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Pressefreiheit nach den Wahlen in der Türkei

»Pressefreiheit abgewählt«

Interview

Journalist Cinar Kiper ist Redakteur bei Bugün News. Im Interview schildert er, wie Polizisten den Sender vor den Wahlen stürmten – und regierungskritische Medien in der Türkei systematisch mundtot gemacht werden.

Keine 24 Stunden nach Schließen der Wahllokale in der Türkei verschwindet die erste Online-Zeitung aus dem Internet. BGN News – eine Redaktion der regierungskritischen Bugün News – war eine der wenigen englischsprachigen Nachrichtenseiten aus der Türkei. Jetzt ist der Internetauftritt verschwunden, alle Artikel aus der Vergangenheit scheinen gelöscht. Ende Oktober wurde das Hauptgebäude von Bugün News gewaltsam gestürmt: Das Medium gehört zur Koza-İpek-Gruppe, die unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt wurde. Offiziell wird dem Konzern und seinen 5.000 Mitarbeitern Terrorismusunterstützung vorgeworfen. Die Mediengruppe soll der Bewegung des gemäßigten islamischen Predigers Fethullah Gülen nahestehen. Bis zum Zerwürfnis vor zwei Jahren war die Gülen-Bewegung enger Verbündeter der AKP, heute gehört sie zu den größten Gegnern Erdoğans und berichtet regierungskritisch.

 

zenith: Am Tag nach den Parlamentswahlen sind die Chefredakteure des kritischen Nachrichtenmagazins Nokta festgenommen worden und auch Bugün News wurde vom Netz genommen. Wieso?

Cinar Kiper: So geht es los… Die Behörden beschlagnahmen gerade alle Exemplare, die es von uns oder von Nokta noch gibt. Die Links zu den Artikeln, die ich geschrieben habe, sind auch verschwunden. Gelöscht. Was soll ich sagen? Scheinbar ist das die Türkei, die die Menschen wollen.

 

Die Koza-İpek-Mediengruppe wurde aber bereits vor den Wahlen unter Zwangsverwaltung gestellt.

Das verlangt eigentlich nach einer sehr langen Antwort. Es gibt viele Gründe und auch ich kann nur spekulieren: Am wahrscheinlichsten ist es, dass Erdoğan kritische Medienstimmen zum Schweigen bringen wollte. Nebenbei lockt ihn das Vermögen von Akın İpek, es geht hier um einige Milliarden US-Dollar. Die kann er gut für seine eigenen politischen Ziele nutzen. Ich glaube auch, dass er den Zeitpunkt gewählt hat, weil es nach den Wahlen womöglich schwieriger gewesen wäre.

 

Also stecken Erdoğan und die AKP dahinter?

Es kann nicht direkt bewiesen werden, welche Rolle Erdoğan und Davutoğlu spielen. Sie haben keine handfesten Beweise da gelassen, aber öffentlich bekundet, dass sie die Firma zerstören wollen. Die Beschlagnahmung fand zudem durch die Polizei statt. Und die kann natürlich nicht handeln ohne das Okay von Erdoğan, der hat aber keine direkten Befehle dieser Art gegeben, er ist ja nicht blöd. Er teilte lediglich mit, dass er jemanden auslöschen möchte und seine Leute dann den Rest erledigen und sich um die Details kümmern würden.

 

Wie haben Sie die Zwangsübernahme erlebt?

Ich bin an dem Tag zu Hause geblieben. Einen Tag vorher gab es schon kleine Demonstrationen vor dem Redaktionsgebäude und die Regierung hat Hubschrauber geschickt, um ihre Macht zu zeigen. Das wollte ich mir nicht wieder antun und habe einfach von zu Hause gearbeitet. Wer weiß – sonst hätten sie mich vielleicht auch festgenommen. Ich weiß aber, dass im Büro das reinste Chaos herrschte: Polizisten haben gewaltsam versucht, in die Redaktionsräume zu gelangen und setzten Tränengas und sogar Kettensägen ein.

 


Cinar Kiper,

ist Redakteur bei BGN News, der englischsprachigen Redaktion von Bugün News der Koza-İpek-Gruppe, die in der Woche vor den Parlamentswahlen in der Türkei am 1. November unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt wurde.


 

Wie ging es dann für Sie weiter?

Ich hab mich ziemlich demoralisiert gefühlt. Einen Tag später bin ich wieder in die Redaktion gegangen. Polizisten standen mit ihren AK-47 vor den Eingängen. Aus der neuen Führungsriege wurde uns bedeutet, dass es für uns keine Pressefreiheit mehr geben könne, weil wir Terroristen seien. Einer der neuen Verwalter hat ein Exemplar unserer Zeitung hochgehalten, es als »Lumpen« bezeichnet und gedroht, dass jeder, der noch solche Gedanken hegen würde, jetzt besser gehen solle. Währenddessen hat die Polizei alle rausgesucht, die irgendetwas »Verletzendes« gegen Erdoğan geschrieben hatten und sie rausgeschmissen. Die Chefredakteure – auch mein Chef – sind alle weg, die machen jetzt so etwas wie Zwangsurlaub.

