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Dschihadisten aus Deutschland

Dabei sein ist alles

Feature

Dschihadisten aus Deutschland ziehen in den Krieg: An der Seite von Terrormilizen wie IS kämpfen meist junge Männer. Viele von ihnen wollen »dazugehören« – das nutzen salafistische Propagandisten aus.

Jahre bevor Bilder von geköpften Journalisten im Internet auftauchen und deutsche Innenpolitiker die Teilnahme an Terrorcamps unter Strafe stellen wollen, steigt der 20 Jahre alte Sulaiman S. am Frankfurter Flughafen in einen Flieger nach Doha im Emirat Katar. Er ist nicht allein. Sein älterer Bruder sitzt bei ihm, er gilt als wichtiger Verbindungsmann von Al-Qaida in Europa und hat sich und seinem Bruder sowie sechs weiteren in einem Hamburger Reisebüro die Flugtickets besorgt.

 

Ihr Ziel ist Waziristan, eine Region im Nordwesten Pakistans. Noch lange bevor Deutschland über die Terrorgruppe »Islamischer Staat«, die stark steigende Zahl deutscher Dschihadisten in Syrien und salafistische »Scharia-Polizisten« in Wuppertal diskutiert, zieht Sulaiman S. los in den »Heiligen Krieg«. Als Sulaiman S., sein Bruder und andere in Pakistan ankommen, landen sie erst in einem Lager der militanten »Islamischen Bewegung Usbekistan« (IBU) und später bei Al-Qaida. S. lernt in den Monaten danach Schießen an einer Kalaschnikow, er muss das Waffenlager bewachen oder zum Einkaufen fahren.

 

In den wenigen Telefonaten weint die Mutter, fleht den Sohn an, er möge nach Hause zurückkommen. Der Geheimdienst zeichnet die Telefonate auf. Die Ausreise der Gruppe beschäftigt längst Polizei und Verfassungsschutz in Hamburg.

 

Es ist der Sommer 2009. Die Debatte über junge Menschen, die aus Deutschland in den Dschihad reisen, ist im Spätsommer 2014 eine ganz andere. Amerikaner und ihre Verbündeten fliegen Luftangriffe gegen Stellungen von IS im Irak und in Syrien. Weit mehr als 450 Personen aus Deutschland sollen sich militanten Islamisten angeschlossen haben, mehrere Tausend sind es aus ganz Europa.

 

Aber niemand kennt die genauen Zahlen, es sind eher Mindestangaben. In den Verbänden von IS sind vor allem Tschetschenen, Afghanen oder Iraker gefragt, sie stehen kampferprobt an der Front. Nicht wenige sagen, dass die deutschen Dschihadisten vor allem für die Propagandavideos taugen oder als Kanonenfutter dienen. Und sie werden von den Terrorgruppen zu Selbstmordattentätern erzogen.

 

Eine Handvoll war bisher offenbar an Selbstmordanschlägen beteiligt. Vor allem davor sorgen sich die deutschen Sicherheitsbehörden. 120 Islamisten aus Syrien und dem Irak sind bereits zurückgekehrt nach Deutschland. Manche von ihnen traumatisiert oder desillusioniert vom »Heiligen Krieg«.

 

Andere möglicherweise noch stärker radikalisiert. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat in einer bisher unveröffentlichten Studie, die zenith vorliegt, die Biografien von 378 Menschen aus Deutschland ausgewertet. Sie alle sind seit Mitte 2012 aus »islamistischer Motivation« in Richtung Syrien ausgereist.

 

Nicht alle wollten kämpfen: Einige gingen auch, um für Hilfsorganisationen zu arbeiten. Fast 90 Prozent waren Männer, der jüngste Islamist war 15 Jahre alt, der älteste 63. Der weitaus größte Anteil der Ausgereisten ist Anfang 20, fast zwei Drittel von ihnen sind in Deutschland geboren.

 

Manche sagen, die deutschen Dschihadisten taugen nur für Propagandavideos oder als Kanonenfutter

 

Der wichtigste von den Sicherheitsbehörden erkannte Faktor für eine Radikalisierung sind Freunde. Und doch glaubt der Geheimdienst, dass es keine »typische« Biografie eines jungen Dschihadisten gibt. Ein großer Teil hatte allerdings Diebstähle oder Gewalt- und Drogendelikte verübt, bevor die Radikalisierung kam. Nur wenige hatten vor der Ausreise eine Arbeit.

 

Es ist nicht die etablierte Mitte der Gesellschaft, die in den »Dschihad« zieht. Es sind eher die Ausgegrenzten. Aber eben nicht nur, auch wenige Akademiker und Studenten sind unter den Islamisten. Der 21 Jahre alte Ahmet C. aus einer Kleinstadt im Westen der Bundesrepublik war ein guter Fußballspieler, er war laut Medienberichten beliebt bei den Mädchen in seiner Klasse und ging auf Partys.

