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Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan in Israel

»Israel hat seine Vergangenheit vergessen«

Reportage

Seit Anfang 2014 sind zehntausende Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan in Israel im Streik. Sie demonstrieren gegen willkürliche Verhaftungen und Menschenrechtsverletzungen. Die Regierung will die »Eindringlinge« dennoch abschieben.

»Ihr wart einst Flüchtlinge auf der ganzen Welt«, schreit Binyam ins Mikrofon und Zehntausende applaudieren euphorisch. Überwiegend Männer, einige Frauen, viele von ihnen mit Kleinkindern auf dem Arm. Es ist eine Menschenmasse schwarzer Demonstranten, wie Israel sie noch nicht erlebt hat. Die Schatten der Gesellschaft, die sonst kaum sichtbaren Tellerwäscher und Straßenkehrer, erheben sich plötzlich und rufen ihre eigene Revolution aus.

 

Doch nur die Wenigsten der Israelis, denen Binyams Worte gelten, hören tatsächlich zu. Die vereinzelten weißen Pünktchen unter den Demonstranten sind Journalisten, NGO-Mitarbeiter und ein paar linke Aktivisten. Dutzende Polizisten umringen die Masse von allen Seiten, in Grüppchen stehen sie zusammen, oft apathisch, manchmal lachend. »Gibt es in Deutschland auch so viele Afrikaner? Wir in Israel haben 180.000 von ihnen – das ist mehr als problematisch«, erklärt ein junger Polizist mit Kippa auf dem Kopf allen Ernstes.

 

Wo er diese Zahl aufgegriffen hat, bleibt ein Rätsel. Selbst offizielle, von der Regierung herausgegebene Statistiken, sprechen von etwa 55.000 Flüchtlingen. Es sind ereignisreiche Wochen für die Eritreer und Sudanesen im Heiligen Land: Als das Anti-Infiltrations-Gesetz im September letzten Jahres vom Obersten Gericht in Israel für ungültig erklärt wurde, feierten sie. Ein kleines Stückchen Menschlichkeit und Demokratie waren zurückgewonnen, es schien aufwärts zu gehen.

 

Das Gesetz hatte es erlaubt, »Mistanenim« (»Eindringlinge«, wie Flüchtlinge in den israelischen Medien genannt werden), die seit Juni 2012 die Grenze zu Israel überquert und damit illegales Territorium überquert hatten, bis zu drei Jahren im Gefängnis in der Wüste zu inhaftieren.

 

Doch die neu gewonnene »Freiheit« der Flüchtlinge missfiel der Regierung: Am 10. Dezember 2013 wurde in der Knesset eilends ein neues Gesetz verabschiedet, das die Haft auf ein Jahr verkürzt und danach den Aufenthalt im »offenen« Lager Holot vorschreibt, in dem die Flüchtlinge die Nächte verbringen und zusätzlich drei Mal täglich zum Zählappell erscheinen müssen. Ebenso wie die bisherige Gefängnisanlage befindet sich das neue Lager mitten in der Wüste, nahe der ägyptischen Grenze – die am nächsten gelegene Stadt Be'er Sheva ist 70 Kilometer entfernt. Das Gesetz erlaubt es, tausende Flüchtlinge aus ganz Israel aufzugreifen und zwangsweise dort unterzubringen. 

 

»Ich glaube fest daran, dass das alles nicht umsonst ist!«

 

Als vor einigen Wochen willkürliche Verhaftungen auf den Straßen im Süden Tel Avivs anfingen, Menschen zum Aufenthalt in Holot einberufen wurden und das Innenministerium von einem Tag auf den anderen verweigerte, Visa zu verlängern, kam der Beschluss zum Handeln: »Wir haben ein Komitee gebildet, um uns zu organisieren, mehr als Hundert Eritreer und Sudanesen haben gemeinsam über die Proteste abgestimmt und den Streik ausgerufen«, erzählt der 30-jährige Walyaldin, einer der Mitveranstalter.

