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Rückkehr nach Iran

Das Land der möglichen Unmöglichkeiten

Essay

Sina Kamani reist zurück in seine iranische Heimat und stellt fest: Zwanzig Jahre verändern vieles: die Erinnerung, die Wahrnehmung, das Selbst.

Nach etwa 20 Jahren komme ich wieder für längere Zeit in die Stadt zurück, in der ich geboren und aufgewachsen bin: Teheran. Die Hauptstadt Irans seit 1789. Zwei Dynastien haben hier residiert und seit 33 Jahren hat hier das erste nichtmonarchische Staatskonstrukt seinen Sitz: Die Islamische Republik Iran. Ich weiß überhaupt nicht, wie viele Komponenten ich mit berücksichtigen muss. Was hat jetzt Vorrang? Die emotionale oder die sozial-politische Komponente? Es ist ein durchmischtes Gefühl für jemanden, der niemals aufhören konnte, trotz der Auswanderung und langjährigen Lebens und Studierens in Deutschland, sich mit seinem Herkunftsland zu beschäftigen. Der iranische Exilautor Said schreibt, dass die Kindheit eine Schatzkammer der Erinnerung sei.

 

Die Kindheitserinnerungen werden beim Exilierten konserviert für den Tag der Rückkehr, samt der Gerüche und Farben und Geräusche. Und er hat recht. Die schönsten Erinnerungen würde ich auch in der Kindheit ansiedeln. In Deutschland habe ich immer wieder von dem Haus geträumt, wo ich aufgewachsen bin. Ich habe von meinen Schulfreunden geträumt. Ich habe von meinem Zimmer geträumt und dem Keller, wo ich die Minifußballtore und den gestreiften Plastikfußball stehen lassen habe. Und in den letzten 20 Jahren bin ich überall gewesen. In London, Paris, Stockholm, Budapest, Istanbul, Belgrad. Irgendwann habe ich mir auch die deutsche Urlaubskultur angewöhnt und 6 Monate davor rechtzeitig gebucht!

 

Bis heute sind jedoch meine schönsten Urlaubserinnerungen die zwei Reisen in den Nordiran ans Kaspische Meer mit meiner Familie, an die ich mich gerne erinnere. 1987 und 1988. Im letzten Kriegsjahr und ein Monat nach dem Ende des achtjährigen Krieges gegen den Irak. Die Revolution habe ich nicht gesehen, aber ich weiß noch, wie wir in den letzten Kriegsmonaten täglich mehrmals in die Bunker geflohen sind, als Saddam angefangen hatte, Teheran mit Langstreckenraketen zu beschießen. Wie wir in der Schule »Tod  Amerika« riefen und unser Schuldirektor selbst die US-Flagge anzündete und rief: »Der Persische Golf wird das Grab von Reagan sein.« Es reimte sich auf Persisch und wir brüllten diese Parole nach. Es ist 23 Jahre her.

 

Ich erinnerte mich an die Schneeschlachten, an unsere Nachbarn, an meinen jüdischen Freund

 

Auf Geburtstagsparties taten wir so, als ob wir wie Michael Jackson tanzen könnten, in den drei Sommerferienmonaten spielten wir bei 40 Grad Hitze Fußball und wir dachten, wir wären selbst Pele oder Maradona. Ich erinnerte mich an die Schneeschlachten, an unsere Nachbarn, an meinen jüdischen Freund, den ich dank Facebook leider in Israel finden musste. Ich hätte ihn gerne wiedergesehen. Andere fand ich auch bei Facebook, ich fand sie alle dort. Im Gegensatz zu Said bin ich jedoch kein Exilierter. Ich habe meinen iranischen Pass und ich bin sehr glücklich, dass ich nach Iran fahren kann. Also merkte ich im Flugzeug, dass die persönliche und emotionale Komponente eindeutig dominiert.

 

Aber bei der Ankunft in Iran stellt man umso eindeutiger fest, dass keine Domäne, selbst die privateste, von der politischen unberührt bleibt. Ja, das Regime schränkt die Freiheiten in vielen Bereichen ein. In den letzten 33 Jahren haben wir die Unterdrückung von Demonstrationen und Massenhinrichtungen erlebt. Wir haben in Iran ein Kopftuchgebot und Alkohol ist verboten. Das wissen wir alle und es stimmt auch. Aber Iran bleibt weiterhin ein Rätsel für alle. Ein Hochkulturland mit einem übertriebenen Nationalismus. Das einzig mehrheitlich schiitische Land auf der Welt mit einem sehr großen säkularen Bevölkerungsanteil, aber auch einem nach wie vor sehr großen durch und durch traditionellen und religiösen Bevölkerungsanteil.

