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Nationaler Dialog im Jemen

Scheidung beim Versöhnungsgipfel?

Analyse

Als Geste der Annäherung sollen von 565 Plätzen im »Nationalen Dialog« die Hälfte von Südjemeniten besetzt werden. Doch die »Bewegung des Südens« macht das Recht auf Abspaltung zur Bedingung für die Teilnahme.

Als im Frühjahr 2007 ehemalige südjemenitische Militärs in den Regionen rund um Aden – Dala, Lahij und Abyan – für höhere Pensionszahlungen und gegen ihren Zwangsruhestand seit dem Bürgerkrieg von 1994 demonstrierten, konnte noch niemand abschätzen, welche Folgen dies für den Jemen haben könnte. Zu den ehemaligen Militärs gesellten sich bald Beamte und Angestellte einstiger südjemenitischer Staatsbetriebe und Genossenschaften mit ähnlichen Forderungen.

 

Zudem kamen zusehends mehr junge Arbeitslose, Studenten und oppositionelle Medien zu der Protestbewegung, die das Ende der Marginalisierung der Südjemeniten im Einheitsstaat und Lösungen der desolaten sozialen Situation im Land forderte.

 

Anstatt auf die Belange der Demonstranten einzugehen, wurden diese immer gewaltsamer von den jemenitischen Sicherheitskräften während der Proteste niedergeschlagen, sodass sich die lose Bewegung zu einer Organisation mit konkreten politischen Zielen, wie der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit des Südens mit Aden als Hauptstadt und der »Befreiung« von den Nordjemeniten, die mit dem Ende des Bürgerkriegs 1994 den Süden okkupierten, wandelte.

 

Eine Umfrage des »Yemeni Center for Civil Rights« hat im Januar 2010 festgestellt, dass circa 70 Prozent der Südjemeniten eine Sezession vom Norden anstreben. Im Zuge des Arabischen Frühlings verzichtete die Bewegung bei Protesten auf die Flagge der ehemaligen Volksdemokratischen Republik Jemen und die Anti-Einheits-Slogans, um die Anti-Regime-Proteste im ganzen Land zu unterstützen.

 

Als sich jedoch im April 2011 die starke Dominanz der Islah-Partei und der Nordeliten zeigte, forderte die »Bewegung des Südens« erneut die Sezession vom Norden, da im Süden die Meinung stark vertreten wird, dass sich der Nord-Süd-Konflikt nicht mit dem Sturz Salehs lösen ließe. Aus diesem Grund wurden ebenfalls die Präsidentschaftswahlen im Februar 2012 von der Bewegung und circa 80 Prozent der Südjemeniten boykottiert.

 

Der »Stolz des Südens« ist heute ein Schatten vergangener Tage

 

Die Gründe für den Protest der »Bewegung des Südens« im ärmsten Land der Arabischen Halbinsel sind vorwiegend wirtschaftlicher Art. Einerseits werden Forderungen nach Arbeit und einer Verbesserung der Lebensumstände laut. Diese Bedürfnisse sind jedoch für die gesamte jemenitische Protestbewegung relevant. Andererseits verlangt die Bewegung im Süden des Landes die Rückübertragung von früheren staatlichen Eigentümern sowie ein Ende der Unterschlagung der Einnahmen aus den Bodenschätzen wie Öl und Gas, die sich vorwiegend in den südjemenitischen Gouvernoraten Shabwa und Hadramaut befinden.

 

Nach der jemenitischen Vereinigung von 1990 wurde die Wirtschaft des Landes liberalisiert. Durch verschiedene Gesetze wurde einerseits die Bodenordnung reformiert und andererseits ein Investitionsklima durch das Investitionsgesetz von 1991 geschaffen. Mit der »September-Direktive« von 1991 wurde die Verteilung von südjemenitischem Staatsland ermöglicht, welches in der frühen Zeit der sozialistischen Republik durch Nationalisierungsgesetze enteignet und verstaatlicht worden war.

 

Ein regelrechter Ansturm auf Staatsland fand in den 1990er Jahren statt. Zudem bereicherte sich die Klientel der Bürokratie, darunter hohe Beamte, Offiziere der Armee und Verwaltungsangestellte, an diesen Ländereien oder kassierte dafür Bestechungsgelder ein. Überdies wurde Land nach dem Bürgerkrieg von 1994 gewaltsam von Einheiten der nordjemenitischen Armee angeeignet.

