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Stefan Leder über den Syrien-Konflikt

»Assad wird nicht nachgeben«

Interview

Stefan Leder, Direktor des Orient-Instituts in Beirut, über den Syrien-Konflikt als Stellvertreterkrieg, die Türkei als Schlüsselspieler und über die Frage, ob es sinnvoll ist, den Konflikt als Konfessionsstreit zu begreifen.

zenith: Herr Leder, Sie sind Direktor des Orient-Instituts in Beirut, nur 80 Kilometer von der syrischen Hauptstadt Damaskus entfernt. Ist denn die Eskalation des Konflikts im Nachbarland noch zu bremsen?

Stefan Leder: Unsere Wünsche dahingehend sind wahrscheinlich ganz einheitlich: dass die aktuelle Phase, wie turbulent sie auch ist, dennoch friedlich in einen demokratischen Übergang führt. Wie wir gerade sehen, ist das leider nicht realistisch. Wir befinden uns jetzt in einer Phase, in der die Revolution ihre Kinder frisst. Die liberalen Kräfte, die von Anfang an das Aufbegehren gegen die Assad-Tyrannei mitgestaltet und der Bewegung die politische Sprache verliehen haben, sind jetzt immer mehr an den Rand gedrängt. Die Entwicklung hin zu einer Eskalation der Gewalt muss man sehr vorsichtig beurteilen, aber einige wichtige Elemente lassen sich benennen.

 

Welche sind das?

Zum einen die eisenharte Weigerung des Regimes, Impulse, die nicht aus den Reihen des Regimes selbst kommen, ernst zu nehmen oder überhaupt erst wahrzunehmen. Stattdessen hat es von Anfang an unverhältnismäßige Gewalt angewendet. Zum zweiten müssen wir innerhalb dieser sehr heterogenen Aufstandsbewegung unterschiedliche Schichten und Herkunftsmilieus der Akteure unterscheiden. Die einen, etwas pauschal gesagt, sind Mitglieder einer globalisierten Bildungselite. Diese Elite hat es schon vor dem Aufstand gegeben, kritische Stimmen, die aber nur einen kleinen Kreis von Anhängern hatten. Viele von ihnen waren auch im Gefängnis. Die sind auf eine aus den ländlichen Gebieten kommende Entwicklung aufgesprungen. Die einfache Bevölkerung, die vom Regime eigentlich nur erwartete, anständig behandelt zu werden, und die nachbarschaftlich, in Klans organisiert ist, hat dann auf die berühmte Auseinandersetzung in Daraa mit einfachen Formen der Gewaltandrohung reagiert. Daraufhin hat das Regime sofort auf Ausrottung gesetzt. Erst dann kamen die anderen Stimmen dazu.

 

Die Aufstandsbewegung entstand also nicht in den Arbeitermilieus der Metropolen, wie das sonst häufig der Fall ist. Wieso?

Dass dieses Element aus dem kleinstädtischem Milieu stammt, ist bemerkenswert, weil die regierende Baath-Partei durchaus eine Sozialpolitik betrieb und in den ländlichen Gebieten eine Grundversorgung, gepaart natürlich mit beinharter Kontrolle durch die Geheimdienste, einrichten konnte. Aber diese intendierte soziale Grundsicherung hat sich als vollkommen ungeeignet entpuppt, der soziale Abstand wurde immer größer. Der Aufstand wurde also getragen von frustrierten, von der Entwicklung in den Metropolen abgehängten Gruppen und der Jugend, die eine gute Allgemeinbildung hat. Die können mit den neuen Medien spielend umgehen, die altmodischen Diskurse der Partei aber können sie überhaupt nicht mehr akzeptieren und reagieren mit Missachtung oder Aufbegehren.

 

Wie kam es dann zur Bewaffnung des Aufstands?

Der im Kern unbewaffnete Widerstand und die liberalen Stimmen haben sehr lange den Ton angegeben, mit Methoden des friedlichen Widerstands, der massenhaft und flächendeckend auftauchte, zum Beispiel in Deir az-Zor im Nordosten, was ja weitab von den Metropolen liegt. Erst durch die Reaktion des Regimes kam es langsam und phasenweise zu einer Eskalation. Fast alle, die jetzt gegen das Regime kämpfen, auch wenn sie nicht Deserteure sind, sind ja im Armeedienst an der Waffe ausgebildet worden. Mittlerweile allerdings geben Reflexe und der Wunsch, die Zivilbevölkerung zu schützen und Rache zu üben, den Ton an, also das militärische Geschehen. Und nach aller Wahrscheinlichkeit wird das Assad-Regime nicht nachgeben.

 

Assad wird also immer weiter versuchen, den Aufstand niederzuschießen?