 

In den ersten Tagen verstärkt sich das Glücksgefühl, in Iran zu sein. Ich besuche zuerst alle meinen Verwandten und ich unterhalte sie mit Anekdoten aus Deutschland, wir trinken 25 Tassen Tee pro Tag und ich esse kiloweise Orangen und Granatäpfel, bis das richtige Essen kommt. 5 Kilo nehme ich nur in 10 Tagen zu. Ich habe keinen Führerschein und selbst im chaotischen Autoverkehr, wo ganz andere Gesetze herrschen, würde ich mich nicht trauen, Auto zu fahren. Mein Vater empfiehlt mir, einfach ein Taxi zu bestellen, egal wo ich hinfahren will. Ein so gennantes Privattaxi, was nur mich mitnimmt. Ich entscheide mich jedoch mit den Buslinien, Sammeltaxen und der U-Bahn zu fahren, um mit Menschen mehr im Kontakt zu sein.

 

Und ich liebe das Gefühl, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Teheran ist riesig und es gibt immer Stau. Deswegen haben alle Zeit, um über ihr Leben in Taxen und Bussen zu plaudern. Meistens herrscht ein anfängliches Schweigen, eigentlich erlebe ich die Menschen als sehr ruhig und fast müde. Müde, melancholische Gesichter, nachdenklich wirken sie auf mich. Es reicht jedoch, wenn nur einer etwas sagt und daraus entwickelt sich so etwas wie eine öffentliche Talkshow. Und die Logik der Gesprächsthemen ist meistens sehr anarchisch. Man erzählt sehr sprunghaft und redet mal offen und mal in Andeutungen. Die Ironie und der Zynismus in Iran schimmert überall durch.

 

Man muss sich jedoch länger mit Menschen beschäftigen, um zu erfahren, wer was ernst oder spaßig meint! Das ist mein Hauptproblem gewesen. Man weiß es manchmal nicht, denn der Perser variiert meistens nicht seinen Ton, er redet trocken und versteift, selbst wenn er etwas ironisch meint, um nicht viel Energie zu verbrauchen. Ich fahre das erste Mal in Teheran mit der Metro. Ich bin erstaunt, wie gut und sauber die Unterführungen gebaut sind und wie neu die Wagen sind. In den Unterführungen stehen manchmal Privatinternetanbieter und werben um Kunden. Bei uns zu Hause ist die Verbindung noch sehr langsam. Ich kann gerade meine Mails lesen und beantworten.

 

Ich verfüge auch noch nicht über Antifilterprogramme. Also kann ich zum Beispiel Facebook nicht aufrufen. Youtube natürlich auch nicht. Ich gehe in Internetcafés, wenn ich schneller recherchieren will und ich sehe, dass fast alle dort vor ihrem Facebook-Profil sitzen. Ich gebe auch die Seite ein, es erscheint jedoch das berühmte »access denied«-Fensterchen. Also spreche ich den Besitzer darauf an, warum ich das nicht darf, während alle gerade ihre letzten Partyfotos genüsslich hochladen! Er kommt lächelnd auf mich zu und geht auf die Netzwerkverbindungen, sucht eine andere Netzverbindung aus, gibt ein Passwort ein und so habe ich erst Zugang. Lächerlich, aber wahr. Iran ist das Land der möglichen Unmöglichkeiten.

 

Die Hauptfeindbilder Israel und Amerika werden nach wie vor gepflegt

 

Ich denke, wenn man lange im Ausland gewesen ist und daran gewöhnt ist, in den Medien das Bild über ein Land vermittelt zu bekommen, dass bald mit Nuklearwaffen den Rest der Welt auslöschen will, hat man keine gute Basis, um sich auf etwas einzulassen. Außerdem langweilen mich die abgedroschenen oppositionellen Parolen im Ausland. Ich finde die Kritik nicht abgedroschen, sie ist teilweise berechtigt. Sie übersehen jedoch die eindeutige Macht des Systems, was alles andere als ungefestigt ist und – ob wir es wollen oder nicht – über eine Basis in der Bevölkerung verfügt. Die Bewegung nach den Wahlen im Juni 2009 hat nicht landesweit durchgreifen können und das Land war weit entfernt von einer vergleichbaren Situation wie etwa 1978/1979.