 

Durch den weitgehend ungeregelten Umgang mit der Ressource Land entstand bei vielen Südjemeniten ein Gefühl der Besatzung durch den Norden. Zusätzlich flossen in den letzten zwei Jahrzehnten die Einnahmen aus den südjemenitischen Ölvorkommen in die Hauptstadt Sanaa, wo das Saleh-Regime die Einnahmen zur Finanzierung des eigenen Patronagenetzwerkes nutzte.

 

Um ein Stück vom Öl-Kuchen abzubekommen, musste sich die lokale Bevölkerung ihre Infrastruktur, Schulen und Elektrizität mit der Zerstörung von Pipelines erpressen. Überdies müssen die Südjemeniten dem Verfall des einstigen Stolzes des Südens – des Hafens von Aden – zusehen. In den 1950er Jahren war der Hafen unter britischer Kolonialherrschaft einer der wichtigsten Häfen weltweit und Dreh- und Angelpunkt des Handels zwischen Europa und Asien sowie der Arabischen Halbinsel und Ostafrika.

 

2008 übernahm der emiratische Hafenentwickler Dubai Ports World den Standort Aden, die ambitionierten Ziele wurden jedoch nie erreicht – nicht zuletzt auch weil Dubai Ports World die Investitionszusagen nicht hielt und sich lieber auf die Stabilisierung des eigenen Heimathafens Dubai konzentrierte. Ende September 2012 wurde der Kontrakt für Aden von Dubai Ports World und Jemens Regierung aufgelöst, heute regieren Konkurrenzhäfen wie Jebel Ali in Dubai, Salalah im Oman und Dschibuti die Region. Der Verlust des Hafens an Dubai wird von Südjemeniten als ein Ausverkauf des Landes durch die Nordeliten interpretiert.

 

Der südliche Teil der Region Abyan ist heute weitgehend zerstört

 

Als Ansar Al-Sharia, ein Ableger Al-Qaidas auf der Arabischen Halbinsel, die Region Abyan 2011 bis Juni 2012 einnahm und ein globaler Konflikt mit US-Drohnen-Beteiligung auf südjemenitischem Territorium ausgetragen wurde, sahen dies weite Bevölkerungsteile als ein weiteres Muskelspiel Salehs, der damit demonstrieren konnte, was dem Land drohe, wenn er dereinst nicht mehr den Jemen regieren würde.

 

Dieses Signal ist im Süden angekommen, wo etwa die Volkskomitees in Abyan, eine Art Miliz, die sich aus jungen Männern der Dörfer zusammensetzt, die Region vor Al-Qaida und vor den jemenitischen Sicherheitskräften schützt. Amnesty International hat am 4. Dezember 2012 einen Bericht über die Menschenrechtsverletzungen in Abyan während der Al-Qaida-Herrschaft herausgebracht mit der Anmerkung, dass eine »Menschenrechtskatastrophe« die Region erschaudern ließ, die sich in Kreuzigungen, Amputationen und öffentlichen Exekutionen widerspiegelte.

 

Zudem müssen sich auch das jemenitische Militär und die USA Fragen gefallen lassen – etwa warum zahlreiche Zivilisten durch Luftangriffe und Artillerie in Wohngegenden ums Leben kamen. Der südliche Teil der Region Abyan ist heute weitgehend zerstört und die Gefahr, dass Ansar Al-Sharia wieder auftauchen könnte, besteht fort. Jedoch fanden in den letzten Monaten fast 80.000 Binnenflüchtlinge aus Abyan mit internationaler Hilfe in ihre Heimat zurück.

 

Trotzdem verbleiben noch über hunderttausend Menschen in Aden und warten auf die Rückkehr in das schwer zerstörte Delta von Abyan. Der Jemen ist das ärmste, aber auch das einzige Land auf der Arabischen Halbinsel, welches die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 und das dazugehörige Protokoll von 1967 unterzeichnet hat.

 

Daher wird die südjemenitische Küste tagtäglich von somalischen Flüchtlingen auf einfachen Booten erreicht, die im Jemen den Flüchtlingsstatus erhalten, da sie wegen politischer Instabilität und Menschenrechtsverletzungen das Horn von Afrika verlassen. Da derzeit eine Dürre in Ostafrika herrscht, kamen im Jahr 2011 mehr als 103.000 Flüchtlinge im Jemen an; dies ist die höchste Rate seit 2006.