 

Ob er sich Erfolg verspreche? »Ja! Ich glaube fest daran, dass das alles nicht umsonst ist. Durch unseren Protest zwingen wir die israelische Regierung und auch die internationale Gemeinschaft, uns zu beachten, etwas zu verändern, uns wie Menschen zu behandeln!« Die wichtigsten Forderungen der Bewegung sind faire Asylverfahren gemäß der Flüchtlingskonvention von 1951 sowie die Freilassung der Inhaftierten. Erst seit anderthalb Jahren lebt und arbeitet Walyaldin als Putzkraft in Israel – zurück nach Darfur kann er nicht.

 

»Wenn du aus Israel zurückkommst, nehmen sie dir deinen ganzen Besitz weg. Wenn du politisch aktiv warst, stecken sie dich für ein paar Jahre ins Gefängnis oder bringen dich um. So läuft das dort«. Walyaldins ganze Familie lebt unter schwersten Bedingungen in einem Lager für Binnenflüchtlinge, die vor dem Genozid in Darfur fliehen mussten. Für Eritreer ist die Situation noch ernster. Das Land unter Präsident Isaias Afewerki gilt als eine der repressivsten Militärdiktaturen der Welt – rund 80 Prozent aller eritreischen Asylanträge weltweit werden genehmigt.

 

»Ich bin hierher gekommen, um mein Leben zu retten. In unserem Land hätten wir alles, was wir brauchen. Aber wir können diese Ressourcen nicht nutzen, weil wir nicht frei sind«, erzählt Semre, der seit drei Jahren in Tel Aviv lebt und 16 Jahre lang gezwungen war, in der eritreischen Armee zu dienen. Bis er eines Tages seine Chance zur Flucht ergriff, zunächst nach Khartum im Sudan und später über den Sinai nach Israel.

 

Sein Leben hier treibt ihn zur Verzweiflung. »Mit meiner Gesundheit habe ich keine Chance, zu arbeiten. Spülen oder Putzen ist unmöglich. Ich bin nur eine Last für meine Freunde hier.« Eine Möglichkeit, Englisch oder Hebräisch zu lernen, hatte er nicht. Seine einzige Sprache ist Tigrinya. Eine Rückkehr nach Eritrea würde für Semre mindestens fünf Jahre Gefängnis bedeuten, vielleicht sogar lebenslang.

 

»Was erwarten diese Menschen eigentlich von Israel?«

 

Rechtsgerichtete Politiker zeigen sich unbeeindruckt von den afrikanischen Schicksalen. Die Flüchtlinge sollen verschwinden, wohin spielt keine Rolle. Zur Auswahl steht ein Rückflug in die Heimat, in den Medien kursieren Gerüchte von einem Tauschhandel zwischen Uganda und Israel – Geld und Waffen gegen tausende Flüchtlinge. Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte nüchtern: »Demonstrationen und Streiks werden ihnen nicht helfen. Diejenigen, die Israel erreicht haben, bevor wir die Grenze geschlossen haben, sollen zurückgeführt werden. Diese Menschen sind keine Flüchtlinge, es sind illegale Wirtschaftsmigranten, die in unser Land eingedrungen sind, um hier zu arbeiten.«

 

Dieser Meinung ist auch Arie Raveh, langjähriger Manager der veganen Restaurantkette Budda Burger in Tel Aviv. Der gebürtige Österreicher ist vor 20 Jahren nach Israel immigriert und gilt als einer der wichtigsten israelischen Promoter von Tierrechten und Veganismus. Der Chefkoch in seinem Restaurant stammt aus Eritrea, fünf weitere Küchenhelfer sind ebenfalls Eritreer oder Sudanesen. »Wenn ich die Wahl hätte, würde ich natürlich lieber Israelis einstellen.

 

Aber solche Qualität bekomme ich von Einheimischen nicht. Ja, es sind gute, anständige Leute und sie arbeiten gut. Aber was erwarten sie eigentlich von unserem Land? Israel ist nicht Europa und wir haben mehr als genug eigene Probleme. Ihre Proteste werden ihnen nicht helfen, weil Israelis sich schlicht und einfach nicht dafür interessieren.« Allerdings habe der streikbedingte Ausfall seiner Arbeiter enorme Schwierigkeiten für Buddha Burger erzeugt, er selbst konnte das Restaurant 20 Stunden am Stück nicht verlassen, klagt Arie.