 

Aber Sie sind geblieben.

Ja, ich wollte wissen, wie es weitergeht. Ein paar Tage später, am Tag nach den Wahlen, habe ich versucht zu kündigen, ich durfte aber nicht. Es sind ja auch fast keine Leute mehr da. Also werde ich einen anderen Weg finden, da raus zu kommen.

 

Wer führt denn jetzt die Geschäfte und wer leitet die Redaktion?

Ahmet Önal ist der Zwangsverwalter, ein ehemaliger Werbechef der AKP-nahen Zeitung Sabah. Der neue Chefredakteur kommt von Akit: einer ultra-islamistischen Zeitung mit etwa so viel religiöser Toleranz wie der IS. Natürlich ist er auch ein Erdoğan-Unterstützer. All diese Zeitungsartikel, in denen Einzelpersonen herausgestellt werden, die die Regierung kritisieren und in denen dann dazu aufgerufen wird, sich um diese Personen »zu kümmern« – diese Artikel kommen fast alle von Akit. Ich frage mich, was mit mir passieren wird, wenn ich nächste Woche nicht zum Freitagsgebet erscheine.

 

Wie sieht es jetzt in der Redaktion aus?

Offensichtlich gab es bei uns in der Redaktion schon länger eine Art unterschwellige Angst, definitiv eine gewisse Aufregung, vor dem was kommt. Keiner wusste genau, wie lange wir noch frei arbeiten würden dürfen und wie schnell es nachher gehen würde. Es haben aber alle gespürt, dass das Ende unvermeidbar war und dass es unfair werden würde. Jetzt ist die Gemütslage in der Redaktion schon ein bisschen verstört, denn die Büros sind voller Polizisten. Sobald Du anfängst, mit Deinem Kumpel oder Kollegen zu sprechen, kommt ein Polizist und hört zu. Es ist gut möglich, dass sie das Gespräch aufnehmen. Ich kann nicht einschätzen, ob es Dich in Schwierigkeiten bringen würde, wenn Du dann etwas Kritisches sagst. Man muss aber bedenken, dass ein Großteil der Beamten und Einsatzkräfte vom Erdoğan-Kult geformt und geschliffen wurden.

 

Sie haben auf Facebook die Geschehnisse detailliert beschrieben und vertreten dort eine klare Meinung. Haben Sie keine Angst festgenommen zu werden?

Im schlimmsten Fall werde ich verhaftet – das passiert jedem guten Journalisten in der Türkei. Im besten Fall schaffe ich es, aus der Türkei abzuhauen. Für mich gibt es hier nicht mehr viel zu tun. Ich habe keine Angst. Ich schreibe meistens auf Englisch, das hält mich unter dem Radar, denn die hartgesottensten Befürworter der AKP beherrschen nicht genug Englisch, um meine Posts oder meine Artikel zu verstehen. Ich schätze, dass ich vorsichtiger sein muss, sobald ich mir einen Namen mache.

 

»Innerhalb von 48 Stunden sind wir komplett auf Regierungslinie umgepolt worden«

 

Wie sieht die Zeitung jetzt aus?

»Wir« berichten inhaltlich zwar noch über dieselben Themen, haben jetzt aber alles schön im Sinne der Regierung zusammengefasst, so wie drei Viertel aller türkischen Zeitungen, die unter der Regierungskontrolle stehen. Wir alle hängen hier gerade total in der Schwebe, keiner weiß, ob er morgen gefeuert wird oder was er ab morgen schreiben muss. Jeder, der unsere Zeitung jetzt liest, glaubt, dass in der Türkei alles großartig und wunderbar läuft und dass nichts Schlimmes passiert – abgesehen natürlich von den ständigen Lügen der oppositionellen Parteien, die selbstverständlich nur daran arbeiten, die Türkei zu zerstören. Jeder, der jetzt unsere Zeitung liest, glaubt, dass Erdoğan groß und stark ist und dass die ganze Welt ihn und das was er macht, anbetet. Das ist deren – und jetzt auch unser – Einheitsbrei, Standardgelaber eben. In weniger als 48 Stunden haben sie es geschafft, die komplette Zeitung in ein Regierungs-Blättchen umzupolen, ein Teil des »Medienpools«, wie wir es nennen: Denn Erdoğan hat viele Partner, die ihr Geld investieren, um Medienhäuser zu kaufen, damit sie ihn nachher preisen. Uns konnten sie nicht kaufen, also haben sie uns illegal eingenommen.

