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Interview mit tunesischer Musikerin Neysatu

»Tunesien liegt dem Kongo näher als Palästina«

Interview
Interview mit tunesischer Musikerin Neysatu
Neysatu

Sängerin Neysatu sprach mit zenith vor ihrem Berlin-Konzert Anfang Februar über die tunesische Underground-Musikszene unter Ben Ali und warum sie sich Mali und Kongo musikalisch näher fühlt als dem Nahen Osten.

Neysatu ist der Künstlername der tunesischen Avantgarde-Musikerin Badiâa Bouhrizi. Sie wurde als »Bel Canto des neuen Sounds Nordafrikas« beschrieben, mit ihrer einzigartigen Mischung aus Minimalismus, Reggae-Vibes und kraftvollen Texten. Vielen Tunesiern ist sie jedoch unter einem anderen Namen bekannt: Miltazema, arabisch für »engagiert«, denn ihre Musik setzt sich häufig mit den Themen Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung auseinander.

 

zenith: Was steckt hinter Ihrem Künstlernamen Neysatu?

Neysatu: Neysatu entstand während meines Studiums in Paris. Ich heiße Badiâa, ein arabischer Name. Aber die Franzosen hatten immer Probleme bei der Aussprache. Neysatu ist ein Wortspiel, das die gleichen Buchstaben verwendet wie »Tunisiyya« oder »Tunisienne«, aber eher wie ein Name aus Mali klingt. Ich war damals inspiriert von den Klängen der zeitgenössischen malischen Musik.

 

Ihre Musik verkörpert viele verschiedene Identitäten: Tunesien, Amazigh und Westafrika. Ist das ein Spiegelbild Ihrer Erziehung?

Ich stamme ursprünglich aus der Provinz El Kef im Nordwesten des Landes. Wir sind Chaoui – Amazigh, die sowohl in Tunesien als auch in Algerien heimisch sind, denn diese Grenzen bestanden ja nicht immer. Doch sowas stand früher nicht auf dem Lehrplan. In der Schule haben wir nie etwas über das antike Numidien erfahren, das das heutige Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und sogar Teile von Mali umfasste – also die Heimat der Amazigh. Bei uns kamen nur Franzosen und Araber vor. Von indigenen Einwohnern Nordafrikas sprach niemand. Dabei ist die afrikanische Kultur in der Musik und in anderen Kunstformen wirklich spürbar. Ich sehe einen großen Unterschied zwischen der tunesischen Kultur und der arabischen Kultur in Bezug auf Rhythmus und Tonskala. Die arabischen und türkischen Einflüsse in der Musik sind wohlbekannt, aber wir haben eine eher afrikanische Sichtweise.

 

 

Ihr Song »La Niña Imazighen« deutet auf die Bedeutung Ihrer Amazigh-Herkunft hin. Welchen Einfluss haben die Klänge dieser Gemeinschaft auf Ihre Musik?

Ich habe erst mit 25 Jahren gemerkt, dass ein Großteil meines Gesangs von der Amazigh-Musik beeinflusst wird. Meine Familie stammt von den Amazigh ab, das ist unsere Kultur. Wir sprechen zwar Arabisch, aber die kulturelle Ästhetik ist eine Anspielung auf die Amazigh. In der tunesischen Sprache gibt es viele Amazigh-Wörter, die wir erst jetzt wiederentdecken, weil Präsident Bourguiba die Amazigh-Sprache nach der Unabhängigkeit verbieten ließ. Damals wurde dieser Schritt damit begründet, dass man eine einzige Landessprache haben müsse, um das tunesische Volk nicht zu spalten. Keine gute Entscheidung, denn sie entfernte einen wichtigen Bestandteil der tunesischen Kultur.

 

Glauben Sie, dass afrikanische Einflüsse insgesamt in der nordafrikanischen Musik übersehen werden?

Absolut. Zwar findet die afrikanische Bewegung bei immer mehr Menschen in Algerien, Marokko und Tunesien Anklang. Allerdings ist in diesen Ländern Rassismus ein Problem. Der neuen Generation dient Musik daher auch als Mittel, um sich dem Rassismus in ihren Gesellschaften entgegenzustellen, denn wir haben mehr gemeinsam und sind historisch gesehen Afrika näher als der arabischen Welt. Tunesien liegt dem Kongo oder Mali näher als Palästina.

