Tunesiens Premier Ali Larayedh über die Schattenseiten der Macht, Vergleiche mit der türkischen AKP – und die Zukunft des früheren Diktators.
zenith: Herr Premierminister, unter Ben Ali haben sie 15 Jahre im Gefängnis verbracht, davon mehr als zehn in einer Einzelzelle. Wie hat sie das geprägt?
Ali Larayedh: Ich war 13 Jahre in Isolationshaft, war zum Tode verurteilt worden, mehr als einmal drohte man, mich umzubringen. Auch die Zustände im Gefängnis waren schlimm, es gab Seuchen. Heute fühle ich mich daher oft wie ein Überlebender eines Flugzeugunglücks. Das Wichtigste sind meine politischen Ziele, nicht persönliche Interessen. Für Geld und Ruhm habe ich nichts übrig.
Wie hat die Regierungserfahrung Ihre Partei, die Ennahda, verändert – positiv wie negativ?
Die Ennahda-Bewegung hat anfangs sehr von der Freiheit profitiert, bevor sie an die Macht kam. Denn die Revolution ermöglichte es ihr, sich als politische Partei aufzustellen, mit einer breiten Basis im Volk, und bei der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung voranzugehen. Die Regierungsverantwortung schuf ein Bewusstsein für die Bedeutung des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Programms. So baute die Partei in der Folge ihre Kapazitäten auf all diesen Gebieten aus.
Ali Larayedh
ist seit März 2013 Premierminister Tunesiens und folgte auf Hamadi Jebali, der nach der Ermordung des Oppositionspolitikers Chokri Belaïd zurückgetreten war. Zuvor hatte Larayedh das Innenministerium geführt. Der 57-Jährige gehört zu den wichtigsten Politikern der Ennahda; zwischen 1981 und 1990 war er ihr erster Generalsekretär, bevor er 1992 zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde.
Mit der Macht kommen Versuchungen. Es kann passieren, dass Parteien an der Macht verschleißen. Und so ist auch Ennahda Ziel der Kritik einer Reihe von Menschen, die ihre Wünsche und Träume rasch verwirklicht sehen wollen. Die Partei zahlt einen Preis dafür, an der Macht zu sein. Und ihre Koalitionspartner ebenso.
Oft haben Ennahda-Mitglieder die AKP als Vorbild genannt. Würden Sie das angesichts der Ereignisse in der Türkei seit Anfang Juni immer noch tun?
Wir respektieren die Erfahrung der Türkei unter der Führung der AKP, die das Land wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreich geleitet hat. Wir sind aber keine Kopie der AKP. Es gibt viele Ähnlichkeiten auf allen Gebieten, in unseren Zielen und Prinzipien, aber wir haben zugleich unsere eigenen Charakteristika. Tunesien ist ein arabischer Staat mit einer tief verwurzelten arabischen Kultur. Was Ihre Frage nach den jüngsten Ereignissen betrifft, so weiß ich über die genauen Details der Proteste und ihre Größe nicht Bescheid. Aber ich habe großes Zutrauen in das türkische Volk und seine Regierung, dass sie ihre Erfolge fortsetzen werden. Jedes Experiment zieht Kritik und Einspruch nach sich, aber wir nehmen die Vorteile davon mit.
Wissen Sie, wo genau sich der frühere Diktator Zein El Abedine Ben Ali aufhält – und was tun Sie als tunesische Regierung, um ihn ausliefern zu lassen?
Wir wissen, dass er sich in Saudi-Arabien aufhält, das ist kein Geheimnis. Er wurde mehrere Male in Abwesenheit in Tunesien verurteilt.
Benötigt Tunesien einen umfassenden Ben-Ali-Prozess, um mit seiner Vergangenheit abschließen zu können?
Es geht hier nicht nur um Ben Ali, sondern auch um eine ganze Reihe anderer Regime-Schergen, die aber ins Ausland geflohen sind. Man muss sie der Gerechtigkeit zuführen und einige von ihnen in Abwesenheit verurteilen.
Glauben Sie, dass die Saudis Ben Ali ausliefern werden?
Ich bin überzeugt, dass er eines Tages der Justiz gegenübertreten wird.