 

Doch Partys sind ihm irgendwann nicht mehr wichtig. Ahmet C. lässt sich einen Bart wachsen, trägt ein Gewand, so wie es der Prophet Muhammad getragen haben soll. Ein Video im Internet zeigt ihn an einem Stand in Wuppertal, an dem junge Salafisten den Koran verteilen. »Lies« heißt die Aktion, nach einem Motto des Offenbarungsbuches.

 

In vielen Städten Deutschland stehen sie in den Fußgängerzonen und verteilen den Koran in seiner angeblichen Ursprungsfassung, manchmal beten sie öffentlichkeitswirksam in Gruppen vor den Geschäften. Bei 64 der knapp 400 Islamisten, deren Lebensläufe der Geheimdienst auswertete, spielten die »Lies«-Aktionen eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung.

 

Auf der Straße und auf Facebook verteilen die jungen Menschen mit dem Koran auch ihre ganz eigene Idee des Islams. Vor allem Sicherheitsbehörden, aber auch viele Wissenschaftler nennen die Gruppe »Salafisten«. Nicht jeder Salafist sei ein Dschihadist, sagt der Verfassungsschutz, aber fast alle Dschihadisten stammten aus diesem Milieu. Die Muslime selbst sprechen von »Salafiya«, den »frommen Altvorderen« um die Zeit des Propheten.

 

In ihrer fundamentalistischen Version des Islams gilt das Geschriebene im Koran, sie dulden keine moderne Interpretation der Schrift, wie die allermeisten Muslime in Deutschland. Wer ein gutes Leben im Sinne der Salafisten führt, kommt ins Paradies. Allen anderen droht die Hölle.

 

Manche bleiben mit ihrem ultrakonservativen Glauben für sich, im Privaten. Für einige von ihnen aber liegt der Kampf in Syrien auf dem Weg ins Paradies. Auch weil manche schon dort in großen Häusern leben und sich Sklavinnen halten.

 

Nach wenigen Monaten im Terrorcamp hatte Sulaiman S. genug vom »Heiligen Krieg« und riss aus

 

Ahmet C., der junge Mann aus Westdeutschland, radikalisierte sich in kurzer Zeit. Zu Beginn des Sommers 2014 reiste er in die Türkei und weiter nach Syrien. Dort verlor sich die Spur. Am 19. Juni soll sich Ahmet C. in einem Auto in der irakischen Hauptstadt Bagdad in die Luft gesprengt haben. 54 Menschen starben bei dem Anschlag.

 

Der Krieg in Syrien bewegt junge Muslime in Deutschland. Millionen Menschen sind auf der Flucht, Bilder von getöteten Kindern und zerstörten Städten erreichen Europa seit Jahren. Der Westen aber greift erst jetzt, Jahre nach Beginn des Krieges gegen den Diktator Baschar al-Assad, im Kampf gegen IS militärisch ein.

 

Ein Gewerbeviertel im Süden von Hamburg Anfang des Jahres: Dutzende Autos parken vor einer Halle, ein roter Vorhang verhängt die Tür. Es gibt zwei Eingänge, für Männer und Frauen getrennt. An anderen Tagen finden hier Hochzeitsfeiern oder Geburtstagsfeste statt. Heute versteigert der Verein Ansaar International Goldketten, Eheringe, Parfüms und Handys.

 

Ein Sprecher sagt, man sammle Geld für ein Waisenhaus in Syrien. Von Gewalt und Dschihadismus grenzen sie sich auf Nachfrage des Reporters ab. Auf Facebook berichtet Ansaar vom Brunnenbau in Afrika und Palästina. Doch auch der Verfassungsschutz beobachtet an diesem Tag die Benefizveranstaltung. Sie zählen Hilfsvereine wie Ansaar oder Helfen in Not zum salafistischen Milieu, diverse Aktionen wie in Hamburg fanden im Bundesgebiet schon statt.

 

Auch bekannte Salafisten-Prediger wie Pierre Vogel, Abu Abdullah, Ibrahim Abou Nagie oder Ebu Tejma treten bei Spendenaktionen auf. Tejma ruft im Internet dazu auf, die »Feinde Allahs« zu verjagen. Dafür solle jeder Muslim trainieren – laufen, Kampfsport, schießen. Auch das ist die Sprache der Salafisten.

 

Von mehr als 60 ausgereisten Islamisten ist den Sicherheitsbehörden bekannt, dass sie sich an Benefizaktionen beteiligten. Man bekomme viele Anrufe von jungen Menschen, die nichts spenden möchten, aber dafür mit Ansaar nach Syrien reisen wollen, sagt der Sprecher. Man lehne dies aber ab. Eine Abgrenzung vom Terror des »Islamischen Staats« sucht man auf der Facebook-Seite von Ansaar vergeblich.