 

»In der Musik verschmelzen Marokko, Algerien, Tunesien und das subsaharische Afrika«

 

Ist das in Tunesien nicht eine Minderheitenmeinung?

Da wächst eine Bewegung heran. Die amerikanische schwarze Musik hat dabei eine große Rolle gespielt. Da schwarze Identität international nicht mehr von Stereotypen geprägt ist, gibt es mehr Erfolgsgeschichten, mit denen sich die Menschen identifizieren können. Einen Stolz, sich mit unserer »Africanity« zu identifizieren. Vor allem in der Musik verschmelzen Marokko, Algerien, Tunesien und das subsaharische Afrika. Wenn ich mit einem senegalischen Musiker tunesische Rhythmen spiele, sagt er: »Oh, das ist eine Phrase«, also eine Tonfolge. Und dann spielt er einfach den Rest davon. Diese Tonfolge ist nämlich Teil eines größeren musikalischen Satzes. Ich habe in Workshops mit Musikern aus Ägypten, dem Irak, dem Libanon, Syrien und Aserbaidschan zusammengespielt, und es war schwieriger, mit ihnen zu jammen als mit afrikanischen Künstlern. Es gibt diese Kollektivität, die die afrikanische Musik ausmacht, was bei der Musik im arabischen Raum nicht der Fall ist, wo die Individualität wichtiger ist als die Verbundenheit. Das ist nicht unbedingt eine schlechte Sache.

 

Welche afrikanischen Musiker haben Sie am meisten beeinflusst?

Die malische Sängerin Oumou Sangaré. Als ich auf ihre Musik gestoßen bin, hat es mich umgehauen. Daneben beeindrucken mich Toumani Diabaté und Ballaké Sissoko, ebenfalls aus Mali. Außerhalb Afrikas würde ich sagen: Björk. Sie steht für mich für die Freiheit der Frau. Ihre Musik ist authentischer Ausdruck ohne Regeln. Dennoch spürt man, dass sie eine akribische Komponistin ist. Sie bekommt immer noch nicht genug Anerkennung für ihren Beitrag zur Musik. Kamilya Jubran hat auch einen großen Einfluss. Sie komponiert sehr schön, sehr experimentell. Und wenn sie anfängt zu singen, weiß man sofort: Sie ist Palästinenserin, und das liebe ich an ihr.

 

Wie steht es mit tunesischen Künstlern?

Aus der neuen Generation mag ich Gultrah Sound System, eine Reggae-Band. Ich glaube, sie sind die beste tunesische Band der letzten zehn Jahre.

 

Wann haben Sie beschlossen, selbst Musik zu machen?

Ich habe in einer Rockband namens »Black Angels« angefangen, da war ich etwa 17 Jahre alt. Wir haben Cover-Versionen von Pink Floyd gespielt. Das war cool. Ich konnte rebellische Sachen spielen und mich sexy verkleiden. Aber in Tunis war bei jedem Konzert die Polizei nie weit. Die Polizisten sagten einem dann, man solle aufhören, solche Dinge zu tun. Ich habe auch als Kind in einem Ma'luf-Chor gesungen. Der Ma'luf, eine traditionelle nordafrikanische Form der andalusischen klassischen Musik, ist in meiner Familie keineswegs so verwurzelt wie bei anderen Tunesiern. Ich habe Freunde, die aus Familien kommen, in denen zu Hause bei Hochzeiten eben dieser Ma'luf gesungen wird. Die Kollektivität des Chorgesangs war sehr interessant. Alle brachten auf eine eigene Art und Weise ihre Stimmen ein. Ich habe diesen Teil des Erbes meines Landes zu lieben gelernt, den ich vorher nur oberflächlich kannte.

 

»Ich bewunderte diesen Mut, aber es war schockierend, wie viele Rapper ins Gefängnis gesteckt wurden«

 

Wie sah die Untergrundszene in Tunesien aus, als Sie mit der Musik anfingen?