Eine seriöse Prognose über den Ausgang des Bürgerkriegs zu geben, ist sehr schwierig, denn es gibt verschiedene Arenen. Die erste ist das syrische Schlachtfeld. Die Situation hier ist sehr schwer einzuschätzen, weil es eine Art Pattsituation gibt. Das Regime hat eine hochgerüstete Armee mit noch immer gefüllten Waffenlagern. Die Deserteure können wir nicht genau beziffern, aber es kursieren Zahlen von 50.000 oder 60.000, das ist schon sehr viel. Aber dennoch, die syrische Armee zählt mehrere hunderttausend Soldaten. Deswegen ist nicht abzusehen, wie eine militärische Entscheidung fallen sollte und wie sie ausgehen könnte.

 

Gegen das Regime-Militär steht die FSA, die oppositionelle Freie Syrische Armee.

Die FSA ist eine Koalition von mehr oder weniger gut vernetzten Gruppierungen, hochmobil, hochflexibel in ihrer inneren Struktur und durch die angewendete Guerillataktik schwer zu fassen. Das ist ein Gegner, der für die Regime-Armee praktisch kaum zu besiegen ist. Syrien hat große Hinterräume, in die man sich zurückziehen kann. Auf dem Schlachtfeld allein ist deshalb eine Entscheidung nicht prognostizierbar. Die zweite Arena ist die lokale Politik. Inwieweit ist das Regime als politische Führungsinstanz handlungsfähig? Wie ernstzunehmend ist die offensichtliche Auflösung? Wann werden sich innerhalb des Regimes aufgrund der Unhaltbarkeit der politischen Verhältnisse und angesichts einer militärischen Pattsituation Fraktionen herausbilden, die verhandlungsbereit sind und ernsthaft darüber nachdenken, wie eine Post-Assad-Situation aussehen könnte? Es deutet vieles darauf hin, dass die politische Situation in Syrien für Assad schwieriger ist als die militärische. Da könnte man leicht sagen: Man sieht ja schon, dass es bröckelt, es ist nur noch eine Frage von Wochen – wenn man damit rechnet, dass diese Prozesse weitergehen und viele Personen aus dem inneren Zirkel abspringen werden.

 

Welchen Einfluss kann die internationale Politik ausüben?

Die internationalen Verflechtungen und Konflikte Syriens machen die dritte Arena aus. Von Anfang an spielte die eine gewaltige Rolle. Auch hier gibt es eine Art Pattsituation, das ist vielleicht die schlimmste und verhängnisvollste Konstellation der Krisenkontinuität in Syrien.

 

Warum?

Die geostrategische Bedeutung Syriens und der Großmächte, die dort Interessen haben, ist so bedeutend, dass der Konflikt eine Art Weltkonflikt zu werden droht, und das macht die Situation so gefährlich. Nicht nur die traditionellen Großmächte, also die USA und Russland, sondern auch die neueren Großmächte China und die Unentschiedenen, Indien und Brasilien, sind daran beteiligt. In Syrien wird ein Stellvertreterkrieg um die hegemoniale Position ausgefochten, zwischen einerseits der schiitischen Koalition, andererseits Saudi-Arabien und den amerikafreundlichen Golfstaaten und drittens der Türkei, die ihre eigene Politik verfolgen muss.

 

»Die Türkei muss immer den Interessenausgleich mit dem Rivalen Iran suchen«

 

Welche Rolle nimmt die Türkei ein?

Die Türkei ist in der Region vielleicht sogar die wichtigste Großmacht, denn sie kann mit einem politischen System trumpfen, das als Vorbild taugt. Deswegen ist die türkische Karte so wichtig. Ich halte eine lose türkisch-amerikanische Koalition aber für ausgeschlossen, weil die Türkei eine eigene Politik in der Region verfolgt. Es gibt eine Art politischer Abstimmung mit Iran, die werden sie trotz der ererbten Feindschaft – im politischen Alltag sind sie sich im Übrigen sehr nah, die Grenze ist offen für beide Seiten – kaum aufs Spiel setzen. Das würde zu viele Kräfte binden und ihre regionale Großmachtposition stark in Mitleidenschaft ziehen. Bisher möchte die Türkei ihre Souveränität als politische Großmacht in der Region bewahren und sich nicht leichtfertig in militärische Abenteuer stürzen.

 

Wie sieht die Abstimmung mit Iran genau aus?

Einerseits sind Türkei und Iran rivalisierende Mächte. Die Rivalität spannt sich ein in die Polarisierung zwischen sunnitisch und schiitisch geprägten Allianzen, die dadurch befeuert wird, dass Iran mit dem Aufkommen einer schiitischen Regierung im Irak strategischer Gewinner des Sturzes des Saddam-Regimes ist. Türkei und Iran rivalisieren zudem um Einfluss und Macht in der Region. Andererseits ist die Türkei aus vielen Gründen kein Parteigänger der saudischen Anti-Iran-Politik, das liegt unter anderem am relativ säkularen politischen System in der Türkei, aber auch an der energie- und wirtschaftspolitischen Kooperation mit Iran. Die Türkei möchte nicht in eine Konfrontation mit Iran hineingezogen werden und muss daher immer den Interessenausgleich mit dem Rivalen suchen.

