Nach zwei Jahren demokratischer Aufstände durchzieht den Jemen tiefgreifender Wandel – aber auch die Clan- und Machtpolitik. Ein nationaler Dialog könnte dem Land den Weg in eine bessere Zukunft weisen, meint Herta Däubler-Gmelin.
Der Jemen, das Land im Süden der Arabischen Halbinsel, ist wegen der politischen Auseinandersetzungen in Ägypten und Tunesien und aufgrund der blutigen letzten Zuckungen des Assad-Regimes in letzter Zeit ein wenig aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit geraten. Dabei hatte auch die Bevölkerung des Jemen ihren Arabischen Frühling, hat ihren alten, korrupten Herrscher 2011 mittels riesiger Demonstrationen nach Hause geschickt: Junge Leute, Frauen und viele andere aus der Bevölkerung haben den Langzeitpräsidenten Ali Abdullah Saleh – aller Gewalt seitens des Regimes zum Trotz – mit ihren Rufen nach Würde, Freiheit und einem besseren Leben schließlich zu Fall gebracht.
Würde, Freiheit und ein besseres Leben: Genau das wollen die Menschen auch heute. Allerdings hat der Jemen gegenwärtig mindestens zwei Gesichter. Dass sich das Parlament Ende 2011 auf Abed Rabbo Mansur Hadi als neuen Präsidenten einigte, obwohl er ja Stellvertreter des alten war, hat gezeigt, dass der Einfluss der konservativen arabischen Nachbarstaaten – die diesen Deal vermittelt hatten – und auch das Verlangen der alten Eliten starke Beharrungskräfte bilden, die sich dem von der Bevölkerung gewünschten Neuanfang entgegenstellen.
Somit steht auch der neue Präsident seit seiner Amtseinführung am 27. Februar 2012 unterschiedlichen, ja gegenläufigen Erwartungen gegenüber: Da sind die alten, immer noch machtvollen Eliten mit ihren Clanstrukturen, die sich mit Gewalt und Korruption Macht und Reichtum zugeschanzt haben. Die wollen sie behalten. An demokratischer Staatlichkeit und fairer Verteilung des Reichtums aus den Ressourcen des Landes haben sie kein Interesse. Die Bevölkerung des Jemen, gerade die jungen Menschen, die Frauen, die Mittelschicht, wollen dagegen Veränderung. Ihre Rufe sind klar und deutlich, ihre konkreten Forderungen sind es noch nicht. Bis sie machtvoll und einheitlich vorgetragen werden könne, werden noch viele Diskussionen und Kompromisse zwischen den unterschiedlichen Gruppen nötig sein.
Rüde Machtpolitik der arabischen Nachbarstaaten
Wie zerrissen das Land ist, sieht jeder, der durch die Hauptstadt Sanaa mit ihrer herrlichen Altstadt aus bemalten Lehmhäusern geht: Da gibt es viele junge Leute, die offen und modern auftreten, viele junge Frauen, die ganz offensichtlich die Ganzkörperverschleierung auf alte Art nicht mehr akzeptieren und Grenzen austesten. Daneben steht die traditionelle Männergesellschaft, die Frauen nur tief verschleiert akzeptiert. Allerdings beziehen mittlerweile auch so schwarz verschleierte Frauen in öffentlichen Veranstaltungen mit lauter Stimme und Mikrofon vor dem Mund Stellung – auch zu Frauenrechten.
Und die Herausgeberin einer wichtigen Tageszeitung, selbst tief religiös, sagt mir, dass sie »natürlich« keine Journalistin mit Gesichtsverschleierung einstellt, weil »Journalismus ohne Kommunikation nicht möglich ist«. Der Wandel in der Gesellschaft greift schon heute sehr tief. Aber auch heute rasen in halsbrecherischem Tempo Pick-ups der verschiedenen Macht- und Clangruppen mit jungen Männern und schussbereiten Kalaschnikows durch die Straßen Sanaas – und jeder lässt sie schnell durch, um nicht in irgendetwas Gefährliches hineingezogen zu werden.
