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Gefechte zwischen Armee und RSF im Sudan

Ein Land im Würgegriff der Militärs

Feature
von Mat Nashed
Frauenrechtsaktivistinnen in Sudans Hauptstadt Khartoum
Frauenrechtsaktivistinnen und Familienangehörige erinnern an die Demonstranten, die am 3. Juni 2019 in der sudanesischen Hauptstadt Khartoum ermordet worden sind. Foto: Alessio Mamo

Die Gefechte zwischen Armee und Milizen verwandeln Sudans Hauptstadt in ein Schlachtfeld. Dass es so weit kommen konnte, stand lange zu befürchten – auch westliche Diplomaten müssen sich nun unangenehme Fragen gefallen lassen.

Schüsse und Explosionen weckten die Einwohner am frühen Morgen des 15. April in der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Das seit Jahren befürchtete Szenario wurde am Samstag Realität. Die sudanesische Armee und die sogenannten Rapid Support Forces (RSF) hatten sich gegenseitig den Krieg erklärt, die Zivilbevölkerung gerät zwischen die Fronten.

 

Innerhalb weniger Tage hat sich die Gewalt auf den Ostsudan und die westliche Provinz Darfur ausgeweitet. Nach Angaben von Ärzten vor Ort sind bereits über 100 zivile Opfer zu beklagen, die Zahl der Verletzten steigt ebenso täglich. Da die Stadt zum Schlachtfeld geworden ist, ist der Weg zum Krankenhaus lebensgefährlich und fordert weitere Menschenleben.

 

Nach mehreren Tagen heftiger Gefechte bleibt weiterhin unklar, wer die Oberhand behält. Die Streitkräfte unter Abdul-Fattah Burhan sowie die RSF kämpfen auch im Netz um die Deutungshoheit in dem Konflikt. Die sudanesische Armee und die RSF konkurrieren seit langem um Macht und Pfründe. Die Eskalation im April geht auf die Konstellation unter dem 2019 abgesetzten Präsidenten Omar Al-Baschir zurück.

 

Hemeti vertiefte die Beziehungen zu den VAE und arbeitete – wie auch die regulären Streitkräfte – mit der russischen Wagner-Gruppe zusammen

 

Anfang der 2000er-Jahre ließ der Machthaber arabische Stämme rekrutieren und ausrüsten, die Aufstände in den Grenzprovinzen des Sudan niederschlagen sollten. Die Strategie ging auf, forderte jedoch einen hohen Preis. Zwischen 2003 und 2009 wurden in Darfur mehr als 300.000 Menschen getötet. 2005 erhob der Internationale Strafgerichtshof wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Anklage gegen Baschir.

 

2013 ließ der Präsident die arabischen Stammesmilizen aus Darfur in die RSF umwandeln. Das Kalkül: Die »Schnelle Eingreiftruppe« sollte ihn und sein Regime gegen Putschabsichten aus den eigenen Reihen absichern. Baschir misstraute etwa hochrangigen Generälen, aber auch seinem Geheimdienst. Mohamad Hamdan Dagalo – besser bekannt unter seinem Nom de guerre Hemeti – wurde mit der Leitung der Truppe beauftragt und war einzig dem Präsidenten verwantwortlich.

 

Im Laufe der Jahre festigten die RSF ihre Stellung. Sie sicherten sich die Kontrolle über lukrative Goldminen in Nord-Darfur und fuhren Hunderte Millionen US-Dollar für die Entsendung von Söldnern in den Jemen ein. Hemeti vertiefte auch seine Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und arbeitete – wie auch die regulären Streitkräfte – mit der russischen Wagner-Gruppe zusammen. Die so angehäuften Mittel sowie die Unterstützung ausländischer Förderer ließen die RSF schnell zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten des Militärs aufsteigen.

