israel die Blockade ein wenig lockert.

 

»Nie an die Vorgaben des internationalen Rechts gehalten, humanitäre Hilfe im erforderlichen Umfang zuzulassen«

 

Wie haben Sie bei medico den Bruch des Waffenstillstands erlebt?

Für uns als Hilfsorganisation, die seit Jahren mit Partern in Gaza und im Westjordanland arbeitet, war der Bruch der Waffenruhe nach 15 Monaten eines Alptraums die Rückkehr in diesen. Es ist ein wenig, als hätte man in einem Alptraum nur geträumt, dass der Genozid vorbei ist, nur damit der Traum einen zurück in seine fürchterliche Surrealität holt. Surreal ist diesbezüglich auch das Ausmaß an Realitätsverweigerung, mit dem die Bundesregierung – und zwar absehbar auch die nächste genau so wie vor ihr die Ampelkoalition – ihren israelischen Partnern zur Seite steht, selbst dann noch, wenn aus Den Haag Haftbefehle erlassen werden und sich Beweise und Berichte von Menschenrechtsorganisationen, UN Sonderbeauftragten, Hilfswerken und Journalisten auftürmten, die von schwersten Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und teilweise auch von Genozid sprechen.

 

Hat sich das Verhalten des israelischen Militärs gegenüber medizinischem Personal, Krankenhäusern und Hlilfseinrichtungen geändert – im Vergleich zu vor und während der Waffenruhe?

Während der Waffenruhe gingen die Angriffe zurück. Ich würde nicht sagen, dass sich das Verhalten gegen Gesundheitspersonal- und einrichtungen verändert hat. In Gaza sind seit dem 7. Oktober 2023 hunderte von Angriffen auf Einrichtungen und Ambulanzen sowie Übergriffe gegen medizinisches Personal und Krankenwägen dokumentiert. Bis zum 14. März sind bei 670 Angriffen 886 Menschen getötet und 1.355 verletzt worden. Wir haben es hier also mit einem wiederkehrenden militärischen Vorgehen gegen geschützte Einrichtungen und Personal des Gesundheitssektors zu tun.

 

Wie sieht die Lage im Westjordanland aus?

Tatsächlich hat es im Westjordanland und in Ost-Jerusalem vom 7. Oktober 2023 bis zum 28. Februar 2025 sogar 754 solcher Über- und teilweise Angriffe auf das Gesundheitswesen gegeben. Hierzu zählt auch, wenn Ambulanzen beispielsweise an israelischen Checkpoints nicht durchgelassen werden, also verletzten Palästinensern der Zugang zu medizinischer Nothilfe durch die IDF verweigert wird. Daher liegt die Zahl im Westjordanland sogar noch höher als in Gaza, aber die Angriffe enden in der Regel bei weitem nicht so tödlich: 30 Tote und 138 Verletzte. Ich würde also von einer Einsatzroutine der IDF sprechen, die sich ganz klar nicht an völkerrechtlichen Vorgaben orientiert, sondern diese im Gegenteil regelmäßig missachtet.

 

Welche Grenzen sind internationalen Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit im Gazastreifen gesetzt?

Die Zufuhr von humanitären Gütern war schon vor dem 7. Oktober streng reglementiert, aber nie in einer solchen Art und Weise wie seither: In den ersten zwei bis drei Wochen des Krieges ordnete Gallant die völkerrechtswidrige Vollabrieglung des Gazastreifen an. Diese Regelung ist seit dem 2. März erneut – und länger als in den ersten Kriegswochen – wieder in Kraft getreten. In der Zeit dazwischen haben sich die israelische Regierung und Armee jedoch auch nie an die Vorgaben des internationalen Rechts gehalten, humanitäre Hilfe im erforderlichen Umfang zuzulassen.

 

»Die Todeszahlen bei medizinischem Personal in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 liegt bei über 1.000«

 

Wie viel humanitäre Hilfe erreichte vor der Waffenruhe den Gazastreifen?

Zwischen November 2023 und Dezember 2024 ist nur ein Minimum an dem benötigten Bedarf gedeckt worden. Mit anderen Worten: Der Zugang ist seit anderthalb Jahren in beispielloser Weise bewusst eingeschränkt worden. Seit dem 2. März ist der Gazastreifen wieder vollständig abgeriegelt – auch für medizinische Güter. Das macht eine angemessene Versorgung der Bevölkerung schlicht unmöglich.

 

Glauben Sie, dass das israelische Militär bewusst medizinische Einrichtungen und Personal ins Visier nimmt und angreift?

Ja, absolut. Die Todeszahlen bei medizinischem Personal in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 liegt bei über 1.000 – oft nach gezielten Angriffen. Wir haben es mit dem tödlichsten Konflikt für medizinisches und humanitäres Personal ebenso wie für Journalisten seit Jahrzehnten zu tun.

 

Welche Sicherheitsvorkehrungen treffen Sie als international tätige Hilfsorganisation, damit Sie nicht ins Visier des israelischen Militärs geraten?

Dagegen lassen sich keine Vorkehrungen treffen, denn es sind wiederholt auch mit der israelischen Armee koordinierte humanitäre, auch medizinische Konvois bestenfalls aufgehalten und verhindert, schlimmstenfalls mit tödlichen Folgen angegriffen worden – so wie anscheinend nun auch wieder in Rafah.

 

Besteht die Möglichkeit, medizinisches Personal aus Gaza zu evakuieren?

Als medico operieren wir in Gaza ausschließlich mit palästinensischen Partnerorganisationen, die unter extrem schwierigen und gefährlichen Bedingungen versuchen, Hilfe zu leisten. Die Menschen können von dort nicht weg. Sie haben sich in vielen Fällen geweigert, Patienten beziehungsweise ihre unter Beschuss stehenden Gemeinschaften alleine zu lassen. Dies liegt zum einen an ihrem Beruf, den viele als Berufung verstehen, zum anderen aber auch daran, dass es keine sicheren Gebiete in Gaza gibt – von Anfang nicht. Bereits früh in diesem Krieg griff die israelische Armee als sicher markierte Fluchtrouten an. Dasselbe gilt für vermeintlich sichere humanitäre Zonen, die bombardiert oder von Drohnen angegriffen worden sind. Unsere Partnerorganisationen treffen ihre eigenen Sicherheitsvorkehrungen. Aber die besten Protokolle nützen nichts, wenn verlässliche Schutzbereiche fehlen und in Sachen Koordination der israelischen Armee nicht getraut werden kann.


Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für die internationale Hilfsorganisation medico international von Berlin aus. Zuvor war er als Leiter für das Büro Palästina und Israel tätig.

Von: 
Lara Farag