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Interview zur Enquete-Kommission zu Afghanistan

»Rote Linien bringen den Afghanen gar nichts«

Interview
So regieren die Taliban
Eine Gruppe Taliban in der Gegend um das westafghanische Herat Foto: Marcel Mettelsiefen

Afghanistan-Expertin Ellinor Zeino über den Terroranschlag in Moskau, den regionalen Einfluss der Taliban und welche Lehren Deutschland aus dem Einsatz am Hindukusch ziehen sollte.

zenith: Der »Islamische Staat Provinz Khorasan« (IS-PK) hat sich zum Terroranschlag in Moskau bekannt. Vor allem in Afghanistan ist der zentralasiatische IS-Ableger aktiv. Wie ordnen Sie den Angriff ein?

Ellinor Zeino: Schon vor der Machtübernahme der Taliban habe ich vor der latenten Terrorgefahr durch IS-KP gewarnt. Es handelt sich hier um die schlagkräftigste bewaffnete Gruppe in Afghanistan. In den vergangenen Jahren war es relativ ruhig, die letzten großen Anschläge vor der Machtübernahme richteten sich gegen Ausländer und gegen die schiitische Minderheit der Hazara. Seitdem sind die Taliban selbst ins Visier des IS-PK gerückt, aber auch die russische Botschaft und ein chinesisches Hotel waren Ziele von Anschlägen. Im letzten Jahr ist es erstaunlich ruhig geworden, aber man hat gespürt: Das war lediglich die Ruhe vor dem Sturm. Der Trend, sich nun vor allem Ziele außerhalb Afghanistans zu suchen, wird wohl anhalten.

 

Frankreich hat in Reaktion auf den Anschlag die höchste Sicherheitsstufe ausgerufen. Wie schätzen Sie das Terrorrisiko für Europa ein?

Wir haben einen Punkt erreicht, an dem die Gefahr sich konkretisiert. Bereits im vergangenen Winter plante der IS-PK Anschläge auf Weihnachtsmärkte in Deutschland, doch die konnten zum Glück vereitelt werden. Ich glaube, dass eine neue Welle des Dschihadismus auf uns zukommt. Wir werden uns mit dem Thema in Europa neu befassen müssen, insbesondere mit den Themen Radikalisierung, Rekrutierung und Terrorfinanzierung.

 

Wenn nun von Afghanistan eine latente Terrorgefahr ausgehen könnte, wird sich der Westen wieder stärker dort einmischen?

Ich sehe derzeit keinerlei Willen für eine erneute, umfangreiche militärische Intervention. Unser Fokus liegt inzwischen viel mehr auf Landes- und Bündnisverteidigung. Wenn es in Zukunft konkrete terroristische Bedrohungen geben sollte, könnten natürlich begrenzte Anti-Terror-Einsätze folgen – so etwas sehen wir zurzeit ja auch im Roten Meer.

 

»Der IS-PK und viele Salafisten betrachten die Taliban als Ungläubige«

 

Was macht den Dschihadismus und den IS-PK attraktiv für Afghanen?

Das Rekrutierungspotential des IS-PK begründet sich in der Perspektivlosigkeit der jungen Leute und der generellen Wirtschaftsmisere im Land. Der IS-PK rekrutierte sich bereits vor der Taliban-Machtübernahme vor allem unter der großen tadschikischen Minderheit im Land sowie unter jungen, städtischen und säkular gebildeten Menschen, darunter auch Frauen und ehemalige Studentinnen. Nach der Taliban-Machtübernahme haben sich auch ehemalige Angehörige der afghanischen Streitkräfte dem IS-PK angeschlossen. Der Lebenshintergrund dieser urbanen Mittelschicht ist ein vollkommen anderer als der der Taliban-Regierung.

 

Inwiefern?

Die Taliban sind eine von Paschtunen dominierte Bewegung, in der Regel bildungsfern und vom paschtunischem Stammesrecht und dörflicher Frömmigkeit geprägt. Die Taliban-Regierung kann den jungen Menschen, die über die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ausmachen, wenig Zukunftsaussichten bieten, noch ist ihre ethnisch-exklusive Ideologie für Nicht-Paschtunen attraktiv. Gleichzeitig haben viele Menschen das Gefühl, dass die internationale Staatengemeinschaft sie im Stich gelassen hat. Nach Jahren von Bürgerkrieg, Frust und Perspektivlosigkeit suchen manche Menschen Sinn in der vermeintlich sehr klaren, salafistischen Lehre und treibt einige in die Arme des IS-PK.

 

Kann die Taliban-Regierung unter diesen Umständen effektiv Sicherheit im Land schaffen?