 

Dabei waren der Armeechef und der Milizenführer noch vor kurzem enge Verbündete. Nach der Absetzung Baschirs vor fast genau vier Jahren leitete Burhan das Gremium, das eigentlich den Übergang an eine zivile Regierung organisieren sollte. Hemeti sicherte sich den Posten als Stellvertreter im »Souveränen Rat«, damals das höchste Staatsorgan. Gegen die Machtkonzentration in den Händen von Militärs formte sich im Sommer 2019 Widerstand: Die Protestbewegung, die die Absetzung Baschirs erst in Gang gesetzt hatte, sah sich um die Früchte der Revolution gebracht.

 

Während der Übergangsperiode inszenierten sich der General und Hemeti als wohlwollende Führer und Hüter der Revolution

 

Im Zuge der Auflösung einer friedlichen Sitzblockade vor dem Verteidigungsministerium im Juni 2019 töteten die Sicherheitskräfte mindestens 120 Menschen. Während die Armee die Zugänge abriegelte, metzelten die RSF-Schergen die Demonstranten nieder. Niemand wurde jemals für das Blutvergießen zur Rechenschaft gezogen, selbst nachdem sowohl Hemeti als auch Burhan internem und internationalem Druck nachgaben und sich einer breiten Koalition politischer Parteien anschlossen, dem »Zentralrat der Kräfte für Freiheit und Wandel« (FFC-CC). Gemeinsam bildeten Armee, RSF und FFC-CC im August 2019 eine militärisch-zivile Übergangsregierung.

 

Während dieser Periode inszenierten sich der General und Hemeti als wohlwollende Führer und Hüter der Revolution. Da der Milizen-Kommandant im Gegensatz zu Burhan nicht über die Legitimität verfügte, die mit der Führung des sudanesischen Militärs einhergeht, heuerte er Berater an, die in westlichen Hauptstädten Lobbyarbeit für ihn leisteten, während er im ganzen Land Krankenhäuser und Kliniken bauen ließ.

 

Nur wenige Menschen ließen sich von Hemetis PR-Kampagne blenden oder waren überrascht, dass er Burhans Putsch am 25. Oktober 2021 unterstützte. Sowohl das Militär als auch die RSF – in Koordination mit weiteren bewaffneten Gruppen aus Darfur – haben den demokratischen Übergang konsequent untergraben. Sie alle hatten einfach zu viel zu verlieren. RSF und Militär kontrollieren etwa lukrative Sektoren wie den Export von Gold, Sesam und Gummiarabikum.

 

»Die Amerikaner setzten auf Appeasement – sie glaubten tatsächlich, dass sich die Militärs zu Reformern wandeln«, kritisiert Kholood Khair. »Das Kalkül dabei lautete: Der Sudan ist noch nicht bereit für eine rein zivile Regierung«, sagt die Gründungsdirektorin des Khartumer Thinktanks Confluence Advisory.

 

»Aus diesem Grund verhinderten sie, dass die Generäle mit Sanktionen belegt wurden«

 

Nach der Machtergreifung von Burhan und Hemeti sah es zunächst so aus, als würde die internationale Gemeinschaft eine härtere Gangart gegen die Generäle an den Tag legen. Die USA froren 700 Millionen US-Dollar an Entwicklungshilfegeldern ein. Der »Pariser Club«, ein informelles Gremium staatlicher Gläubiger, setzte Schuldenerlasse in Milliardenhöhe aus. Der eigentliche Widerstand ging jedoch abermals von der breiten und lebendigen Zivilgesellschaft des Sudan aus. Insbesondere Widerstandskomitees und Nachbarschaftsgruppen hatten durch die Mobilisierung landesweiter Proteste wesentlich zur Absetzung Baschirs beigetragen.

 

Im Herbst 2021 gingen sie gegen den Staatsstreich unter dem Motto »keine Verhandlungen, keine Partnerschaft, keine Legitimität für die Putschisten« auf die Straße. Viele Diplomaten unterstützten das Recht der Zivilbevölkerung auf friedliche Proteste, glaubten aber, dass die Widerstandskomitees nicht kompromissbereit seien. »Aus diesem Grund verhinderten sie, dass die Generäle mit Sanktionen belegt wurden«, glaubt Analystin Khair. In den westlichen Hauptstädten forderte man lediglich die Rückkehr zu einem »zivil geführten« Übergang – ein Euphemismus für die Aushandlung einer neuen Partnerschaft zwischen der FFC-CC, dem Militär und den RSF.