 

Die Führer der grünen Bewegung waren nicht in der Lage, die Massen zu mobilisieren, abgesehen davon, dass sie auch die breiten Massen nicht hinter sich wussten. Zurück aber erstmal zum heutigen Bild in Teheran. Als ich in Teheran ankam, fand die die »Woche des Andenkens an den achtjährigen Krieg« statt. Überall hingen an den Straßenlaternen die Bilder der im Krieg Gefallenen. Jeden Tag wurden im Fernsehen Dokumentationen gezeigt. Die Porträts wurden nach einigen Tagen abgehängt, jedoch sieht man an vielen Straßenmauern in der Stadt die Bemalungen mit den Gesichtern der Märtyrer. Es ist ein omnipräsentes Element in der Stadt. Überhaupt vergeht in den Medien kein Tag, an dem man nicht über die letzten »unbegründeten« Drohungen des »Westens« spricht.

 

Die Hauptfeindbilder Israel und Amerika werden nach wie vor gepflegt. Neben der islamisch gefärbten Rhetorik kommt jetzt eine eindeutig nationalistische Komponente in der Propaganda hinzu. In Teheran stellt man eine deutliche Zunahme  iranischer Flaggen auf öffentlichen Plätzen fest und Ahmadinejad redet öfter von der glorreichen iranischen Zivilisation, verweist also auf das Erbe der iranischen Antike, was noch vor einigen Jahren sehr verpönt war, da in der offiziellen Doktrin der Islamischen Republik der Islam, die Umma, Vorrang vor der Nation besaß. Es ist eine Mischung aus Schiismus und iranischen Patriotismus. Alle paar Tage ist das Fernsehprogramm vollgepackt mit Sendungen über irgendeinen schiitischen Imam.

 

Entweder ist das der Geburtstag oder der Todestag eines der zwölf schiitischen Imame. Ich habe weder die Wahl von Khatami erlebt noch seinen Abgang. Mit seiner Wahl 1997 hat Iran eine vorsichtige kulturelle Öffnung erlebt. Die Razzien der Sittenwächter nahmen ab und eine iranische Popmusikszene ist entstanden, während davor offiziell nur traditionelle Musik zugelassen war. Heute hört man diese diese Musiker überall und die Zeiten sind vorbei, als man sich die Kassetten der nach Los Angeles geflohenen Musiker der Schahzeit noch auf dem Schwarzmarkt besorgen musste. Sie sind jetzt alle um 60, nach wie vor bekannt und beliebt, aber die jüngeren Leute konsumieren genauso viel die »inneriranische« Musik. Überall sehe ich Paare Händchen haltend spazieren gehen und ich muss mich an die Razzien in den 1980ern und 1990ern erinnern, als die Sittenwächter ständig die Paare angehalten und gefragt haben, in welchem Verwandtschaftsverhältnis sie zueinander stehen....

 

Wiedersehen in Moe`s Taverne

 

Neulich war ich mit Ali unterwegs. Zuerst in einem kleinen Cafe, dann in seinem Auto durch den nervigen Stau durch Teheran. Er erzählt von seinen Frauengeschichten. Irgendwie kann ich es mir nicht so richtig bei ihm vorstellen. Aber warum nicht? Casanova, ganz unscheinbar. Arbeitet in einem Rechtsberatungsbüro. Spätabends fahren wir zu einem Imbiss mit vier Sitzplätzen. Über dem Tresen ist ein Zeitungsartikel des Blattes Sharq eingerahmt, der diesen Laden rühmt: »Klein, aber herzliche Bedienung. Wenn der Koch dich nicht mag, dann kriegst du auch kein Essen.« Er bietet iranisches Essen, aber auch Steaks und Sandwiches an. Leute, meistens zu zweit, stehen draußen, bis zwei Hocker frei werden.

