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Interview zu Dokumentarfilm aus Ruanda

»Der Rassismus ist noch in den Köpfen«

Interview

Zwanzig Jahre nach dem Völkermord: Der deutsche Regisseur Lukas Augustin über seinen neuesten Dokumentarfilm aus Ruanda, die Kategorien Opfer und Täter und die Mühen des Vergebens.

zenith: Warum ist es so wichtig, sich zwanzig Jahre nach dem Völkermord daran zu erinnern, was in Ruanda geschah?

Lukas Augustin: Es geht weniger um das Erinnern, als um den Umgang mit den schrecklichen Erinnerungen, die Täter und Opfer wie ein Trauma mit sich rumtragen. Dazu ist Ruanda ein Sonderfall, denn es gab keine Trennung der beiden Konfliktparteien und Täter und Opfer leben heute wieder in den gleichen Dörfern – Haus an Haus. Die Täter sind häufig mit Schuldgefühlen überhäuft, während die Opfer eine unbeschreibliche Bitterkeit gegenüber den Tätern fühlen und über den Verlust ihrer Angehörigen oft noch nicht hinweggekommen sind. Christophe, einer der Protagonisten unseres Films, sagt das sehr treffend: »Diese Wunden kann die Zeit nicht heilen.«

 

Ihr Dokumentarfilm zeigt Opfer wie Täter. Auf beiden Seiten sind es Menschen mit dramatischen Erlebnissen. Wie lange hat es gedauert, bis sich die Protagonisten geöffnet haben?

Über einen Zeitraum von einem Jahr habe ich mehrmals ein Dorf besucht. Auch wenn es eine Entwicklung gab, überraschten mich die Protagonisten mit ihrer großen Offenheit ihre Geschichten zu erzählen. Obwohl die Regierung mit Gedenktagen und Feiern an den Genozid erinnert, ist der Völkermord trotzdem noch immer ein Tabuthema, gerade auf dem Land. Für einige der Protagonisten war es das erste Mal, dass sie von ihren Erlebnissen erzählten. Die Interviews waren wie ein Ventil, das sie nutzten, um ihre Geschichten zu erzählen und den Schmerz, die Bitterkeit, aber auch die Schuldgefühle herauszulassen.

 

Eine Frau erzählt zum Beispiel von ihrer Vergewaltigung, bei der sie schwanger wurde. Ein Mann hat eine Narbe über das ganze Gesicht, in das die Machete geschlagen wurde.

Ihr Film begleitet ein Versöhnungsprojekt, bei dem sich Täter und Opfer eine Kuh teilen – wie sollte eine Kuh solche Heilungskräfte entfalten? Die Kuh hat in der ruandischen Kultur einen hohen Stellenwert. Selbst in den Städten wird der Brautpreis heute in Form einer Kuh bezahlt. Die Kuh wird in dem Projekt, von dem wir erzählen, Täter und Opfer geschenkt. Beide haben so einen Grund, sich fast täglich zu begegnen. Sie müssen auf die Kuh aufpassen, sie melken und sich die Milch teilen. Dadurch findet automatisch eine Auseinandersetzung statt. Beide hören auf, den anderen nur in der Kategorie Täter beziehungsweise Opfer zu sehen. In einer Dorfzeremonie schenkt das Opfer dann dem Täter zum Zeichen der Versöhnung das erste Kalb.

 

Wer hat sich das Projekt ausgedacht?

»CARSA« ist eine kleine christliche Organisation in Kigali, die seit 2002 existiert und aus Hutus und Tutsis besteht. Sie arbeiten eng mit Kirchen und Dorfältesten zusammen, um Täter und Opfer eine Möglichkeit zu bieten sich zu treffen und bei diesen ersten Treffen eine vermittelnde Rolle einzunehmen, ohne Partei zu ergreifen.

 


Lukas Augustin

ist Regisseur und freier Journalist. Gemeinsam mit seiner Frau Salome Augustin hat er mit dem Kurzfilm »Touch down in flight« über Afghanistan – ein Porträt des Landes hinter den Schlagzeilen über Bomben und Selbstmordattentate – den »CNN Journalist Award« gewonnen. Sein Film »Unversöhnt« über Ruanda wird am 30. April 2014 um 00.00 Uhr im NDR ausgestrahlt.


 

Welche Rolle spielt der Glaube dabei?

