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Proteste in Eskisehir in der Türkei

Mit dem Vorschlaghammer gegen den Vertrauensverlust

Feature

Die Allianz gegen Polizei und Regierung ist ebenso breit wie brüchig. Die AKP wiederum ist auf Erdogan angewiesen. Doch je länger der Protest andauert, desto mehr droht der Rückhalt für den Premier in den eigenen Reihen zu bröckeln.

Um 21 Uhr geht das Klappern los. In den Städten der Türkei öffnen sich die Fenster und die Menschen trommeln mit Holzlöffeln auf Töpfe und Pfannen ein. Kreative Ideen wie diese verbreiten sich sekundenschnell über Twitter und Facebook. Eine Gruppe schlägt vor, jeden Montag als Zeichen des Protestes schwarz zu tragen; andere wollen um Mitternacht aus allen Wohnungen die Nationalhymne erklingen lassen. Überall in den Städten gibt es Graffitis, die Sprüche auf Reklametafeln werden in Aussagen gegen Erdogan umgesprüht. Und dann gibt es noch eine andere, weniger lustige Seite des Protests, die schon zwei Tote und über 1.000 Verletzte, einige davon in kritischem Zustand, forderte. Nicht nur in Istanbul und Ankara, sondern auch in Bodrum, Antalya, Eskisehir und vielen anderen Städten der Türkei gehen die Leute auf die Straße.

 

Laut Innenminister Güler kam es in den vergangenen Tagen in knapp 70 Städten zu Protesten, darunter auch in Konya, der Hochburg der AKP. Genau wie die Besetzung des Istanbuler Gezi-Parks durch wenige Naturschützer vor gut einer Woche beginnen viele der Proteste friedlich. Junge und Alte, Familien mit Kinderwagen, vor allem aber Studenten ziehen durch die Städte. Wer nicht mehr gut zu Fuß ist, steht am Fenster, klatscht und winkt und schwenkt die türkische Fahne. Die Demonstranten rufen: »Erdogan tritt zurück! Überall ist Taksim! Erdogan, Diktator!« Immer wieder versuchen die Demonstranten, vor die lokalen AKP-Zentralen zu ziehen. Immer wieder werden sie von der Polizei aufgehalten, mit Tränengas und Wasserwerfern. Inzwischen sind aber viele mit Augentropfen gegen das Tränengas gut ausgerüstet, Mund- und Nasenschutzmasken werden in zahlreichen Apotheken umsonst verteilt.

 

Bei Einbruch der Dunkelheit ziehen sich viele Demonstranten zurück, denn dann werden die Straßenschlachten mit der Polizei besonders heftig. Überwiegend Studenten spielen bis in die frühen Morgenstunden Katz und Maus mit der Polizei. Die Fenster bleiben nun lieber zu, überall in der Luft hängt Tränengas. Geschlafen wird in diesen Tagen wenig. Alle sitzen bis spät nachts vor dem Fernseher oder aktualisieren im Minutentakt ihre Facebook-Seiten. Die Stimmung ist angespannt, alle warten darauf, dass etwas passiert. Auf was genau, ist unklar.

 

Gute Vorsätze sind in der Türkei immer wieder an autoritären Strukturen gescheitert

 

Das liegt auch daran, dass die Protest-Bewegung extrem gespalten ist. Zwar rufen die Demonstranten immer wieder Parolen wie »Zusammen siegen wir, zusammen sind wir stark«. Fakt ist jedoch, die politischen Ziele der Gruppen könnten unterschiedlicher nicht sein. Da engagieren sich Kurden neben Ultranationalisten und Kemalisten, Naturschützer und Linksextreme neben muslimischen Familienvätern. Was einem in Deutschland normal vorzukommen scheint, kommt in der Türkei einer kleinen Revolution gleich: Auch die extrem verfeindeten Fanclubs der Istanbuler Fußballclubs Besiktas, Galatasaray und Fenerbahce, zwischen denen es sonst nach jedem Spiel zu Straßenschlachten kommt, protestieren solidarisch.  Die Frage ist jedoch, wie lange dieser Frieden hält, zu unterschiedlich sind die Interessen.