Die Taliban haben die innere Sicherheit landesweit fest im Griff. Die Möglichkeit eines externen Coups oder Regierungssturzes sehe ich derzeit nicht. Sie sind die letzten Jahre auch massiv gegen die salafistischen Gemeinden vorgegangen, aus denen der IS-PK sich rekrutiert. Natürlich heißen Salafisten nicht automatisch Gewalt und Dschihadismus gut, aber die Taliban sehen hier ihr größtes Sicherheitsrisiko. Der IS-PK und viele Salafisten betrachten die Taliban als Ungläubige, da sie pragmatische und gute Beziehungen mit nicht-muslimischen Staaten sowie mit dem schiitischen Iran unterhalten. Die Taliban gehen gegen vermutete Sicherheitsrisiken vor, ohne den Menschen Angebote zu machen oder Perspektiven zu bieten. Ebenso wie es ausländischen Mächten in der Vergangenheit nicht gelungen ist, wird es auch den Taliban schwerfallen, die Herzen und Köpfe der Bevölkerung zu gewinnen.

 

»Indien und die zentralasiatischen Nachbarstaaten sind notwendigerweise pragmatisch in ihren Beziehungen zu Afghanistan«

 

Diese sicherheitspolitische Kontrolle und Stabilität hat auch für viele Nachbarstaaten das Terrorrisiko reduziert. Das gilt nicht für Pakistan: Die Tehrik-e Taliban Pakistan sorgt dort zunehmend für Unruhe. Wie steht es um die Beziehungen zwischen Pakistan und Afghanistan?

Pakistan wurde ehemals von vielen als die Schutzmacht der Taliban gesehen bzw. die Taliban als Handlanger Pakistans. Das war meines Erachtens eine Fehleinschätzung. Pakistan hatte sicherlich einen gewissen Einfluss auf die Taliban, schließlich hatte man ihnen lange Schutz gewährt und so ihren Wiederaufstieg in Afghanistan überhaupt ermöglicht. Aber jeder Taliban, der etwas auf sich hält, ist stark anti-pakistanisch eingestellt. Sie hatten früh verstanden, dass Pakistan sie nur benutzt. Viele Taliban-Mitglieder haben Folter-Erfahrungen in pakistanischen Gefängnissen gemacht, darunter einige hochrangige Mitglieder der heutigen Regierung. Die Taliban legen Wert auf ihre Unabhängigkeit und betreiben eine Politik nationaler, paschtunischer Interessen. Die Durand-Linie, die auf die britische Kolonialherrschaft zurückgeht und bis heute die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan bildet, hat bislang keine afghanische Regierung anerkannt, einschließlich die der Taliban. Als Aufstandsbewegung waren die Taliban stärker von Pakistan abhängig, als Regierung vertreten sie nun eigene nationale Interessen. Dass sich die Beziehungen zwischen Afghanistan und Pakistan verkomplizieren würden, war also vorhersehbar. Interessanterweise waren die Pakistaner dennoch sehr überrascht von der Verschlechterung der Beziehungen.

 

Gelten die Taliban in den anderen Staaten in der Region als verlässlicher Partner?

Tatsächlich gestalten sich die Beziehungen zu anderen Staaten (mit Ausnahme Tadschikistans) besser als die zu Pakistan. Ironischerweise hat selbst Indien, Pakistans ewiger Rivale, inzwischen wieder diplomatische Vertreter nach Kabul entsendet und sogar Kontakte zum Emir der Taliban in Kandahar aufgenommen. Neu-Delhi hat sein Bild von den Taliban heute ausdifferenziert und sieht sie inzwischen nicht mehr als monolithischen, pro-pakistanischen Block. Sowohl Indien als auch die zentralasiatischen Nachbarstaaten sind notwendigerweise sehr pragmatisch in ihren Beziehungen zu Afghanistan – nur so lassen sich Grenzangelegenheiten, Ressourcenfragen, Migration und transnationale Sicherheitsbedenken wie Drogenhandel und Terrorismus mit den Taliban abklären. Zudem respektieren die Taliban die Nationalstaatlichkeit der Nachbarn und verfolgen keine transnationale Agenda. Daher gelten die Taliban im Großen und Ganzen schon als verlässlich.

 

Wie sieht es mit der diplomatischen Anerkennung durch die Anrainerstaaten aus?

Bisher erkennen die Nachbarn die Taliban-Regierung offiziell nicht an, praktizieren aber eine de facto Anerkennung mit der Entsendung von Diplomaten. Die meisten Angelegenheiten lassen sich auch unterhalb der diplomatischen Ebene klären. Trotzdem fordern die Staaten der Region für eine volle Anerkennung – darunter zum Beispiel auch Russland –, dass die Taliban-Regierung inklusiver werden muss. Das hat wieder sehr pragmatische Gründe: Nur durch Einbezug anderer Ethnien sehen die anderen Staaten der Region die langfristige Stabilität Afghanistans garantiert.

 

»Das bedeutet auch, Kontakte jenseits unseres gesellschaftlichen Wohlfühlspektrums zu knüpfen«

 

Sollten die westlichen Staaten diesem Ansatz folgen?