 

Hemeti und Burhan erhielten so quasi einen Blankscheck und machten sich in den folgenden Monaten weiterer schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig. Mindestens 125 Demonstranten kamen bei Protesten ums Leben, tausende Dissidenten ließen die Sicherheitskräfte entführen und foltern. Dennoch riefen UN-Diplomaten ungerührt pro-demokratische Gruppen dazu auf, sich mit den Putschisten-Generälen an einen Tisch zu setzen. »Trotz allem durften diese Militärführer über ihre Rolle in einer neuen Regierung verhandeln«, sagt die Sudan-Expertin Anette Hoffmann vom Haager Clingendael-Institut und kommt zu dem Schluss: »Es wurden keine roten Linien gezogen.«

 

Die Verhandlungen zogen sich bis in den Sommer letzten Jahres, die Spannungen zwischen Hemeti und Burhan stiegen. Im August 2022 gab der RSF-Kommandant zu Protokoll, dass der Putsch dem Land geschadet habe, da er die Islamisten der Baschir-Ära wieder an die Macht gebracht habe.

 

Dem RSF-Kommandanten blieb die Gefühls- und Gemengelage in Reihen der Armee nicht verborgen

 

In der Tat hatte Burhan Parteigänger der islamistischen »Nationalen Kongresspartei« (NCP) mit wichtigen Ämtern in der Verwaltung betraut – nicht zuletzt, weil dem General eine eigene Basis im Staatsapparat fehlte. Andere NCP-Loyalisten besetzen Berichten zufolge hohe Positionen in der Armee und verachteten Hemeti für seine Volte gegen Omar Al-Baschir im Jahr 2019. So wuchsen unter den Generälen die Bedenken, dass die Armee auf Kosten des Aufstiegs Hemetis zu einer zweitrangigen Kraft im Land degradiert werden könnte.

 

Dem RSF-Kommandanten blieb diese Gefühls- und Gemengelage in Reihen der Armee nicht verborgen und passte seine Strategie an: Der 48-jährige Milizionär gerierte sich als Befürworter der Demokratie, um Macht und Privilegien auch unter einer neuen, zivil geführten Übergangsregierung zu sichern.

 

Vier Monate später, am 5. Dezember 2022, unterzeichneten beide Männer das von den Vereinten Nationen unterstützte Rahmenabkommen, das einen neuen politischen Prozess zur Wiederherstellung des Übergangs des Sudan zur Demokratie in Gang setzen sollte. Die meisten Widerstandskomitees sprachen sich gegen die Vereinbarung aus, da Burhan und Hemeti durch ihr Handeln kein glaubhaftes Bekenntnis für solch einen Übergang erkennen ließen. Burhan seinerseits argumentierte damals, er hätte die Vereinbarung unterzeichnet, um die RSF im Zaum zu halten. Hemeti behauptete wiederum, ihm ginge es darum, die Militärherrschaft zu beenden.

 

Hemeti schlug die Eingliederung seiner Streitkräfte innerhalb von zehn vor, Burhan drängte auf einen Zeitraum von zwei Jahren 

 

»Hemeti wurde von Omar Al-Baschir mit weitreichenden Kompetenzen und unbegrenzten Privilegien ausgestattet – und er versucht, diese Errungenschaften ohne Rücksicht auf Land oder Bevölkerung abzusichern«, gibt ein Angehöriger des RSF-Kommandanten, der namentlich nicht genannt werden möchte, gegenüber dem Autoren zu Protokoll.

 

Trotz des Optimismus seitens westlicher Diplomaten stand das Rahmenabkommen von Anfang an vor einer Reihe von Problemen. Es war in politischer Hinsicht wenig inklusiv, genoss kaum Unterstützung in der Bevölkerung und versprach mehr, als es liefern konnte. So sollten Schlüsselfragen wie Aufarbeitung und Übergangsjustiz sowie die Reform des Sicherheitssektors innerhalb von Wochen, manchmal sogar Tagen gelöst werden. Beide Themen erfordern in der Regel monatelange Gespräche, konzertierte internationale Initiativen sowie klar definierte Mechanismen und Maßstäbe. Selbst dann sind solche Bemühungen oft nicht von Erfolg gekrönt.