 

Die zwei größten Oppositionsparteien der Türkei, die kemalistische CHP und die ultranationalistische MHP, hatten die kurdische Friedensinitiative der AKP bis vor kurzem noch aufs Heftigste kritisiert. Nun demonstrieren sie gemeinsam mit kurdischen Verbänden für eine bessere Türkei. Offener soll sie sein und pluralistischer. Fakt ist aber, dass in der Geschichte der Türkei diese guten Vorsätze immer wieder an autoritären Strukturen gescheitert sind. Die Kemalisten, die jetzt gegen Erdogan marschieren, verschweigen, dass Staatsgründer Atatürk bei seinen »Reformen« nicht immer sensibel vorging. Die Ultranationalisten, die nun Pluralismus einfordern, würden das Wort »Kurde« am liebsten ganz aus dem Wortschatz gestrichen sehen. Und eine solch autoritäre, auf Öcalan zugeschnittene Führungsstruktur wie bei den Kurden findet man sonst kaum im Land.

 

Ob es friedlich bleibt, hängt von den Demonstranten ab, sie stellen die Mehrheit – und nicht all die politischen Gruppen, die sich nun den Protesten anschließen, um auch noch ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Noch überwiegt bei den überwiegend jungen Demonstranten die Euphorie. »So etwas«, so Firat, ein junger Aktivist in Istanbul, »hat mein Land noch nie gesehen. Wir treten alle für die Rechte Aller ein. Jeder will jeden verstehen, jeden unterstützen. Ich habe das Gefühl, dass wir uns zum ersten Mal in unserer Geschichte gegenseitig wirklich sehen. Was jetzt geschieht, wird endlich Frieden in unser Land bringen.«

 

Pinguine statt Protestbilder

 

Dazu müssen die Demonstrationen überwiegend friedlich bleiben. Hier sind vor allem Politik und Polizei in der Pflicht, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Nachdem es am Samstag kurzzeitig danach aussah, als würde sich die Polizei zurückziehen, schlägt sie nun wieder mit voller Härte zu. Besonders schlimm ist die Lage in Ankara, wo die Polizei inzwischen die zentrale U-Bahnstation Kizilay unter einer Tränengaswolke begraben und damit den Verkehr in der 5-Millionen-Stadt quasi lahmgelegt hat.

 

Auch Istanbul und andere Städte erleben den dritten Tag in Folge unverhältnismäßigen Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und exzessiver Gewalt gegen Demonstranten. Im Istanbuler Stadtteil Besiktas, in den sich in den vergangenen Tagen ein Teil der Proteste hin verlagert hatte, berichteten Demonstranten zudem vom Einsatz des Gases Agent Orange. Dieser Vorwurf hatte sich im Nachhinein als falsch herausgestellt und zeigt damit ein Dilemma des Aufstandes. »Wir haben ein Informationsproblem«, so ein junger Demonstrant. »Die Medien zeigen nicht, was wirklich geschieht. Allein Halk TV und Ulusal TV, die der Oppositionspartei CHP gehören, berichten live. Bei uns postet jeder, was er will. Das ist an sich gut, nur führt das auch zu Chaos, zu einer Verschmutzung der Informationen.«

 

So richtete sich ein Teil der Wut der Demonstranten auch gegen die Nachrichtensender NTV und HaberTürk. Tatsächlich lieferten auffällig viele Medien in den ersten Tagen des Aufstandes so gut wie keine Informationen; stattdessen: Serien, Kochshows, Dokumentarfilme über Pinguine. Inzwischen haben viele Sender eingelenkt und berichten live aus Ankara und Istanbul, versuchen teilweise aber noch immer, die Demonstranten ausschließlich als Störenfriede darzustellen. Türkische Medien sind zumeist in den Händen von Wirtschaftsmoguln, die neben Zeitungen und Sendern auch Banken, Baufirmen und andere Unternehmen besitzen und sich daher um eine regierungsfreundliche Berichterstattung bemühen. Nach den zahlreichen Festnahmen unter dem fadenscheinigen Vorwurf des Terrorismus während der vergangenen Jahre haben sich viele Journalisten allerdings auch eine Selbstzensur auferlegt. Wer aneckt, lebt gefährlich.

 

Einmischung bis ins Schlafzimmer

 

Wie sich der Konflikt nun weiterentwickelt, hängt auch vom Verhalten Erdogans und seiner Regierung ab. Die AKP hatte 2002 als großes Demokratisierungsprojekt angefangen. Alles sollte besser werden: die Meinungsfreiheit, der Pluralismus, die Demokratie. Die Türkei, ein Land mit vielen Ethnien, Religionen und Lebensstilen, sollte endlich allen gehören. Mit diesem Versprechen und einem Wirtschaftskurs, der die auch das regionale und internationale Gewicht der Türkei stärkte, gelang es der AKP, viele Wähler für sich zu begeistern und auch bei Liberalen und Angehörigen der religiösen Minderheiten Stimmen zu holen. Bei den Parlamentswahlen 2011 lag die AKP mit knapp 50 Prozent unangefochten an der Spitze. Erdogan versprach, ein Premierminister aller Türken zu sein, und nicht nur derjenigen, die ihn gewählt hatten.