 

Sie haben die Polarisierung zwischen sunnitisch und schiitisch geprägten Allianzen erwähnt. Auch in den Medien wird immer stärker von einer Konfessionalisierung des Konflikts gesprochen. Was ist da dran?

Natürlich ist es ein sunnitischer Widerstand, die Sunniten stellen eben die Mehrheit. Das syrische Regime will aber zeigen, dass ausländische Kräfte am Werk sind und schürt deshalb die Konfessionalisierung des Konflikts. Assad kennt das Schachspiel, mit dem wir uns gerade befassen, sehr gut, und ist auch bereit, unter Anwendung egal welcher Mittel stets und ständig Szenarien der Bedrohung aufzubauen, um das eigene Überleben zu garantieren. Der Aspekt der Konfessionalisierung wird wiederum vom Ausland sehr stark wahrgenommen, weil er die Unschuld, wenn es sie je gegeben hat, und damit die Legitimität des Widerstands untergräbt.

 

»Von Tripoli nach Homs ist es gefühlt manchmal näher als von Tripoli nach Beirut«

 

Im Grunde ist der Konflikt also nicht konfessionell, läuft aber jetzt teilweise entlang dieser Grenzen ab?

Genau. Nach meinen Informationen läuft in den regionalen Kontexten die überkonfessionelle Zusammenarbeit sehr gut. Die Erinnerung an nachbarschaftliche Verhältnisse ist immer noch da, aber es hat eben auch eine Polarisierung entlang von Konfessionslinien stattgefunden. Und die Leichtigkeit, mit der man in der syrischen Gesellschaft zur Waffe greift, um gegen das Regime zu kämpfen, bringt uns Ausländer immer wieder zum Staunen.

 

In dem Punkt gleichen sich also die Konfliktparteien?

Ich habe genauso Schwierigkeit wie die Medien und die UN, Täter wirklich zu identifizieren, deswegen übe ich Zurückhaltung. Aber ich würde nicht ausschließen, dass auch auf Seiten der FSA hingerichtet wird und Foltermethoden zur Anwendung kommen. Es entscheiden eben auch Kommandeure kleiner Gruppen über Leben und Tod, die immer unter Druck stehen. Das ist keine Rechtfertigung, sondern es erklärt im Gegenteil das hohe Gewaltpotenzial.

 

In Tripoli, 70 Kilometer von Ihrem Arbeitsort Beirut entfernt, kommt es immer wieder zu Schießereien zwischen Alawiten und Sunniten. Hat dieser Konfessionskonflikt etwas mit dem Konflikt im benachbarten Syrien zu tun?

Die Stadtviertel Jabal Mohsen, mehrheitlich alawitisch, und Bab al-Tabbaneh, wo zumeist Sunniten leben, sind seit vielen Jahren verfeindet und leben stets am Rande eines bewaffneten Konflikts. Waffen gibt es dort bestimmt in Hülle und Fülle. Dieser Konflikt ist von der Sicht auf die syrische Krise als Konfessionskonflikt befeuert, aber nicht erst damit aufgetaucht. Die Situation dort ist jedenfalls explosiv. Die Armee hat offensichtlich die Kontrolle verloren und musste sich zurückziehen, weil die Gewalt eskaliert ist. Von Tripoli nach Homs ist es gefühlt manchmal näher als von Tripoli nach Beirut.

 

Wie wahrscheinlich ist ein noch stärkeres Übergreifen des syrischen Bürgerkriegs auf den Libanon?

Der Libanon ist momentan ein Pulverfass und lebt unter starken Sicherheitsvorkehrungen. Nichts wäre so fatal wie zum Beispiel Bombenanschläge im Interesse, Unruhe zu stiften. Wie es scheint, ist hier kürzlich ein Komplott aufgeflogen, das von Syrien unterstützt wurde, um den Libanon in konfessionelle Streitigkeiten zu stürzen. Aber es geht es nicht um Konflikte auf konfessioneller Grundlage, sondern ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse. Man muss schon genau hinschauen, von welchen Akteuren und Interessen sie gefördert werden.


Stefan Leder ist seit 2007 Direktor des Orient-Instituts in Beirut und war lange Jahre Vorsitzender der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Seit 1993 ist er Professor für Arabistik und Islamwissenschaft an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Leder lebt in Beirut.

Von: 
Christopher Resch

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