Wir sollten definitiv in vielen Fragen pragmatischer werden. Das bedeutet nicht, dass wir die Taliban diplomatisch anerkennen müssen, aber es ist in unserem Interesse, eine gewisse Präsenz vor Ort – beispielsweise in Form eines Verbindungsbüros - sowie Kontakte zu unterhalten. Nur so können wir beobachten und verstehen, in welche Richtung sich das Land entwickelt. Ich würde dafür plädieren, einen weniger idealistischen, ambitionierten Ansatz zu verfolgen und stattdessen pragmatischer zu werden. Das würde unseren Interessen, aber auch den Menschen vor Ort deutlich weiterhelfen: Rote Linien, die in Brüssel oder Berlin gezogen werden, bringen den Afghaninnen und Afghanen vor Ort gar nichts. Sie erzeugen unter den Taliban eher eine stärkere Abwehrhaltung, als sie zu einer Verhaltensänderung in unserem Sinne zu bewegen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir weder Druckmittel noch nennenswerte Anreize haben. Dass unsere Wirtschafts- und Entwicklungshilfe als Druckmittel gegenüber den Taliban genutzt werden könne, wie damals behauptet, war für mich nie plausibel. Die Taliban sind Gesinnungstäter, sie machen vielleicht taktische Zugeständnisse, aber tauschen ihre politischen Ziele nicht gegen Entwicklungshilfe ein.

 

Wie schafft man es, die Balance zwischen den eigenen Werten und Interessen in Afghanistan zu wahren?

Eine große Lehre aus dem Afghanistan-Einsatz lautet, dass wir Gesellschaften nicht nach unseren Vorstellungen formen und transformieren können. Ich denke nicht, dass Deutschland oder ein anderes Land sich zeitnah noch einmal ein so umfangreiches statebuilding wie in Afghanistan vornehmen wird. Wir hatten den Menschen in Afghanistan ein Leben in Sicherheit und (bescheidenem) Wohlstand versprochen, aber Afghanistan nie jenseits einer Hilfswirtschaft gedacht. Die Schaffung ungesunder Abhängigkeiten und Rollenbilder unter Missachtung der lokalen Eigenverantwortung hat unsere Glaubwürdigkeit unterhöhlt. Unsere internationale Zusammenarbeit braucht keinen großen ideologischen Unterbau, sondern sollte auf zwei Grundprinzipien fußen: Realismus und Respekt. Wenn lokale Realitäten und Bedürfnisse anerkannt und respektiert werden, ist schon viel gewonnen. Das bedeutet auch, Kontakte jenseits unseres gesellschaftlichen Wohlfühlspektrums zu knüpfen, also einschließlich mit Akteuren, die uns wertemäßig sehr fremd sind. Auch Menschen, die unsere Wertvorstellungen nicht teilen, haben eine Vorstellung von Menschenwürde, guter Regierungsführung oder wirtschaftlicher und politischer Teilhabe. Respekt auf Augenhöhe heißt zudem nicht, dass man eigene Interessen negiert, sondern diese klar artikuliert und nach Spielräumen gemeinsamer Interessen sucht.

 

Kann die wertebasierte, feministische Außenpolitik das leisten?

Ich glaube, dass wir es uns mit unserer derzeit sehr ambitionierten Ausrichtung schon schwer machen. Unsere Feministische Außen- und Entwicklungspolitik versteht sich als transformativen Ansatz – man möchte Gesellschaften im eigenen Sinne verändern. Ich stelle jedoch seit über zehn Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit fest, dass andere Staaten und Gesellschaften immer weniger bereit sind, sich von uns oder anderen Ländern erklären zu lassen, wie sie zu leben oder sich zu entwickeln haben. Wir stoßen inzwischen in sehr vielen Ländern auf zunehmenden Widerstand bis Ablehnung, insbesondere dort, wo Entwicklungszusammenarbeit ins Politisch-Ideologische rutscht. Zudem haben wir in vielen Ländern gar keinen Wissens- oder Technologievorsprung mehr, das heißt wir müssen in Zukunft Wissens- und Know-How-Transfer in beide Richtungen mitdenken. Es muss also ein Umdenken in unserem eigenen Rollenverständnis stattfinden. Wir müssen einerseits weg von den ungesunden Abhängigkeiten einer Geber-Nehmer-Beziehung, aber auch von der Vorstellung, dass wir für die Entwicklung anderer Gesellschaften zuständig sind. Lokale Eigenverantwortung heißt, dass nur der eigene Staat, die eigene Gesellschaft für die Entwicklung und Zukunft des Landes zuständig sein kann.



Interview zur Enquete-Kommission zu Afghanistan

Dr. Ellinor Zeino ist Leiterin des Regionalprogramm Südwestasien der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) mit Sitz in Taschkent, Usbekistan. Bis zur Machtübernahme der Taliban 2021 leitete sie ab 2018 das KAS-Auslandsbüro Afghanistan in Kabul. Ihr Arbeitsschwerpunkt lag dabei auf innerafghanischen und regionalen Track-1,5-Dialogen sowie dem Vertrauensaufbau zwischen Konfliktparteien. Sie ist Mitglied der vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission, die Lehren aus dem deutschen Engagement in Afghanistan für die künftige Außen- und Sicherheitspolitik ziehen soll.

Von: 
Meryem-Lyn Oral und Philipp Peksaglam

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