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Erdoğan, USA, Lufthansa

Der Machiavelli aus Kasimpaşa

Essay

Erdoğans Allmacht wird in diesen Tagen herausgefordert – deshalb poltert er wie ein tumber Tor gegen Zionisten und die Lufthansa, die USA und die Medien. Mit rhetorischen Tiefschlägen mag er in Kasimpaşa auf Zustimmung stoßen, clever ist es nicht.

Wäre Recep Tayyip Erdoğan Sportler – man würde von einem Seuchenjahr sprechen. Gewiss, der allmächtige türkische Ministerpräsident hat im elften Jahr infolge blühende Landschaften und allerlei architektonische Meisterwerke auf der Haben-Seite. Bis zum vergangenen Sommer hatte es oft den Anschein, als habe die AKP den vom ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog erstmals ausgesprochenen und später von der CSU adaptierten Slogan »Laptop und Lederhose« als »Kindle und Koran«-Variante adaptiert – und wirklich umgesetzt.

 

Doch der Glanz seiner Verbindung von Wirtschaftswachstum und Wertekonservatismus, die viele Wähler in der Türkei würdig(t)en und von dem das Ausland anerkennend als »Türkisches Modell« sprach und spricht, verliert an Strahlkraft. Die Bilder von den Gezi-Protesten, die ungelöste Kurdenfrage und der neuerliche Zwist mit dem einflussreichen Prediger Fetullah Gülen (einstmals Erdoğans Weggefährte) und dessen »Hizmet«-Bewegung haben dazu beigetragen. Mit dem jüngsten Korruptionsskandal ist indes eine neue Dimension erreicht.

 

4,5 Millionen US-Dollar in Schuhkartons

 

Die türkische Staatsanwaltschaft bezichtigt hochrangige Politiker der AKP, Erdoğans konservativ-islamische Regierungspartei, sowie einflussreiche Geschäftsmänner aus dem Familien- und Dunstkreis zahlreicher Parteikader und Minister der Korruption und der Geldwäsche. Unter anderem geht es um die Söhne von Innenminister Muammer Güler und Wirtschaftsminister Zafer Caglayan; gegen sie wurde bereits ein Strafverfahren eröffnet.

 

Ebenfalls im Visier der Fahnder ist Süleyman Aslan, der der staatlichen Halkbank vorsteht. Bei ihm fanden die Behörden 4,5 Millionen US-Dollar in Schuhkartons. Doch Aslans Schuhdollars sind Peanuts gegen die Gewinne, die einige der Verdächtigen gemacht haben dürften, denen vorgeworfen wird, sie hätten milliardenschwere Ölgeschäfte mit dem Iran eingefädelt.

 

Sechsfacher Ehrendoktor und politischer Raufbold

 

Für Erdoğan sind das freilich »Schmierenkampagnen«. Der Seemannssohn und vierfache Familienvater mit einem Universitätsabschluss in Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, der sich aus dem Werftenviertel Kasimpaşa an die Spitze durchgeboxt hat, scheint erstmals in seiner Karriere die Realität nicht mehr klar vor Augen zu sehen. Dabei war dies stets die Stärke des vordergründig rumpelnden Machiavelli – eine klare Analyse der Faktenlage, um die dann mit aller Kraft und Energie und Cleverness zu seinen Gunsten zu ändern.

 

Gewiss, bewiesen ist nichts und bis zu einem Urteil gilt die Unschuldsvermutung. Dass eine »Schmierenkampagne« aber zum Rücktritt von drei Ministern sowie zur Strafversetzung von rund siebzig Polizeibeamten, die in die Untersuchungen involviert waren, und zur Absetzung des Polizeichefs von Istanbul führen könnte, ist absurd. Denkt man, nicht aber Erdoğan, der sechsfache Ehrendoktorträger, einstige Laienschauspieler und Ehrenbürger Teherans.

 

Er, nach dem bereits zu Lebzeiten Stadien, Parks und eine Universität benannt wurden, schwadronierte vor Anhängern in Ankara wie ein tumber Tor gegen »Verräter, Feinde und Spione«, zu denen neben den üblichen Verdächtigen – Zionisten, Medien/Internet und die USA – auch die Lufthansa (Erdoğan zufolge neidisch, da der Frankfurter Flughafen durch den dritten Istanbuler Flughafen ins Hintertreffen geraten werde) gezählt wurden. Und mit Blick auf die Gülen-Bewegung erklärte er in Ordu, man werde die »Organisationen aufdecken, die Parallelstrukturen zum Staat aufbauen wollen.«

 

Auf den Punkt gebracht: Recep Tayyip Erdoğan hat in den vergangenen Tagen sein Gespür für Politik verloren. Mit seinen Hasstiraden und den kruden Verschwörungstheorien mag er die Heißsporne der Jungendsektion seiner Partei, alte Kameraden im eigenen Lager und Marktplätze in der Provinz zum Grölen bringen, aber nicht den Rest der Türkei – und die internationale Staatengemeinschaft sowieso nicht. Sein Gepöbel ist nicht clever, sondern erinnert vielmehr an den späten Gaddafi oder die finsteren Fidesz-Politiker in Budapest. 

Von: 
Dominik Peters

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