 

In den ersten acht Monaten von 2012 wurden bereits 20 Prozent mehr Flüchtlinge als zum Vorjahr registriert. Dies scheint paradox, wenn man bedenkt, dass fast die Hälfte aller Jemeniten mittlerweile unter Nahrungsunsicherheit und Hunger leidet und dass das Leben in einigen jemenitischen Regionen heute vermutlich vergleichbar mit Teilen Somalias ist.

 

Warum noch an einen Tisch setzen?

 

Ende November wurde die Sitzplatzverteilung für den nationalen Dialog bekannt gegeben, der unter Beteiligung aller Gruppen und Parteien im Land über die Zukunft des politischen Systems diskutieren und die zahlreichen Probleme des Landes lösen soll. Die Konferenz sollte Mitte November 2012 tagen und wurde auf Anfang 2013 verschoben, da die Vorbereitungen eher mangelhaft waren und Führer der Bewegung des Südens bekannt gaben, nicht an den Gesprächen teilzunehmen.

 

Von 565 Plätzen soll die Hälfte von Südjemeniten besetzt werden, 85 der Sitze gingen allein an die Bewegung des Südens. Jedoch sind nur circa ein Fünftel der über 24 Millionen Jemeniten aus dem Süden des Landes. Dies sollte wohl ein Zeichen an die Südjemeniten senden, sie als gleichberechtigten Partner in den Gesprächen anzuerkennen und als Zugeständnis gelten, in der Hoffnung die Bewegung des Südens mit an den Tisch zu bekommen.

 

Außerdem zeigt dies die wirtschaftliche Signifikanz des Südens für den Nordjemen, der kein Interesse an einer Abspaltung hat. Derart prekär war die Situation im Südjemen, wie sie heute ist, vermutlich noch nie, sodass Nostalgie und Hoffnung den Wunsch auf Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit des Südens antreiben. Zudem werden die Nordeliten für den miserablen Zustand des Landes verantwortlich gemacht.

 

Selbst hinter der Schaffung Ansar Al-Sharias werden die Machenschaften der Eliten des Nordens vermutet. Dass am 30. November 2012 mehrere hunderttausend Südjemeniten in den Straßen von Aden den 45. Jahrestag der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht feierten und gleichzeitig mit den Flaggen der Volksdemokratischen Republik Jemen für ein »freies Südarabien« demonstrierten, zeigt, dass man den Nordeliten wohl keinen Glaube mehr schenken möchte und auch nicht mehr bereit ist, Kompromisse nach achtzehn Jahren der Marginalisierung einzugehen.

 

Bis heute hat sich keine Dachorganisation als Sprecherorgan für die »Bewegung des Südens« herausgebildet

 

Es sieht so aus, als würde es schwer werden, eine Teilnahme der »Bewegung des Südens« am »Nationalen Dialog« zu erreichen. Wichtige Führer wie Ali Nasser Mohammad, ehemaliger Präsident des Südjemen, und Hassan Baoum haben bereits angekündigt, die Einladung zum Dialog nicht anzunehmen. Eine Beteiligung sei unter anderem nur dann möglich, wenn das Recht der Südjemeniten auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit anerkannt würde.

 

Warum sollte man sich also noch an einen Tisch setzen, wenn die Sezession der einzige Weg zu sein scheint? Überdies ist nicht klar, welche Vertreter der Bewegung an den Gesprächen teilnehmen sollen beziehungsweise wie man die Hälfte der Sitze an Südjemeniten vergeben will. Die »Bewegung des Südens« ist als eine soziale Bewegung durch die Initiative der südjemenitischen Bevölkerung ohne Mitwirkung eines charismatischen Führers entstanden.

 

Bis heute hat sich keine Dachorganisation als Sprecherorgan für die Bewegung herausbilden können. Zusätzlich ist die Bewegung nach regionalen und politischen Zugehörigkeiten fragmentiert, sodass fraglich bleibt, wer die 85 Plätze im Namen der Bewegung besetzen soll. Für die Bewegung selbst sind die internen Bruchlinien ebenfalls problematisch und verhindern eine internationale Anerkennung und Aufmerksamkeit für die Problematik im Südjemen.

 

Zudem hat es die Bewegung noch nicht schaffen können, einen Plan herauszuarbeiten, der aufzeigt, wie ein unabhängiger Staat aufgebaut werden kann. Das marxistische Werkzeug, welches nach der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht auf das politische und wirtschaftliche System verwendet wurde, lässt sich heute wohl kaum mehr auf einen möglichen unabhängigen Staat übertragen.

Von: 
Anne-Linda Amira Augustin

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