 

Dass die Türkei nach zehneinhalb Jahren AKP-Regierung davon weiter entfernt ist als zuvor, liegt vor allem an Erdogan selbst. Zu autoritär, zu selbstherrlich sei er in letzter Zeit vorgegangen, zu sehr habe er sich in das Privatleben seiner Bürger eingemischt, kritisieren viele Türken. Die Liste ist lang: Türkische Städte verändern sich in den letzten Jahren rapide durch große Bau- und Umstrukturierungsprojekte, allerdings ohne Einbeziehung der Bürger. Im Mai erlassene Gesetze zum Alkoholkonsum kommen einer Kriminalisierung gleich. Für Erdogan kein Problem; wer Alkohol trinkt, und sei es auch nur einmal im Monat, der, so der Premier, sei Alkoholiker; überhaupt, das türkische Nationalgetränk sei nicht der Anisschnaps Raki sondern das Joghurtgetränk Ayran.

 

Bis in unsere Schlafzimmer, beklagen viele Türken, habe Erdogan sich eingemischt: Abtreibung und Kaiserschnitt wollte er verbieten und zog das Projekt nur nach heftigen Protesten zurück. Sein Ziel: die Geburtenfreudigkeit der Türken anregen; mindestens drei Kinder pro Paar sollten es sein. Besonders Kemalisten störten sich an den jüngsten Einschränkungen von Feiertagen, die noch aus Atatürks Zeit stammten, wie etwa das Gedenken an seinen Todestag oder der »Tag der Jugend« am 19. Mai.

 

Ein Einschreiten des Militärs kann nicht ausgeschlossen werden

 

Auch wenn nun auf den Straßen Rücktrittsforderungen skandiert werden, wolle man die Regierung nicht stürzen. Dennoch sind viele Demonstranten der Meinung, dass es an der Zeit wäre, Erdogan eine rote Linie aufzuzeigen. Doch der Premier reagiert mit Härte und Gleichgültigkeit. Bevor er sich am Montag zu einer dreitägigen Reise nach Nordafrika aufmachte – ironischerweise um den jungen Demokratien dort die Vorbildrolle der Türkei zu vermitteln – äußerte er sich in einer Pressekonferenz zu den Ausschreitungen. Die Demonstranten, so tönte Erdogan, seien »marginale Gruppen und Störenfriede«, die von der Oppositionspartei CHP gelenkt würden. Zudem, so der Premier, hätten auch »feindliche Kräfte« aus dem Westen ihre »Hände« im Spiel, darum würde sich sein Geheimdienst gerade kümmern.

 

Ein völliges Novum in der ansonsten von hierarchischen Strukturen in den Parteien geprägten Türkei ist hingegen die Distanzierung einiger AKP-Politiker von den Vorgängen. So sprachen sich Bildungsminister Avci, aber auch Präsident Gül und der Istanbuler Bürgermeister Topbas für ein besonneneres Vorgehen der Polizei aus und räumten Fehler der Regierung bei der Handhabung des Konfliktes ein. Weiter geht die Kritik jedoch nicht, denn die AKP weiß, dass sie Erdogan zum Überleben braucht. So geschlossen die AKP auch öffentlich auftreten mag – innerlich besteht sie aus vielen Fraktionen, die nur durchs Erdogans starke Hand zusammen und auf Kurs gehalten werden. 

 

Die nächsten Tage werden zeigen, in welche Richtung sich die Proteste entwickeln. Zahlreiche Gewerkschaften haben zur Unterstützung der Demonstranten zum Streik aufgerufen, der Kurs der türkischen Börse ist im Sinkflug. Unklar ist, ob sich, wie in einigen Medien berichtet, sich auch Teile der AKP Ortsverbände der Polizei angeschlossen und in Seitenstraßen Jagd auf Demonstranten machen. Wenn die Regierung nicht einlenkt, die Polizei weiter mit unangemessener Härte gegen Demonstranten vorgeht, weitere Todesopfer zu beklagen sind, Brände und Straßenschlachten weiter großen Sachschäden verursachen, AKP-Mitglieder sich an Gewalttaten beteiligen, wenn weitere Stadtteile im Chaos versinken, dann kann auch ein Einschreiten des Militärs nicht ausgeschlossen werden.

Von: 
Charlotte Joppien

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