Auch heute wird Ausländern trotz der liebenswürdigen und gastfreundlichen Menschen in Sanaa geraten, nur bestimmte Teile der Stadt zu besuchen. Die wunderschönen Täler des Hadramaut sind ebenso unerreichbar wie die eindrucksvollen Bergdörfer mit ihrer Jahrtausende alten Baukultur und ihrer Terrassenlandwirtschaft: Es drohen Entführungen zum Zweck der Erpressung von Lösegeld oder Regierungsentscheidungen für den Clan. Der Zentralstaat Jemen kann längst nicht überall Schutz bieten. S
elbst der Präsident kann seinen streng bewachten – allerdings weitläufigen – Privat-Compound nicht verlassen. Er regiert auch von dort und lässt sich gerade einen eigenen Brunnen bauen – weil er befürchtet, vergiftet zu werden. Er hat Mühe, sich die bisher von alten Machtgruppen abhängigen Sicherheitsorgane zu unterstellen. Nehmen Sie dazu die mit viel Geld und Waffen verbundene, rüde Machtpolitik der Nachbarn, meist Saudi-Arabiens, die nicht Stabilität, sondern Unruhe schafft.
Und den Zwiespalt zwischen dem südlichen und dem nördlichen Landesteil, der auf der Diskriminierung der Bewohner des Südjemen und auf der Ausbeutung seiner Ressourcen nicht etwa zum Nutzen der Infrastruktur, sondern zugunsten einiger korrupter Machteliten des Nordens beruht. Dann wird das Bild des heutigen Jemen und die Komplexität der Herausforderungen langsam deutlich.
Auch die Bundesregierung steht in der Pflicht
Nun soll – unter dem Einfluss der sogenannten Golfstaaten-Initiative, bei der auch EU-Staaten sowie die USA mitwirken – ein »nationaler Dialog« wirksame Schritte für Sicherheit, Einheit, Transparenz von Macht und Ressourcen, Fairness bei der Behandlung von Nord- und Südjemen und nicht zuletzt die Sicherung von Menschenrechten, von Freiheit und Würde, auch von Rechten der Frauen bringen. Und Lebenschancen für die jungen Leute. Die technische Vorbereitung dafür ist nahezu abgeschlossen. Das ist ein erster großer Erfolg.
Noch größer allerdings sind die Erwartungen an den nationalen Dialog – aber immer noch ist unklar, ob die Vertreter des südlichen Jemen mitmachen werden und ob der Präsident endlich die dafür erforderlichen, heiß ersehnten Aussöhnungsschritte wagt. Unklar ist auch, ob junge Menschen und Frauen, ob Vertreter der Zivilgesellschaft in ausreichendem Umfang an den Beratungen und Entscheidungen teilhaben werden. Oder ob die Vertreter der alten Eliten doch wieder ihre Machtpositionen durchsetzen.
Ich habe, vor allem in den von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sanaa veranstalteten Konferenzen und Gesprächen, außerordentlich viele kluge, mutige und zu Kompromissen bereite Menschen und Gruppen getroffen. Es wäre ein Unglück, wenn sie wieder in die Resignation zurückgestoßen und nicht an der Entscheidung über die Zukunft ihres Landes beteiligt würden. Der Jemen könnte es anders machen als viele Länder der Region – das wäre ein Gewinn nicht nur für das Land, sondern für ganz Arabien.
Damit dies gelingen kann, muss die Internationale Gemeinschaft allerdings all ihren Einfluss zur Stärkung der Menschen dort und ihrer Ziele geltend machen und sich gleichzeitig mit Deutlichkeit gegen die Einmischung machtvoller Nachbarn einsetzen. Dabei steht auch die Bundesregierung mit ihrer unverantwortlichen Waffenexportpolitik in der Pflicht.
Herta Däubler-Gmelin,
war von 1972 bis 2009 Abgeordnete des Deutschen Bundestags und von 1998 bis 2002 Bundesministerin der Justiz. Schon als Abgeordnete hat sie NGOs und entstehende Nationalversammlungen in zahlreichen Ländern Afrikas und Asiens in Verfassungs- und Menschenrechtsfragen beraten. Seit Beginn des Arabischen Frühlings setzt sie diese Tätigkeit verstärkt in arabischen Ländern fort.