 

Mit seiner negativen Einstellung steht Restaurantbesitzer nicht alleine da, sondern repräsentiert einen Großteil der Israelis. Die meisten übernehmen die Rhetorik der Regierung, viele sind gleichgültig, wenige hegen heimliche Sympathien, noch weniger kämpfen. Dass die Protestbewegung die Aufmerksamkeit berühmter israelischer Persönlichkeiten wie Ministerpräsident Shimon Peres oder des Schriftstellers und Friedensaktivisten David Grossman erregt haben, gilt als großer Triumph für die Flüchtlinge. Ob allerdings prominente Sympathien politische Konsequenzen haben werden, ist fraglich.

 

Identitätsängste versus Moral

 

»Israel hat seine Vergangenheit vergessen, die Tora vergessen, jegliche Moral vergessen«. Daniel und seine Freunde sind mit zwei Flaggen zur großen Demonstration vor der Knesset in Jerusalem erschienen. Eine israelische, die andere in gelb-grün-rot, den Farben Äthiopiens. »Ich bin Äthiopier, ich bin Israeli, ich bin Jude und ich bin schwarz. Das einzige, was mich von den anderen Demonstranten unterscheidet, ist mein Judentum. Wäre ich nicht Jude, wäre ich an ihrer Stelle, denn fast alle afrikanischen Länder sind Diktaturen.«

 

Trotz seiner schwarzen Hautfarbe ist Daniel vollkommen in die israelische Gesellschaft integriert, spricht und gestikuliert wie ein Israeli. Seinen echten Namen will er aufgrund seiner Stellung als hoher Regierungsmitarbeiter nicht verraten. Es ist seine jüdische Identität, die ihm 1990 im Rahmen der äthiopischen Einwanderungswelle die Einreise in den jüdischen Staat und die israelische Staatsbürgerschaft gewährt hat.

 

An die Repressionen in Äthiopien erinnert er sich allerdings gut. »Du kannst Geld haben, du kannst Arbeit haben, du kannst alles haben. Aber wenn du dich nicht frei fühlst, fliehst du.« Deshalb sei seine Solidarität mit den Flüchtlingen in Israel so stark. Es ist die Frage nach Identität, die die Trennlinie zwischen Innen und Außen verlaufen lässt: Die Realität in Israel wird einheitsstiftend als eine Welt »Wir gegen den Rest der Welt« kommuniziert. Im Kindergarten, auf der Straße, in der Armee, im Fernsehen.

 

»Aus 60.000 können leicht 600.000 werden, wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen. Das wird dazu führen, Israels Grundsäulen als jüdischen und demokratischen Staat zu untergraben«, äußerte sich Netanjahu bereits 2012 – und klang damit im Vergleich zu seinen Parlamentskollegen noch freundlich. Tatsache ist aber, dass Israel seit der Errichtung eines Grenzzaunes zu Ägypten keine Neuankömmlinge verzeichnet hat, vielmehr haben Tausende das Land aus Hoffnungslosigkeit verlassen.

 

Ihre Zukunft ist ungewiss. Politische Aktionen sind dominiert von einer Angst, die jüdische Identität des Staates demographisch zu gefährden, wenn Flüchtlinge nicht mehr als temporäres Unheil, sondern als fester Bestandteil der israelischen Gesellschaft anerkannt würden. Dabei enthüllen die Statistiken eine Realität, die alles andere als bedrohlich erscheint: Prozentual machen die Flüchtlinge nur etwa 0.6 Prozent der Bevölkerung aus, im Kontrast dazu stehen beinahe 21 Prozent arabische Bevölkerung, die seit Generationen in Israel leben.

 

Hinzu kommt, dass Israel jährlich etwa 70.000 temporäre Arbeitsvisa an Migranten für den Niedriglohnsektor ausstellt – ein Beweis für die wirtschaftliche Abhängigkeit des Staates von Migration. Würde der Staat statt dieser Arbeitsvisa Flüchtlingen Rechte zugestehen, wäre im Prinzip beiden Seiten gedient. Wie der Kampf ausgehen wird, ist offen. Der aktuelle politische Kurs verspricht verheerende Konsequenzen für die Flüchtlinge. Auf der anderen Seite steht die Absurdität, tausende Menschen in der Wüste gefangen zu halten oder zur Rückkehr ins Ungewisse zu bewegen.

Von: 
Marina Klimchuk

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