 

Die Diplomaten und der FFC-CC hatten es jedoch eilig: Die internationalen Vermittler brauchten eine Einigung, um die Wiederaufnahme der Entwicklungshilfe zur Wirtschaftsstabilisierung zu rechtfertigen, während das Parteienbündnis darauf drängte, wieder an der Regierung beteiligt zu werden. Die sich anbahnenden Spannungen zwischen den RSF und der Armee gerieten dabei in den Hintergrund – beide sorgten sich in erster Linie darum, bei einem erneuten Übergang Macht abgeben zu müssen.

 

Dabei war das heikelste Thema auf der Agenda die Integration der RSF in die Armee. Hemeti schlug die Eingliederung seiner Streitkräfte innerhalb von zehn vor, Burhan hingegen drängte auf einen Zeitraum von lediglich zwei Jahren. Der Streit zog die Aufmerksamkeit von ebenso wichtigen Fragen ab: Etwa wann und wie die Sicherheitskräfte einer zivilen Aufsicht unterstellt werden sollten und ob die Reform des Apparates von Militärs oder Zivilisten geführt werden sollte. FFC-CC-Beamte schienen ihrerseits die Spaltung zu verschärfen, indem sie sich auf die Seite der RSF stellten – wohl in der Hoffnung, dass die Miliz dem Wiedererstarken der NCP-Loyalisten in der Armee Einhalt gebieten würden.

 

»Diese Krise ist das Werk der internationalen Gemeinschaft mit all ihren dummen Aufrufen nach einer schnellen Einigung«

 

Trotz dieser explosiven Gemengelage kündigten der FFC-CC und die internationale Gemeinschaft im März an, dass am 1. April 2023 ein neues politisches Abkommen unterzeichnet und kurz darauf eine neue Regierung gebildet werden würde. Der Zeitplan wurde um einige Tage verschoben, nachdem Armeevertreter die Arbeitsgruppe zur Reform des Sicherheitssektors am 29. März verlassen hatten. In den darauffolgenden Tagen nahmen die Spannungen zu: Die RSF verlegten Hunderte Kämpfer in die Hauptstadt. Aktivisten in Darfur berichten außerdem, dass die Armee in der Provinz neue Soldaten rekrutiere – wohl auch, weil die arabischen Stämme in der Grenzregion zum Tschad das Gros der RSF-Milizionäre stellen.

 

Dennoch hielten einige westliche Diplomaten daran fest, dass ein neues politisches Abkommen die Situation eher stabilisieren als eine bewaffnete Konfrontation zwischen den RSF und dem Militär beschleunigen würde. »Diese Krise ist das Werk der internationalen Gemeinschaft mit all ihren dummen Aufrufen nach einer schnellen Einigung«, bekennt ein Diplomat, der namentlich nicht genannt werden möchte, gegenüber dem Autoren.

 

Hochrangige westliche Diplomaten hatten diese Eskalation auch deswegen nicht auf dem Schirm, weil einige von ihnen über Ostern verreist waren. Seltsamerweise eilten nur wenige zurück in den Sudan, nachdem die RSF Truppen zum Flughafen verlegt hatte, auf dem sudanesische und ägyptische Kampfflugzeuge stationiert sind. Die sudanische Armee betrachtete die Aktion als Provokation – und als Präventivschlag, der darauf zielte, die Luftüberlegenheit der Streitkräfte zu neutralisieren.

 

Nun drohen sich die Kämpfe zu einem langwierigen Konflikt auszuweiten. Viele Beobachter befürchten, dass Regionalmächte und Nachbarn wie den Tschad, Ägypten, Eritrea und Äthiopien ebenso in den Konflikt gezogen werden könnten.


Dieser Text erschien zuerst auf Englisch bei New Lines Magazine.

Von: 
Mat Nashed

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