Die Gemeinschaft beschränkte sich auf wöchentliche Konzerte mit zwei- oder dreihundert Personen. So viele Leute dachten, wir seien subversiv, aber wir verließen uns auf die Intelligenz des Publikums, um unsere Botschaft zu vermitteln. Manchmal muss man jedoch innehalten und die Dinge so sagen, wie sie sind. Das fing vielleicht 2005 an, mit dem Auftauchen von Rappern in der Szene. Sie wurden von der Polizei festgenommen und verprügelt. Trotzdem sangen sie weiter: »Scheiß auf die Polizei, scheiß auf die Regierung, scheiß auf den Präsidenten, wir werden unterdrückt.« Ich bewunderte diesen Mut, aber es war schockierend, wie viele Rapper ins Gefängnis gesteckt wurden, darunter auch mein Bruder Khaled Bouhrizi. Er wurde verhaftet, weil er Marihuana bei sich hatte. Er saß sechs Jahre ein und wurde Opfer von Folter. Aber mittlerweile geht es ihm wieder gut, er ist draußen.

 

Was bedeutete es, unter dem Ben-Ali-Regime Musiker zu sein?

Unter Ben Ali fingen die Behörden an, nach kleinen Vergehen zu suchen. Drogen oder Alkohol. Trinken war nicht illegal. Aber wenn man betrunken erwischt wurde und sich dann beschwerte, bekam man Probleme. Ich werde hin und wieder immer noch von der Polizei angehalten, wenn ich mit einem Taxi nach Hause fahre und ein wenig betrunken bin. Was wollen die eigentlich von mir? Ich entgegne dann meistens, dass ich erwachsen bin, das Gesetz und meine Rechte kenne. Ich sage euch nicht, wohin ich fahre und gebe euch kein Geld. Normalerweise funktioniert das.

 

Wurden Sie jemals daran gehindert, Ihre Musik aufzuführen?

Die Polizei hat mir nie ein Auftrittsverbot erteilt. Nach den Streiks der Minenarbeiter in Gafsa 2008 spielte ich zwei Konzerte. Die Polizei kam in Jeeps angerauscht, um die Veranstaltung zu beenden. Danach begannen die Polzisten, Leute einzuschüchtern, um sie davon abzuhalten, solche Konzerte zu besuchen. Einmal sollte ich wieder in Tunis spielen. Aber die Organisatoren sagten ab, weil sie keine Genehmigung für die Veranstaltung erhielten. Ich nahm an, wegen mir. Und dann erhielt ich einmal, als ich in Paris war, eine Drohung. Das war wirklich beängstigend. Ich verstehe immer noch nicht, wie die an meine Nummer gekommen sind.

 

Wann war es wieder möglich, in Tunesien spielen?

Gleich nach der Revolution. Zwischen September 2008 und 2011 bin ich nicht mehr in Tunesien aufgetreten. Im Jahr 2011 spielte ich auch in Ägypten, relativ kurz nach der Revolution. Es war ein Jahr der Euphorie in der ganzen arabischen Welt, auch für diejenigen, die noch unter der Diktatur lebten. Heute dagegen fühlt es sich an, als hätten wir uns 20 Jahre zurückentwickelt.

 

»In Frankreich konnte ich auf der Straße rauchen. Ich bin um zwei Uhr morgens ohne Angst nach Hause gelaufen. Das ist in Tunesien nicht möglich«

 

Haben Sie Tunesien wegen der begrenzten Möglichkeiten für Musiker dort verlassen?

Ich habe Tunesien nicht verlassen, um Musikerin zu werden. Ich hatte genug davon, eine Frau in Tunesien zu sein. Ich wurde zum x-ten Mal von einem Typen in der Metro begrabscht. Und das möchte ich nicht – ist das denn zu viel verlangt? Ich sagte ihm, er solle aufhören. Er hat mich geschubst und versucht, mich zu schlagen. Ich schlug zurück. Dann haben mich die umstehenden Leute festgehalten. Dabei war ich hier das Opfer. In Frankreich konnte ich auf der Straße rauchen. Ich bin um zwei Uhr morgens ohne Angst nach Hause gelaufen. Das ist in Tunesien nicht möglich.

 

Nachdem Sie an beiden Orten gelebt haben, wie sehen Sie die Beziehung zwischen Tunesien und der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich?

Vor allem in Marokko entstehen Initiativen für einen stärkeren Austausch zwischen Nordafrika und dem subsaharischen Afrika. Denn um von Tunesien nach Mali zu fliegen, muss man einen Umweg über Frankreich nehmen. Vor allem nach der Revolution wurde mir bewusst, dass wir nie wirklich unabhängig waren. Und Frankreich verhält sich manchmal so, als ob wir immer noch eine Kolonie wären. Noch immer profitieren die Franzosen von ungleichen Abkommen, sie bekommen Güter wie Öl und Salz zu Spottpreisen. Das ist kein Handel. Das ist Kolonialismus. Wenn es um wichtige politische Angelegenheiten geht, statten einige unserer Parteiführer zuerst dem französischen Botschafter einen Besuch ab. Damit wir dorthin kommen, wo wir hinwollen, müssen wir zunächst diese Art der kolonialen Bande insbesondere zu Frankreich kappen.

