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Frankreich, die USA und der Islam

Mehr Säkularismus wagen

Essay
Frankreich, die USA und der Islam
Foto: Jacques Paquier / Wikimedia Commons

Warum das US-amerikanische Modell einen besseren Umgang mit dem Islam findet als die französische Laïcité – und wie Präsident Macron Frankreichs Säkularismus neu aufstellen könnte.

Ein französischer Gymnasiallehrer zeigt seiner Klasse Karikaturen des Propheten Muhammud, wenig später wird er am 16. Oktober von einem 18-jährigen muslimischen Flüchtling enthauptet. Der französische Präsident Emmanuel Macron spricht von einem »islamistischen Terroranschlag«.

 

Nach dem Charlie-Hebdo-Massaker 2015 und dem Attentat von Nizza 2016 ist der Mord der jüngste Angriff eines muslimischen Extremisten in Frankreich. Er ereignete sich zwei Wochen nach Macrons umstrittener Rede, in der er den Islam als »eine Religion, die heute weltweit in einer Krise steckt«, definierte.

 

Frankreich, das im 19. und 20. Jahrhundert viele muslimische Gebiete in Afrika und in der Levante, wie Algerien und Mali, als Kolonialmacht beherrschte, beheimatet die größte muslimische Minderheit Westeuropas: Sechs Millionen Menschen, das sind neun Prozent der Bevölkerung.

 

Die amerikanische Demokratie bietet bessere Möglichkeiten für die Integration verschiedener religiöser Gruppen.

 

In seiner Rede vom 2. Oktober skizzierte Macron einen Gesetzesvorschlag zur Bekämpfung des »islamistischen Separatismus«. Sollte im Parlament für das Gesetz gestimmt werden, würde es Heimunterricht für alle Kinder ab 3 Jahren verbieten und im Ausland ausgebildete Imame daran hindern, französische Moscheen zu führen. Das Ziel, so der Präsident, sei es, »in Frankreich einen Islam aufzubauen, der mit der Aufklärung vereinbar ist«.

 

Macron kommt zu dem Schluss, dass der Islam im Widerspruch zur modernen westlichen Gesellschaft stehe. Meine Forschung zum staatlichen Säkularismus und Religion zeigt jedoch, dass die Realität viel komplizierter ist.

 

Der französische Säkularismus, der sowohl von der progressiven Linken als auch von der islamfeindlichen Rechten begrüßt wird, geht weit über das amerikanische demokratische Konzept der Trennung von Religion und Staat hinaus. Die Laïcité verbannt im Wesentlichen religiöse Symbole aus öffentlichen Institutionen. Frankreich verbietet muslimischen Frauen in Schulen das Tragen von Kopftüchern, Gesichtsbedeckungen dürfen in der Öffentlichkeit nicht getragen werden. In den Vereinigten Staaten gibt es keine derartigen Verbote.

 

Sowohl in den USA als auch in Frankreich finden sich anhaltende Debatten über »islamischen Fundamentalismus« und »muslimische Terroristen«, auch islamfeindliche Ansichten finden in beiden Ländern gewisse Unterstützung. Dennoch bietet die amerikanische Demokratie bessere Möglichkeiten für die Integration verschiedener religiöser Gruppen.

 

In den USA wäre es schwierig, ein staatlich gefördertes Projekt zur »Erschaffung einer Art Aufklärungsislam« anzukündigen, wie Macron es tat.

 

In Frankreich definiert die Verfassung den Staat als säkular, Grenzen für diesen Säkularismus werden jedoch nicht gesetzt. Die USA hingegen schränken im Ersten Verfassungszusatz die Macht des säkularen Staates über Religion gezielt ein, indem vorgeschrieben wird, dass die Regierung weder eine Religion gründen noch die freie Ausübung einer Religion verbieten kann. In den Vereinigten Staaten wäre es schwierig, ein staatlich gefördertes Projekt zur »Erschaffung einer Art Aufklärungsislam« anzukündigen, wie Macron es tat.

 

Elf Jahre vor Macrons provokanten Äußerungen hielt US-Präsident Barack Obama 2009 in Kairo eine viel beachtete Rede über den Islam, in der er versuchte, die Beziehungen zwischen den USA und der muslimischen Welt neu zu gestalten.

 

Obama betonte den Beitrag der Muslime zur amerikanischen Gesellschaft und sagte: »Es ist wichtig, dass westliche Länder vermeiden, muslimische Bürger daran zu hindern, ihre Religion so auszuüben, wie sie es für richtig halten – zum Beispiel indem sie vorgeben, wie eine muslimische Frau sich kleiden soll.«

 

Obamas Rede spiegelte einen idealisierten amerikanischen Schmelztiegel wider, einen Ort, an dem mit Bindestrich geschriebene Identitäten wie muslimisch-amerikanisch üblich sind. Im französischen Säkularismus sind solche Identitäten nicht vorgesehen – es gibt nur französisch oder nicht-französisch.

 

Allzu oft äußert sich die Laïcité in einer mangelnden Bereitschaft, den religiös begründeten Forderungen der Muslime nachzukommen.