 

Der Koch sieht aus wie Moe von den Simpsons. Alle Leute, die reinkommen, kennen ihn. Er scherzt mit ihnen herum, plaudert, jammert, wie alle Iraner über die wirtschaftliche Situation jammern, alle bestätigen ihn. Er ist direkt und ein bisschen zynisch. Das ist das Konzept des Ladens: wir sind nicht künstlich freundlich zu den Kunden, um Trinkgeld zu kriegen. Wir achten auf die familiäre Atmosphäre und servieren auch nicht jedem etwas! Ich finde es schlau, denn es spricht sich herum, Leute kommen vorbei und er hat seine Stammkunden sicher. Mit Ali fahre ich in unser altes Viertel, in dem ich großgeworden bin: Amirabad. Unser ehemaliges Haus ist abgerissen worden, stattdessen steht dort ein vierstöckiges Haus, wo einmal unser Wohnzimmer war, stehen jetzt Autos, es ist das Parkhaus.

 

Der kleine Garten ist mehr verkleinert worden. Nur der Khormalubaum steht noch prachtvoll an seinem alten Platz. Das Tor der Amir-Moschee ist verriegelt, unsere Fußballstraße ist zu einem Boulevard geworden, überall stehen statt der niedrigen jetzt mehrstöckige Häuser. Ich rauche die ganze Zeit – das heißt, ich fühle mich wohl bei jemandem (!) – und freue mich, mit Ali unterwegs zu sein. Das Gespräch ist ziemlich flach, wir machen nur Witze. Ständig simst ihm ein Mädchen irgendwelche Shariati-Zitate, worauf er keine Antwort weiß. Wir lachen darüber und überlegen uns schmutzige Antworten, die wir aber nicht verschicken.

 

Holen wir doch die Minifußballtore aus dem Keller und lasst uns eine Runde kicken!

 

Einige Tage später organisiert Ali ein Treffen zusammen mit anderen ehemaligen Schulfreunden. Wir haben alle in Amirabad gewohnt. Wir haben uns ständig gegenseitig besucht und nach der Schule auch fast alles zusammen unternommen. Deswegen lebt der Abend von den Erinnerungen an der Schulzeit, an den pädophilen Sportlehrer, der uns ständig angrabbeln wollte, an den Physiklehrer, der ständig Ohrfeigen austeilte und über den ich erst jetzt erfahre, dass er im Krieg gewesen und psychisch geschädigt worden sei. Sie konnten noch sagen, was damals meine Lieblingswörter waren, wie ich sie begrüßt habe. Ich konnte mich jedoch am besten an Details erinnern.

 

Im Ausland wiederholt man die Erinnerungen an die Heimat öfter als jemand, der dort lebt und keinen räumlichen Schnitt erfahren hat. Die Normalität des Alltags überschattet das Gewicht der Vergangenheit. Im Gegenteil mutieren in der Fremde die Erinnerungen an die Heimat zu einem Reich des Vertrauten. Man lebt mit diesen Erinnerungen und beschützt sie, man passt mehr auf, dass sie nicht vergessen werden. Sie erlangen einen besonderen Status. Meine Freunde sitzen jedenfalls plötzlich da und sie haben ihre Frauen mitgebracht. Sie siezen mich nach iranischem Brauch. Immerhin sind die ehemaligen Freunde jetzt alle über dreißig!

 

Ich sehe sie, wie sie vor mir stehen. Kleine Jungs, die plötzlich einen dicken Schnurrbart tragen, starken schwarzen Tee nach dem Kebab trinken und über die Börse reden! Das muss ich erstmal verdauen. Denn der Film war vor etwa 20 Jahren da abgebrochen, als einer von ihnen heulend nach Hause gegangen war, weil er sich beim Fußballspielen den Ellbogen verletzt hatte und wir ihn Muttersöhnchen nannten. Der andere war in meinem Gedächtnis so fixiert, dass ich am letzten Schultag hundertprozentig überzeugt war, er hätte mir etwas Geld aus meiner Hosentasche geklaut, ohne dass ich es gemerkt hätte. Es war seine Masche, er nahm einem etwas weg und gab es plötzlich einem zurück, mit der Frage, ob man nicht etwas vermisse.

 

Ich war jedoch mir sicher, dass er es weggenommen hatte und es sich diesmal wirklich ein bisschen verscherzt hatte. Als ich ihn neulich sah, redete er darüber, dass er gerade als Maschinenbauer mit seinem Team eine Turbine konstruiert. Ich wollte ihn fragen: gibst du es mir endlich zurück oder nicht?!!! Erst jetzt, bei jedem weiteren Treffen, erkenne ich an, dass sie älter geworden sind, dass sie tatsächlich Hochzeiten gefeiert haben! Es kommt mir so absurd vor, dass 20 Jahre vergangen sind und ich plötzlich da bin, als ob ich nie weg gewesen wäre und nun wir machen unsere Scherze und tragen Anzüge! Ich will die ganze Zeit sagen: Jungs, wir haben uns doch alle verkleidet! Lassen wir es lieber sein!