 

Dabei sind die meisten IS-Opfer Muslime. Stattdessen hört man von Mitgliedern der Szene viele Parolen, was die Sicherheitsbehörden auch von Neonazis oder Linksextremisten kennen. Man sei Opfer einer Medienkampagne, sagt der junge Ansaar-Sprecher. Er sieht sich auf der Seite der Gerechten, im Kampf gegen das Böse.

 

In der Rhetorik der Salafisten mischen sich Antisemitismus und Amerikafeindlichkeit mit heroischen Erzählungen über den kämpfenden Muslim. Claudia Dantschke leitet die Beratungsstelle Hayat in Berlin. Sie sieht im Salafismus vor allem eine Jugendbewegung: Wie bei anderen radikalen Jugendlichen gehe es auch den jungen Islamisten um Suche nach Identität und Orientierung in einer Gesellschaft, in der Muslime noch immer diskriminiert werden und mit mehr Mühe als Nicht-Muslime an einen Job kommen. Mit dem Terror des IS hat Islamfeindlichkeit in Deutschland zugenommen. Und das wiederum nutzen die Salafisten.

 

Salafisten missbrauchen die Männlichkeitsphantasien junger Menschen – vor allem der Ausgegrenzten

 

Dantschke nennt die Salafisten »Pop-Dschihadisten«, sie missbrauchen auch die Männlichkeitsphantasien junger Menschen. Die Gemeinschaft macht sie stark. Auch auf manchen deutschen Schulhöfen treffen sich Islamisten in ihren Cliquen. Eltern und Freunde erzählen, wie sich ihre Kinder Namen geben wie Hamza oder Assadullah, »der Starke« oder »der Löwe Gottes«. Jeder will der bessere Muslim sein.

 

Radikal zu sein ist auch cool. Ein Nasenpiercing schockt Eltern und Lehrer heutzutage nicht mehr. Eine Burka schon. Salafismus ist auch ein Aufbegehren der Jugend gegen das Establishment. Die brutale Gewalt der IS-Terroristen wirkt für manche nicht abschreckend. Im Gegenteil. »Mit Religion hat das nichts zu tun«, sagt Dantschke. Religion wirke im Gegenteil oft wie eine Impfung gegen Extremismus, meinen Experten: Spiele der Islam in der Erziehung eine große Rolle, dann sei die Chance gering, dass sich ein junger Mensch bei den Salafisten radikalisiere.

 

Wer religiös gefestigt ist, lässt sich nicht so schnell zum Extremismus bekehren. Nur knapp jeder fünfte Syrien-Reisende hatte laut der Studie vor seiner Abreise überhaupt Kontakt zu einer Moschee. Und doch gibt es nach Angaben der Sicherheitsbehörden einzelne Moscheen in Deutschland, die als Treffpunkte der Szene gelten.

 

Auch Sulaiman S., der junge Mann, der nach Waziristan reiste, hatte vor seiner Abreise die mittlerweile geschlossene Al-Kuds-Moschee in Hamburg besucht. Sein Bruder war es, der ihn mitnahm. Hier trafen sich schon die Attentäter des 11. September 2001.

 

Radikal durch den Islam? Im Gegenteil, glauben Experten: Religiosität schütze vor Extremismus

 

Sulaiman S. war drei Jahre alt, als er mit seiner Familie nach Deutschland kam. Irgendwann in der Pubertät verlor S. den Anschluss in der Schule, litt unter Depressionen, suchte Zuflucht in Drogen. Sein Bruder aber hatte andere Pläne. Er soll ihm eine Frau in Pakistan versprochen haben, ein besseres Leben. Das geht aus den Akten zum Prozess gegen S. Anfang 2014 in Hamburg hervor.

 

Doch nach ein paar Monaten im Terrorcamp hatte Sulaiman S. vom »Heiligen Krieg« genug. Er riss aus dem Lager aus und floh nach Afghanistan. Weil er keinen Reisepass mehr hatte, ging er in die deutsche Botschaft in Kabul. Als S. mit dem Flieger in Deutschland landete, wartete schon die Polizei.

 

Das Gericht verurteilte ihn zu drei Jahren Haft wegen Mitgliedschaft in zwei terroristischen Vereinigungen. Sulaiman S. war ein Mitläufer, psychisch labil und beeinflussbar. Er hörte vor allem auf das, was sein großer Bruder ihm sagte. Und dennoch sagt der Richter am Ende des Prozesses: Sulaiman S. sei sich bewusst gewesen, dass er sich mit seiner Reise nach Pakistan für den Kampf gegen den Westen und den pakistanischen Staat entschied. »Er gehörte dazu, und er wollte dazugehören.«

Von: 
Christian Unger

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