 

Wie lautete die offizielle Begründung der Behörden?

Sie haben gesagt, dass es »kein Unternehmen geben kann, das unschuldig ist«. Das ist die offizielle Logik der AKP: Wenn Du etwas falsch gemacht hast, bist Du schuldig. Wenn Du nichts falsch gemacht hast, bist Du auch schuldig, weil es niemanden geben kann, der nie nichts falsch macht. Abgesehen von der AKP.

 

Aber eine Mediengruppe wie aus dem Nichts einzunehmen, verstößt unmittelbar gegen die türkische Verfassung. Warum konnte das trotzdem scheinbar einfach so geschehen?

Erdoğan hat das Gesetz nie wirklich interessiert, er hat eben getan, was er wollte. Er versucht natürlich schon den Anschein zu erwecken, dass er sich an Recht und Ordnung hält, indem er durch rechtliche Schlupflöcher operiert. Im Grunde betont er, dem Wortlaut des Gesetzes zu folgen, aber nicht seinem Geist, also der Intention. In unserem Fall ist es ja so: Er wirft der Mediengruppe vor, eine terroristische Vereinigung zu sein, also darf er auch solch außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen. In einer Demokratie müsste man aber mit konkreten Beweisstücken darlegen, dass jemand ein Terrorist ist. Das konnte uns die Regierung zwar nicht nachweisen, aber es ist ja auch nicht so, dass die Türkei demokratisch genug ist, was das angeht.

 

Welche Szenarien sehen Sie die Türkei jetzt nach den Wahlen?

Drei Möglichkeiten: Entweder einen Bürgerkrieg oder einen Militärputsch, der jede Hoffnung auf Demokratie vernichten wird. Und es gibt noch die Situation, auf die Erdoğan hinarbeitet, nämlich einen Apartheidstaat aufzubauen – und zwar nicht basierend auf Rasse, sondern basierend auf Identität und Lebensstil – ein Staat, in dem das Volk ruhig gehalten wird durch konstante Gewaltandrohungen und ein politisiertes Rechtssystem.

 

»Erdoğan will nicht uns für sich gewinnen – er will unsere Kinder«

 

Welche Anzeichen sehen Sie dafür?

Wir gehen schon längst in diese Richtung: Die Intellektuellen, die Akademiker, auch Journalisten und Künstler – eben alle, die etwas verändern könnten, verlassen das Land und gehen nach Europa. Erdoğan weiß schon, dass so ein System nicht kompatibel ist mit der aktuellen Demographie in der Türkei – viele junge Menschen eben, die sich westlich ausrichten. Aber er hat einen Vorteil: Ein Schwarzer kann in Südafrika nicht weiß gemacht werden, ein Jude konnte in Nazi-Deutschland nicht zu einem »Deutschen gemacht« werden, aber die Kinder des säkularen Türken können sehr wohl zu frommen und hörigen Muslimen erzogen werden. Erdoğan sagt es selbst: »Wir werden eine fromme Generation heranziehen« oder »Die größte Bedrohung, die die Türkei je erreicht hat, ist das Gefühl für Individualismus.« Er zielt nicht auf uns – er will unsere Kinder.

 

Wie soll ihm das gelingen?

Indem er Arabisch und den Koran als Pflichtfächer in der Schule einführt, indem er Schulen in religiöse Seminare umwandelt, indem er religiöse Identität als obligatorische Voraussetzung bei der Arbeitssuche macht – ganz zu schweigen davon, dass er eine Viel-Kinder-Politik betrieben hat und weiter mehr Kinder im Land haben will.  Er hofft dann, dass innerhalb von ein oder zwei Generationen der säkulare Türke entweder abhaut oder ausstirbt und dass er dann eine Türkei regiert, in der die Bürger nicht gezwungen werden müssen, ihn zu mögen, sondern in der sie es freiwillig tun.

 

Die Türkei ist gemäß Verfassung ein demokratischer Staat. Was ist aus der Türkei geworden, seitdem Atatürk vor fast genau 86 Jahren die Republik gegründet hat?

Man darf Demokratie nicht mit dem Begriff Republik verwechseln, das sind sehr verschiedene Konzepte. Der Iran ist eine Republik, keine Demokratie. Das Vereinigte Königreich ist ein Königreich, aber auch eine Demokratie. Die alte Türkei war nicht wirklich demokratisch – genauso wenig die die neue Türkei. Was sich damals verändert hat beim Übergang von der alten zur neuen Türkei, ist, dass die alte Türkei von säkularen Menschen regiert wurde und die neue nun von Islamisten.

Von: 
Interview: Marion Sendker und Martin Pieck

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