 

Holen wir doch die Minifußballtore aus dem Keller und lasst uns eine Runde kicken! Pele hatte einen besseren Stil als Maradona oder nicht?!! Als wir im Restaurant bezahlen wollen, wobei fast eine Prügelei entsteht, wer zahlen darf und wer nicht und das Ganze etwa 20 Minuten dauert, als wir endlich gehen, frage ich, wo eigentlich die Fußballtore geblieben sind, die wir selbst gebastelt hatten. Ali sagt: du hast sie doch uns gegeben, bevor du weg gegangen bist, die gibt es noch! Wir gehen nächsten Freitag in den Stadtpark und spielen da eine Runde, kommst du mit?

 

Normalität per Proxy-Server

 

Sieben von neun Wohnungen in unserem Haus besitzen eine Satellitenschüssel. Sie sind eigentlich verboten. In den 1980ern waren sogar Videorekorder verboten, Schachspielen und Boxen! Die Gesellschaft geht mit den technischen Erneuerungen mit. Es wäre lächerlich gewesen, das Verbot des Videorekorders aufrechtzuerhalten, wobei fast jeder so etwas zu Hause besaß. Heute laden alle ihre Filme einfach herunter und umgehen die Internetfilter mit Proxy-Servern. Die Regierung hat einen zwiespältigen Bezug zu den medialen Fortschritten. Einerseits wird das Internet von allen staatlichen Organen benutzt. Der Revolutionsführer hat eine eigene Website wie auch Präsident Ahmadinejad.

 

Alle Ministerin und Ämter haben ihre Formulare online zur Verfügung gestellt. Die Steuererklärung kann auch online gemacht werden. Der Zugang zu zwei Bereichen im virtuellen Netzwerk wird jedoch unterbunden. Zu vielen ausländischen Nachrichtenagenturen, vor allem persischsprachigen Nachrichtenseiten, die als regimefeindlich eingestuft werden, und zu den pornografischen Seiten. Satellitenschüsseln sind offiziell verboten, aber werden geduldet. Manchmal wird auch verkündet, dass die Polizei eine neue Razzia zum Beschlagnahmen der Schüssel starten wird. Es ist immer die Rede von der kulturellen Invasion des Westens, was gestoppt werden muss.

 

Die Regierung betreibt jedoch selbst Satellitenkanäle, die ausgestrahlt werden und in Europa und Amerika ebenfalls empfangen werden können. In den ersten Wochen konsumiere ich jedoch absichtlich nur das Staatsfernsehen, dessen Leiter vom Revolutionsführer persönlich bestimmt und eingesetzt wird. Etwa acht Sender hat das iranische Fernsehen. Neben den einheimischen Serien und amerikanischen Filmen, die in zensierter Version gezeigt werden, laufen pausenlos Sendungen über islamisches Recht, islamische Führung der Gesellschaft, Gespräche mit Geistlichen über Familie und Beruf. In den Nachrichten dominieren die Berichte über die Occupy-Bewegung, was das Auseinanderfallen des kapitalistischen Systems und die Unterdrückung der Bevölkerungen durch die repressiven 1 Prozent bezeugen soll.

 

Vor allem Zahlen über Tote und Verletzte werden besonders betont um zu zeigen, dass das Gerede von Demokratie in den westlichen Gesellschaften bloß hohle Phrasen seien und deren Regierungen – im Gegensatz zur Islamischen Republik – über keine Basis in der Bevölkerung verfügten! Die antiisraelische Rhetorik hat nach wie vor einen festen Bestandteil in den Nachrichten. Die Bewegungen in der arabischen Welt werden als Islamisierung des Nahen Ostens nach dem Vorbild der islamischen Revolution von 1979 gepriesen. Man wolle endlich den hegemonialen Bestrebungen des Westens im ölreichen Nahen Osten ein Ende setzen. Die Regierung sieht sich im Kampf gegen die bestehende Weltordnung, die solche Werte wie Demokratie und Menschenrechte instrumentalisiere, um überall Macht ausüben und ihre Herrschaft ausbreiten zu können.