Die Workshops sind sehr vom christlichen Verständnis von Schuld und Versöhnung geprägt. Innocent, eines der Opfer, den wir begleitet haben, erzählte uns, dass er durch die Geschichte vom Kreuz ermutigt wurde, so wie auch Jesus seinen Feinden zu vergeben und die Bitterkeit gegenüber den Tätern nicht länger mit sich rumzutragen. In einer Zeremonie nageln Täter und Opfer ihre Schuld und Bitterkeit symbolisch an ein Kreuz und verbrennen anschließend die Papiere.

 

Einer der Protagonisten beschreibt, dass er den Glauben verloren habe, als er tagelang zwischen den Leichen seiner Landsleute lag. »Da war mir klar: Es gibt keinen Gott«, sagt er. Gibt es eine Erklärung dafür, wie es dazu kommen kann, dass sich Nachbarn mit einer Machete das Gesicht einschlagen?

Die Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi ist ein Relikt aus der Kolonialzeit und trennte die Bevölkerung in Gruppen nach Besitz: Wer mehr als zehn Kühe besaß, war ein Tutsi. Später stand die Zuteilung auch im Pass und es entwickelte sich eine Rassenlehre. Sie wurde besonders über die Radios verbreitet und Tutsis wurden beispielsweise als »Kakerlaken« bezeichnet. Dazu gab es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen der Hutu-Regierung und den Tutsi-Rebellen, die eine Machtbeteiligung wünschten. Als das Flugzeug des Hutu-Präsidenten am 6. April 1994 abgeschossen wurde, wurden die Tutsis beschuldigt und das Morden begann.

 

Welche Rolle spielte dabei die internationale Gemeinschaft?

Diplomaten und die UN-Blauhelme verließen in der kritischen Zeit nach dem Tod des Präsidenten das Land und so konnte sich ungehindert ein Völkermord entfesseln, der in 100 Tagen circa eine Million Menschen das Leben kostete. Die Täter können oft selbst nicht erklären, was sie dazu antrieb. Gerade auf dem Land hatten viele gar keine Radios. Oft war es Gruppenzwang. Wellars, einer der Täter im Film, schreibt es dem Teufel zu und hat auch heute noch Angst davor, wieder in einen ähnlichen Zustand zu verfallen.

 

Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, aus diesen Schicksalen einen Film zu machen?

Die Recherche begann Ende 2012. Nachdem ich in der DR Kongo war, um eine Geschichte über den Rohstoffabbau in der Kivu-Region machte, bin ich über Ruanda eingereist. Die Länder sind so extrem unterschiedlich, obwohl der Genozid 1994 beide Regionen schwer getroffen hatte. Das hat mich neugierig gemacht.

 

Im Sommer 1994 flohen viele Hutus in den Kongo – liegt der Schlüssel des heutigen Konflikts dort vielleicht auch in Ruanda?

Das politische Problem ist, dass Ruanda von der desolaten Situation im Kongo wirtschaftlich profitiert. Es gibt viele Zusammenhänge, aber es ist, glaube ich, an dieser Stelle zu komplex, das in einer Antwort zusammenzufassen.

 

Sehen Sie in heutigen Konflikten Parallelen zum Versagen der internationalen Gemeinschaft in Ruanda? Hat man beispielsweise in Zentralafrika zu spät eingegriffen?

Zentralafrika ist auf jeden Fall ein erschreckendes Beispiel und gleicht in seiner Entwicklung einem Déjà-vu von 1994. Aus ruandischer Sicht hat die internationale Gemeinschaft nicht nur darin versagt, in Ruanda einzugreifen. Sie hat es auch nicht geschafft, nach dem Genozid die Täter zur Rechenschaft ziehen. Die Gefängnisse waren überfüllt und es würde Jahre dauern, alle Täter vor Gericht zu stellen. So musste sich die ruandische Regierung entscheiden, wie sie mit den Tätern umgehen sollte. Die Täter wurden vor ihr Dorf gestellt und durften ihre Schuld bekennen und um Vergebung bitten und dann fällten Dorfälteste ein Urteil in Anwesenheit der Opfer und Überlebenden. Diese Gerichte fanden auf politischer Ebene steht. In meinem Film geht es darum, wie Täter und Opfer auf persönlicher Ebene wieder aufeinander treffen und das hat mich fasziniert: Ruander selbst – auf ihre Art – haben einen Weg gefunden, mit sehr universellen Problemen von Schuld und Sühne umzugehen, der nicht verdammt, sondern freisetzt.

 

Was überwiegt Ihrer Meinung nach heute in Ruanda? Verdrängung oder Aufarbeitung?

