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Syrien und Iran

Wir Opfer

Essay
Wilkommen im Islamischen Staat

Militärisch ist der selbst ernannte »Islamische Staat« (IS) am Ende. Ideologisch und taktisch wappnet er sich bereits für den Neuanfang.

Ende September wandte sich der IS-Anführer Abu Bakr Al-­Bag­dadi an seine Anhänger. Es war seine ­bislang letzte Audio­botschaft. »Unser Herr ist unser alleiniger Wegweiser und Unterstützer«, verkündete er über Al-­Furqan, den offiziellen Medienkanal des IS. Bereits der Titel deutet auf ein Gefühl der Einsamkeit angesichts der übermächtigen Gegner hin. Das Jahr 2017 nähert sich dem Ende, der IS hat fast alle Städte verloren, die er vor Kurzem noch kontrolliert hatte: Ramadi und Mosul im Irak, zuletzt seine syrische »Hauptstadt« Raqqa. Sowohl durch die Angriffe des internationalen Bündnisses als auch durch innere Spaltungen rückt die völlige Zerstörung des IS näher – auch seine Führungsstrukturen fallen auseinander. Die Islamisten trifft das aber nicht unvorbereitet: Im letzten Jahr hat es heftige interne Diskussionen darüber gegeben, wie es weitergehen soll, ideologisch, strategisch und militärisch.

In seiner Botschaft konzentrierte sich Al-Bagdadi auf ein zentrales Konzept der IS-Ideologie: die Verteidigung gegen den zweigleisigen Angriff auf den Islam und auf die Umma, die wahre muslimische Gemeinschaft. Gemeint ist einerseits der angebliche »westliche Kolonialkreuzzug« zur Ausrottung des Islams und andererseits der iranisch-schiitische Expansionismus, der darauf abziele, die Sunniten zu unterdrücken. Der Ideologie des IS zufolge ist ein islamischer Staat, von dem es nur einen geben kann und der dem »Islamischen Staat« gleichgesetzt wird, das Schild, das die Sunniten vor Angriffen auf ihre Existenz schützt. Als historische Feinde bezeichnet Al-Bagdadi den »polytheistischen, christlichen« Westen und den »häretischen« Schiismus. Das Schlachtfeld dieses kosmischen Kampfes zwischen Gut und Böse seien Irak und Syrien. Der Westen wird in diesem Kampf als hinterhältiger Agent gesehen, der die sunnitische Autorität und Hegemonie untergräbt und es dadurch Iran ermöglicht, den Staat zu infiltrieren und die Kontrolle zu übernehmen.

Die arabischen Staaten fielen als Verteidiger der Umma aus, sie seien bereits vom geraden Weg des Islams abgewichen. Entweder weil sie die säkularen Ideen des Westens angenommen hätten oder weil sie Bündnisse mit dem Westen gegen andere Muslime eingegangen seien. Ein besonderer Platz wird immer Saudi-Arabien als »Betrüger« eingeräumt, der angibt, die sunnitische Sache zu verteidigen, in Wirklichkeit aber eine »Marionette« des Westens sei, so die IS-Ideologie.

Die Sunniten haben sich des alten schiitischen Opferdiskurses bemächtigt

Die Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten hat diesem sunnitischen Opferdiskurs viel Nahrung gegeben: Die US-amerikanische Invasion des Iraks führte zu einem Staatsprojekt, das mit einer massiven Säuberung von Kadern der regierenden Baath-Partei (»Debaathisierung«) begann, gefolgt von einem konfessionalistischen Quotensystem, das die Schiiten begünstigte. Ironischerweise wurde die Sunnisierung des Iraks unter Saddam Hussein, die nach dem Golfkrieg 1991 begann, nach der amerikanischen Invasion 2003 durch ein ebenso konfessionalistisches System ausgetauscht, das die Schiiten bevorteilte. Dieser Prozess ersetzte, absichtlich oder nicht, die alte schiitische Viktimologie durch eine sunnitische und spielte somit Al-Qaida direkt in die Hände.

Sunnitische Offiziere, die aus der Armee entlassen worden waren, schlossen sich dem Jordanier Abu Musab Al-Zarqawi an, um den »Islamischen Staat in Mesopotamien« auszurufen, einen Parallelstaat für Sunniten, der hauptsächlich im sogenannten sunnitischen Dreieck westlich von Bagdad agierte. Die Gruppe entwickelte sich zu einer neuartigen Terrororganisation: Sie rekrutierte Mitglieder dank professioneller administrativer und militärischer Fähigkeiten und verfolgte eine Ideologie, in der sunnitischer Nationalismus und der Widerstand gegen die angebliche weltweite Verschwörung gegen Muslime Hand in Hand gingen.

Die Ereignisse in Syrien schufen spätestens ab 2011 ein Klima, das die Situation im Irak widerspie­gelte: Die zunehmend brutale Herrschaft des Alawiten Assad wurde als schiitischer Angriff auf die sunnitische Gemeinschaft aufgefasst. Es war daher durchaus logisch, dass Al-Qaida und der »Islamische Staat« ihre Operationen in Syrien wiederaufnahmen. Letzterer trennte sich von Al-Qaida und nannte sich von nun an »Islamischer Staat im Irak und in Syrien« (ISIS) – der direkte Vorläufer des IS.