 

Der Fotograf, die Whisky-Flasche und die brennenden Autoreifen

 

Die Tumulte nach den Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 und die massive Unterdrückung der grünen Bewegung ist ein Thema, das mich im Gespräch mit den Freunden brennend interessiert. Ein Freund erzählte mir die folgende Geschichte, die ich als symptomatisch für die Situation in Iran empfinde. Sein Bekannter, ein Fotograf, war im Juni 2009 bei den Demonstrationen dabei und machte Bilder von den Straßenszenen. Er fotografierte die stürmenden Basij-Milizen, die vor dem Tränengas weglaufenden Massen und die brennenden Mülltonnen und Autoreifen. Plötzlich spricht ihn ein Polizist an und bittet ihn mitzukommen. Der Fotograf fürchtet um seine Kamera und denkt, dass er sie niemals wiedersehen wird.

 

Dann denkt er an die Haft, die ihm angedroht werden könnte. Auf der Polizeiwache werden seine Befürchtungen größer und er bekommt große Panik, da er sich erinnert, dass er am Abend davor mit seinen Freunden eine kleine Party gefeiert hatte. Sie sitzen alle vor einem Tisch mit ihren Whiskygläsern, die Frauen alle unverschleiert. Der Fotograf hatte seine Kamera in eine Ecke platziert und den Automatik-Modus eingestellt, damit er sich mit seinen Freunden fotografieren lässt, die Kamera schießt mehrere Fotos hintereinander. Auf der Wache beginnt der Polizist sich die Fotos anzuschauen. Er schaut sich zuerst kopfschüttelnd die vielen gemachten Fotos von der Demonstration an, bis die Fotos von der Party an die Reihe kommen. Sein Kopfschütteln verwandelt sich in ein breites Grinsen.

 

Der Fotograf ist stark verunsichert. Der Polizist sagt zu ihm: Du kannst alle Bilder löschen bis auf deine Partyfotos und dann gehst du nach Hause. Er fügt hinzu: »Pass auf Jungchen, hier kannst du – bei dir zu Hause – so viele Parties feiern, wie du möchtest. Du kannst so viel trinken, bis du ohnmächtig wirst, meinetwegen könnt ihr auch derbe Orgien feiern, das geht uns nichts an! Aber diese Bilder von den brennenden Autoreifen lässt du am liebsten in der Zukunft!« Die Regierung steckt in einer Zwickmühle. Über Zwei Drittel der Bevölkerung in Iran sind unter 30. Einerseits setzt die Regierung gelegentlich die Jagd auf schlecht verschleierte Frauen in der Öffentlichkeit oder auf Satellitenschüsseln fort, andererseits hat sie den Druck massiv heruntergeschraubt und die Jugendlichen sind in ihrem Konsumverhalten unbedrängter. Die Menschen wissen, dass die Regierung weiß, dass sie Sachen machen, die eigentlich verboten sind und die Regierung weiß, dass die Menschen Sachen machen, die sie eigentlich nicht tun dürfen.

 

Die Umgehung der Internetfilter, die öffentlichen Verabredungen, die Veranstaltung von Parties und Konsum von Alkohol und anderen Drogen wird von der Regierung nicht mehr stark reglementiert. Die politische Domäne ist jedoch von der Regierung vollkommen konfisziert worden. Die so genannten Reformer, die eigentlich zu den Begründern der Islamischen Republik gehörten, sind isoliert worden, man betreibt eine Islamisierung der Universitäten und die Richtlinien für die Veröffentlichung von Büchern variieren von heute auf morgen auf eine sehr willkürliche Art und Weise.

 

Iran ist eines der widersprüchlichsten Länder auf der Welt. Der Bau von teueren Hotels, der Betrieb von Restaurants, die wie McDonalds oder KFC aussehen, jedoch nicht so heißen, sowie von Cafés, die eine Imitation von Starbucks und Balzac sind, aber dies gut zu tarnen wissen. Darin sehe ich einen wichtigen Wesenszug in der heutigen iranischen Gesellschaft: sich als etwas anderes ausgeben, als was man wirklich ist. Das Überleben hängt von dieser einzigen Kunst ab: Simulieren, verbergen können, Täuschung. Die Reformbewegung ist die Simulation einer Opposition gewesen, deren Spielregeln das System selbst bestimmt hat. Die Reformbewegung hat irrtümlicherweise an ihr Täuschungspotential geglaubt.

Von: 
Sina Kamani

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