 

Die tunesische »Kommission für Wahrheit und Würde« hat im vergangenen Jahr ihre Ergebnisse veröffentlicht. Wo steht Tunesien in punkto Aufarbeitung und Versöhnung heute?

Die Menschen müssen bereit sein, unterschiedliche Standpunkte zu akzeptieren. Dann ist Versöhnung möglich. In meinem Freundeskreis sind zum Beispiel ein paar Salafisten. Wenn man ihre Bärte sieht, bekommt man vielleicht erstmal einen Schreck. Aber wir reden und lachen zusammen. Manchmal rauche und trinke ich. Das Einzige, was wir nicht tun, ist, uns zu umarmen und zu küssen, aber wir streiten nicht die ganze Zeit. Allerdings ist jemand wie ich in Tunesien in der Minderheit. Wir sollten nicht vergessen, dass die Mehrheit der Menschen in diesem Land gläubige Muslime sind, aber keine Extremisten. Sie lieben die Musik. Sie gehen an den Strand. Einige meiner Tanten liegen tagsüber in Bikinis am Strand und gehen dann zum Beten. Journalisten und Künstler sind sichtbarer und lauter, aber das heißt nicht, dass wir wichtiger sind.

 

 

Ihre arabische Coverversion von Bob Marleys »War« dreht sich vor allem um soziale Ungerechtigkeit.

Soziale Ungerechtigkeit ist nicht nur ein Konzept, sondern etwas, das man jeden Tag mit eigenen Augen sehen kann. Man sieht Menschen, die 14 Stunden arbeiten und nicht einmal Geld für den Bus haben. Einigen meiner Familienmitglieder geht es so: Sie müssen jeden Tag fünf Kilometer zu Fuß gehen. Sie arbeiten in einer Fabrik, die nicht einmal einem Tunesier gehört. Irgendwie kehrt man immer zum Kolonisator zurück. Das Konzept der Zeitarbeit zum Beispiel wurde in den 1980er Jahren von französischen Investoren unter der Aufsicht von Ben Ali eingeführt. Zu welchem Preis? So vielen Menschen fehlt eine soziale Absicherung, die Vorsorge für den Ruhestand. Selbst Ingenieure und Ärzte verdienen nicht genug, um anständig zu leben. Eine Freundin von mir ist Kinderchirurgin. Sie möchte aber nicht in einer exklusiven Privatklinik arbeiten, und deswegen kann sie sich nicht einmal ein neues Auto leisten. Ich habe immer noch Hoffnung, denn immer mehr Menschen werden sich bewusst, dass die Ära des Neoliberalismus vorbei ist.

 

Lina Ben Mhenni, eine Aktivistin der ersten Stunde während der Revolution, starb im Februar. Sie kannten sie gut.

Sie war eine Freundin. Ich kannte sie seit 2008. Wenn die Menschen einmal fort sind, erkennt man, wer sie wirklich waren. Früher nannte sie niemand die »Stimme der Revolution«. Nun hat sie ein Staatsbegräbnis bekommen. Ich bin immer noch schockiert, dass sie nicht mehr da ist. Sie weigerte sich, sich außerhalb des Landes oder privat behandeln zu lassen. Sie bestand darauf, wie jeder andere tunesische Bürger in öffentlichen Krankenhäusern behandelt zu werden. In allem, was sie tat, hatte sie Integrität. Nicht nur die Linken waren traurig über ihren Tod.


Neysatu, 40, ist der Künstlername der tunesischen Sängerin und Liedermacherin Badiâa Bouhrizi. 2011 gewann sie für ihren Song »Ila Selma«, der auf einem Gedicht der palästinensischen Dichterin Fadwa Tuqan basiert, den Preis für das beste arabische alternative Lied des Arab Foundations Forum (AFF). 2019 wurde sie bei den »Aga Khan Music Awards« mit einem Sonderpreis für »gesellschaftliche Inklusion« ausgezeichnet. Ihre Alben »KahruMusiqa« und »Love/Revolt« erscheinen im Herbst 2020.

Von: 
Calum Humphreys

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