 

Angesichts der Herausforderungen der Migration und des Multikulturalismus stößt dieser rigide Säkularismus in Frankreich auch auf Kritik. Der Religionssoziologe Jean Baubérot zum Beispiel fordert stattdessen einen »pluralistischeren Säkularismus«, der verschiedene religiöse Symbole in öffentlichen Institutionen toleriert.

 

Tatsächlich hat Frankreich viele Ausnahmen für Katholiken zugelassen. Die Regierung stellt große Summen für private katholische Schulen zur Verfügung, die etwa ein Viertel aller Schüler ausbilden, auch sechs der elf offiziellen Feiertage in Frankreich sind katholische Feiertage.

 

Allzu oft äußert sich die Laïcité in einer mangelnden Bereitschaft, den religiös begründeten Forderungen der Muslime nachzukommen. Im Jahr 2015 verklagte eine muslimische Anwaltsorganisation eine Stadtverwaltung in der französischen Region Burgund, weil die sich weigerte, eine Alternative zu Schweinefleisch in öffentlichen Schulkantinen anzubieten. Das Gericht zwang die Stadt zum Einlenken. Aber nicht, weil die Schule die Religionsfreiheit verletzte, sondern weil die Speisekarte gegen die Rechte der Kinder verstieß.

 

Frankreichs grundlegendes Bekenntnis zur Gleichheit unter dem Gesetz verhindert ebenfalls eine sinnvolle gesellschaftliche Debatte über rassistische Diskriminierung. So werden bei Volkszählungen Informationen über die ethnische Herkunft nicht einmal erhoben. Obwohl Frankreichs größte Minderheit hauptsächlich aus nicht-weißen muslimischen Einwanderern aus seinen ehemaligen Kolonien in Afrika und deren Nachkommen besteht, nahm Macron in seiner Rede kaum Bezug auf das Erbe des französischen Kolonialismus.

 

Die »Krise«, mit der der Islam konfrontiert ist, liegt in den historischen und politischen Versäumnissen der muslimischen Welt, nicht der Religion selbst.

 

Abgesehen davon findet sich in Macrons Rede aber auch einen Funken Wahrheit. Doch die »Krise«, mit der der Islam konfrontiert ist, liegt in den historischen und politischen Versäumnissen der muslimischen Welt, nicht der Religion selbst.

 

Mein Buch »Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment« (2019) dokumentiert die in vielen muslimischen Ländern – wie Ägypten, Iran und Saudi-Arabien – langanhaltenden autoritären Regime sowie die chronische Unterentwicklung. 32 der 49 mehrheitlich muslimischen Länder der Welt haben Blasphemiegesetze; in sechs Ländern ist Blasphemie sogar ein Kapitalverbrechen.

 

Meine Forschung zeigt, dass solche Gesetze, die das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken, stärker in den Interessen des konservativen Klerus und der autoritären Herrscher verwurzelt sind als im islamischen Glauben. Sie widersprechen sogar mehreren Koranversen, die Muslime dazu auffordern, Menschen anderen Glaubens nichts aufzuzwingen oder Vergeltung an ihnen zu üben.

 

Dennoch nehmen es Extremisten in westlichen Ländern, in denen Muslime eine Minderheit sind, gelegentlich auf sich, diejenigen zu bestrafen, die ihrer Ansicht nach den Propheten Muhammad verspotten. Das verursachte weltweit Kontroversen über Cartoons und Filme. Gelegentlich führte es in Frankreich und anderswo zu einer inakzeptablen Reaktion: Mord.

 

Macrons Rede deutete darauf hin, dass der französische Präsident in Zukunft auf mehr Inklusivität setzen will.

 

Solche Morde, ob sie nun vom Staat oder von Einzelpersonen begangen werden, sind tragisch. Aber sie als ein rein religiöses Problem darzustellen, ignoriert die sozioökonomischen und politischen Ursprünge der islamischen Blasphemiegesetze und die antidemokratischen kulturellen Folgen des Autoritarismus in vielen muslimischen Ländern. Es übersieht auch die schwierige Realität, dass soziale Entfremdung ein grundlegender Faktor für die Radikalisierung einiger junger Muslime im Westen ist.

 

Macrons Rede deutete darauf hin, dass der französische Präsident in Zukunft auf mehr Inklusivität setzen will. »Ich möchte, dass Frankreich ein Land wird, in dem wir die Gedanken von Averreos und Ibn Khaldun lehren können«, behauptete der Präsident und bezog sich dabei auf zwei bedeutende muslimische Denker des 12. und 14. Jahrhunderts. Ihm schwebe ein Land vor, »dass sich im Studium der muslimischen Zivilisationen auszeichnet«.

 

Der Plural in »Zivilisationen« ist bedeutungsvoll. Er erkennt an, dass der Islam nicht monolithisch ist. Der französische Säkularismus ist es auch nicht. Beide sind komplexe Systeme mit unterschiedlichen Interpretationen.

 

In Wahrheit muss Macron nicht »einen Islam in Frankreich aufbauen, der mit der Aufklärung kompatibel ist«, denn den gibt es bereits. Ob der französische Säkularismus sich dem Islam anpassen kann, ist eine andere Frage.


Ahmet T. Kuru hält die »Bruce E. Porteous«-Professur für Politikwissenschaft an der San Diego State University. Dieser Artikel wurde zuerst auf Englisch auf The Conversation veröffentlicht.

Von: 
Ahmet T. Kuru

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