Das ist wirklich sehr schwer zu sagen. Im April eines jeden Jahres wird daran erinnert, Täter leisten teilweise bis heute eine Art Frondienst für eine unüberwindbare Schuld. Aber wie ich bereits sagte, ist es gerade in den ländlichen Regionen für viele immer noch immer ein Tabuthema. Immerhin: Die Zuschreibungen Hutu und Tutsi sind mittlerweile offiziell verboten...

 

… und wie steht es um den ethnischen Rassismus in Ruanda heute wirklich?

Natürlich ist er noch in den Köpfen der Menschen.

 

»Wenn es um den Genozid geht, werden Behörden vorsichtig«

 

Wurden Ihnen beim Dreh durch offizielle Stellen Steine in den Weg gelegt?

Es gibt derzeit eine schwierige Entwicklung in Ruanda. Präsident Paul Kagame steht unter dem Verdacht, seine Widersacher zu beseitigen. Die Lage der Pressefreiheit ist prekär, dadurch mussten natürlich auch wir vorsichtig sein. Wir haben beispielsweise auch keine Genehmigung erhalten, im Gefängnis zu drehen. Selbst für den Kirchplatz, auf dem die Gedenkstätte steht und auf dem eine wichtige Szene des Films spielt, konnten wir nur nach mehreren Anläufen eine Genehmigung bekommen. Wenn es um den Genozid geht, werden Behörden vorsichtig.

 

Eine weitere Szene in Ihrem Film bleibt besonders im Gedächtnis: Der Mörder Ananias »beichtet« Claudine seine Taten. Er war am Mord an ihren beiden jüngeren Brüdern beteiligt, die vom Mob lebendig begraben wurden. Sie beschuldigt ihn aber der Lüge, vermutet, dass er nicht die ganze, schreckliche Wahrheit erzählt. Woher weiß man, dass die Täter wirklich bereuen und sich davon nicht nur Haft- oder Gewissenserleichterung erhoffen?

Das überlasse ich dem Zuschauer. Mein Ziel war es nicht, diese Frage zu beantworten, denn das können die Opfer meistens auch nicht. Auch die Täter sind oft traumatisiert und können sich manchmal nur an Bruchstücke erinnern. Dieser Täter im Film ist bereits aus dem Gefängnis entlassen und weil er zum Tatzeitpunkt unter 14 Jahre alt war, also noch ein Kind war, kann er gar nicht länger als die sieben Jahre, die er bestraft wurde, eingesperrt werden. Die Szene ist deshalb so heftig, weil das Opfer seit zwanzig Jahren diese Bitterkeit gegenüber dem Täter mit sich herumträgt. Am Ende geht es nicht um die Wahrheit, sondern darum, dass zwei Jungen getötet wurden. Und an diesem Mord war Ananias beteiligt. Keine Haftstrafe wird sie wieder lebendig machen, noch Claudine von dem Schmerz und der Bitterkeit befreien, aber in diesem Moment der Auseinandersetzung konnte sie es »rauslassen«. Inzwischen haben die beiden einen Workshop besucht und sich das erste Mal gegrüßt, während vorher eisige Distanz herrschte. Ob sie ihm vergeben wird, steht offen. Dass sie es will, erzählt sie mehrmals, aber es ist ein langer Weg.

 

Sie haben für diesen Film Mörder und Vergewaltiger getroffen und interviewt – wie kann man sich davon innerlich distanzieren und Beobachter bleiben?

Wir haben uns auch mit den Opfern getroffen, haben beide Seiten angehört und versuchen ja auch, sie im Zusammenhang zu zeigen. Für mich sind auch die Mörder und Vergewaltiger Menschen, deren Erlebnisse universell sind. Jeder von uns hat schon einmal etwas getan, was er später bereut oder war in einer Situation, in der ihm Leid zugefügt wurde, wenn auch in einem ganz anderen Maß. Für mich stellte sich die Frage, wie man damit umgeht, wenn es in einem solchen Extrem passiert. In den Interviews gab es nur selten Momente, in denen ich emotional wurde. Ich schalte dann um in einen Modus, in dem ich verstehen möchte und das Gesagte registriere, ohne es direkt zu bewerten. Ich wunderte mich dann abends oder im Austausch mit meinem Team manchmal, warum einen diese Geschichten nicht mehr berühren. Ich glaube aber, dass es eine sehr natürliche und wichtige Schutzreaktion ist, die mir hilft, Distanz zu wahren, um mich rauszuhalten und zu beobachten. Emotional treffen mich die Szenen meist erst im Schnitt.

Von: 
Kristina Milz

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