Der IS bereitet sich auf die Rückkehr zum ­Guerillakrieg vor

In seiner letzten Botschaft deutete Al-Bagdadi an, wie die künftige Taktik des IS aussehen könnte – es ist eine Rückkehr zum Guerillakrieg, der aber noch globaler geführt werden soll als vor 2014. Er ruft die »Unterstützer des Kalifats auf der ganzen Welt« dazu auf, ihre Angriffe zu verstärken: »Macht die Medienagenturen der Ungläubigen und ihre Häuser des intellektuellen Krieges zu euren Zielscheiben.« Zum ersten Mal nahm ein Dschihad-Anführer damit explizit Medien und Thinktanks ins Visier. Es entspricht jedoch dem Konzept »eines Krieges der Identitäten« mit dem Westen, den der IS zum Kernstück seiner Ideologie gemacht hat.

Al-Bagdadi erkennt implizit aber auch an, dass das Staatsprojekt gescheitert ist. Er weicht auf einen alten Operationsmodus aus: Eine Geheimorganisation führt durch ein Netzwerk von kleinen Terrorgruppen einen Krieg des Schreckens und der Zermürbung gegen ihre Feinde. Am erfolgversprechendsten ist das in Gebieten, die von einem schwachen Staat kontrolliert werden. Es ist daher zu erwarten, dass der IS sich in seine Geburtsstätte im Irak zurückzieht, das »sunnitische Dreieck«, um Angriffe im Irak und in Syrien zu lancieren.

Bei seinem Versuch, einen Staat zu bilden, hat der IS auch lokale, rivalisierende sunnitische Autoritätsfiguren unterdrückt. Das wäre nun nicht mehr notwendig. Die Rückkehr zum alten Dschihad-Modell könnte die Lokalbevölkerung nun wieder für den IS als »Verfechter« ihrer Sache begeistern. So wäre es für den IS nicht schwer, die neuen Taktiken als Befreiungskrieg der Sunniten gegen den christlichen Westen und den schiitischen Iran zu vermarkten, während er auf eine Chance wartet, einen neuen Anlauf für das Staatsprojekt zu nehmen.

Den IS besiegen heißt, einen Kampf zu gewinnen. Um dem IS aber tatsächlich ein Ende zu setzen, müssen die Bedingungen beseitigt werden, die ihn erst haben wachsen lassen. Notwendig wäre ein kluger Aufbau der gescheiterten Staaten im Nahen Osten und die Eindämmung des iranischen Expansionismus in Ländern mit sunnitischer Bevölkerungsmehrheit. Beides ist derzeit reines Wunschdenken: Die Gefahr eines Wiederaufstiegs des IS ist groß. Man muss sich nur ins Gedächtnis rufen, wie mühelos er im Juni 2014 die mehrheitlich sunnitische Stadt Mosul unter seine Kontrolle bekommen hat und wie schwer es der irakischen Armee zwei Jahre später fiel, sie zurückzuerobern.

Eine kleine Zahl leicht ausgerüsteter IS-Kämpfer hatte binnen Tagen mehrere tausend irakische Soldaten vertrieben. Damals wurde der Verlust Mosuls nicht als Niederlage des irakischen Staates, sondern des Schiismus gesehen. Es folgte ein Aufruf zum Dschihad durch die wichtigsten schiitischen Geistlichen im Irak. In der Folge wurden die Haschd Al-Schabi gegründet, von Iran unterstützte schiitische paramilitärische Milizen. Nach zwei Jahren Vorbereitung war es nicht die irakische Armee, die Mosul zurückeroberte, sondern eine große Koalition, bestehend aus amerikanischen Kampfflugzeugen, iranischen Streitkräften, Truppen der kurdischen Peschmerga, den Haschd Al-Schabi sowie großen Teilen der irakischen Armee

Die Niederlagen in Mosul und Raqqa bedeuten einstweilen nicht das Ende des Phänomens IS. Weder die Tötung Usama Bin Ladens noch die Al-Zarqawis haben die von ihnen geschaffenen Organisationen in die Knie gezwungen, sondern vielmehr den Aufstieg einer neuen Generation von Dschihadisten befeuert. Mit Sicherheit werden sich auch jetzt wieder neue, weltweit agierende Terrorzellen bilden.

Im Umgang mit Extremismus muss man beim politischen Kontext anfangen, der ihn hervorgerufen hat, also bei Marginalisierung und Ausgrenzung. Die Sunniten im Irak müssen Zugang zum Staat und seinen Ressourcen erhalten. Und die zehn Millionen geflüchteten Sunniten und Binnenflüchtlinge in Syrien müssen Gerechtigkeit erfahren angesichts der Unterdrückung durch das von Iran unterstützte Assad-Regime. Weniger konfessionalistisch ausgedrückt heißt das: Die Menschen im Nahen Osten müssen eine Chance bekommen, sich von den Diktaturen zu befreien, die sie seit einem halben Jahrhundert beherrschen.

Der Arabische Frühling hätte eine solche Chance geboten. Ein friedlicher Übergang zur Demokratie hätte die Grundprämisse des internationalen Dschihadismus zunichtegemacht: dass jegliche Veränderung im Nahen Osten ohne Gewalt unmöglich ist. Sieben Jahre später ist der Aufstieg von Dschihadisten und nicht staatlichen Akteuren nicht der einzige Trend. Der andere ist die Rückkehr zur Unterstützung diktatorischer Regimes im Namen der Stabilität. Diese Regime sind verantwortlich für die Dynamiken, die zum Erfolg des IS geführt haben, im Irak und in Syrien.

Von: 
Giath Bilal
Fotografien von: 
Arianna Pagani

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