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Interview mit Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan

»Als würde jemand einem ständig ins Gesicht boxen«

Interview

Im Interview mit zenith erklärt die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, warum einige Jugendliche mit Migrationshintergrund sich nicht mit Deutschland identifizieren und warum interkulturelle Kompetenz zur Lehrerausbildung gehört.

zenith: Frau Foroutan, Sie leiten das Projekt »Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle« der Humboldt-Universität zu Berlin und Sie beschäftigen sich dabei viel mit aktuellen Studien über Muslime und Migranten in Deutschland. Welchen Aussagewert haben solche Studien, die, wie zuletzt im August die »Liljeberg-Studie 2012«, regelmäßig der Öffentlichkeit präsentiert wurden?

Naika Foroutan: Das Problem mit solchen Studien ist, dass die Medien oft nicht auf detaillierte Ergebnisse dieser Studien Bezug nehmen. Aus 800 Seiten wissenschaftlicher Arbeit zu Lebenswelten junger Muslime in Deutschland (BMI-Studie) wird dann etwa einfach geschlussfolgert, dass junge Muslime keine Integrationsbereitschaft zeigen würden. Das ist reduktionistisch und verfälschend. Wir dagegen werten die ganzen Studien aus – parallel dazu den Mikrozensus – und sammeln darin Ergebnisse, die der öffentlichen Wahrnehmung widersprechen, wie etwa den hohen Anstieg von Abitur- und Fachabitur-Daten bei türkeistämmigen Jugendlichen. In den Anfangsjahren der Zuwanderung verfügten gerade mal 5-7 Prozent der türkeistämmigen Einwanderer über höhere Bildungsabschlüsse. Hier ist ein klarer Anstieg nachweisbar, der aber nicht in der öffentliche Wahrnehmung ankommt. Mittlerweile können wir von 26 Prozent (Fach-)Abitur-Quote bei türkeistämmigen Bildungsinländern ausgehen. Man kann also festhalten, dass die Bildungsbereitschaft kontinuierlich und offensichtlich steigt. Trotzdem dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass die (Fach)-Abitur-Quote der Deutschen ohne Migrationshintergrund bei 45 Prozent liegt – es besteht also weiterhin eine beträchtliche Kluft zwischen beiden Werten. Darauf müssen wir stetig hinweisen. Aber zu sagen, es gäbe keinen Anstieg und keine Bereitschaft, ist schlichtweg falsch. Die Ausgangspositionen waren auch gänzlich unterschiedlich, denn die Kinder der so genannten Gastarbeiter kamen vor allem aus bildungsfernen Kontexten.

 

Und was würden Sie raten, um diese »Kluft« am effektivsten überbrücken zu können?

Vor allem würde ich raten, Lehrer und Lehrerinnen in dieser schwierigen Situation zu unterstützen, ihnen dabei behilflich zu sein, auf jene Kinder, die aus sozial schwachen Kontexten kommen, individueller einzugehen – egal ob es nun herkunftsdeutsche Kinder oder Kinder mit Migrationshintergrund sind. Wenn es Sprachprobleme oder Spracharmut gibt – was auch in abgehängten Familien ohne Migrationshintergrund zutage treten kann – so brauchen die Lehrer und Lehrerinnen die Möglichkeiten von sprachnachholenden oder sprachfördernden Programmen. Sie sollten mehr Sozialarbeiter, Künstler, Sportler und engagierte Eltern einbinden dürfen. Wir müssen davon ausgehen, dass Eltern erst einmal grundsätzlich an der Bildung ihrer Kinder interessiert sind, auch wenn sie selbst nicht die Ressourcen besitzen, diese zu fördern. Wir haben Studien, die etwa nachweisen, dass bei gleicher sozialer Herkunft türkische Eltern ihre Kinder heute eher auf die Realschule oder das Gymnasium schicken als Eltern ohne Migrationshintergrund. Außerdem ist eine gute Sprachförderung im Kindergarten zwingend notwendig. Das hat man natürlich schon erkannt – aber es gibt viel zu wenig Ressourcen. In unserem Kindergarten im Wedding zum Beispiel konnte die Sprachförderlehrerin zunächst nur einmal im Monat für eine Woche in die Kita kommen, weil es eben nicht mehr Mittel gab. Dabei hat unser Kindergarten einen Anteil von circa 75 Prozent Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache. Und die Sprachlehrerin macht immer wieder deutlich, dass sie von den Eltern erst einmal erwartet, dass sie mit ihrem Kind nur in der Herkunftssprache sprechen, weil sie eine starke Verfechterin der Multilingualität ist. Da kommen dann die Kinder in den Kindergarten und können natürlich kein Deutsch. Wenn dann die Sprachförderung nicht funktioniert, dann wird dieses Problem in die Schule verlagert. Aber auch Untersuchungen zu Stereotypen und Vorurteilen bei Lehrerinnen und Lehrern wie auch zu institutionellem Rassismus sind wichtig, um gemeinsame Strategien entwerfen zu können.

 

Was halten Sie denn von der Idee, dass insbesondere Lehramtsstudierende Zertifikate in Interkultureller Kompetenz erwerben sollten?

Ein wichtiger Vorstoß. Die Stiftung Mercator hat die Evaluation des von ihr finanzierten Projekts »Förderunterricht für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund« veröffentlicht. Diese besagt, dass die Lehramtsstudierenden und Lehrenden durchaus gewillt sind, solche Kurse zu besuchen – sie werden bloß bislang viel zu selten angeboten. Deswegen werden in der Praxis Stereotype auch in den  Schulen stärker zementiert. Man muss das Lehrpersonal für Vorurteile sensibilisieren. Daher sollte die Aneignung von interkultureller Kompetenz auch Pflicht für jeden angehenden Lehrenden sein – und nicht bloß ein freiwilliges Zusatzprogramm.

 

»Seit 50 Jahren keine deutlichen und eindeutigen Signale der Zugehörigkeit«

 

Viele Migranten der dritten und vierten Generation haben ein Identifikationsproblem mit Deutschland. Sie empfinden die Heimat ihrer Eltern und Großeltern als sympathischer und lebenswerter. Zu diesem Ergebnis kam zumindest die »Liljeberg-Studie 2012«. Können Sie sich dieses Phänomen erklären?

Darüber kann ich nicht einmal staunen. Das ist so, als würde jemand einem ständig ins Gesicht boxen und sich dann auch noch wundern, wenn er von demjenigen nicht gemocht wird. Man kann doch nicht sagen, dass man mit jemandem befreundet ist, wenn diese Person das negiert. Also ist es auch schwer zu sagen, dass man sich als Deutscher fühlt, wenn die andere Seite das stetig in Frage stellt. Es gibt für diese jungen Menschen einfach seit 50 Jahren keine deutlichen und eindeutigen Signale der Zugehörigkeit und wir messen immer wieder deutlich das Gegenteil. Die Türkei wird in diesem Spiel der Zugehörigkeiten als Sehnsuchtsort imaginiert. In Wirklichkeit spielt das Land aber oft gar keine reale, sondern eher eine emotionale oder narrative Rolle im Leben dieser Generation. Die türkische Nationalität wird überrelevant in der eigenen Erzählung, aber im Alltag sind lokale und hybride Einflüsse viel wichtiger. Wir können also sagen, dass eine neue Form der Identität empfunden wird – mit alternativen und progressiven Identitätsformen, so genannte »postnationale Identitäten«. Hier stellen wir fest, dass Jugendliche sich sehr wohl mit lokalen Strukturen identifizieren – sie sagen zum Beispiel, sie seien Berliner oder Dortmunder oder Kölner oder was auch immer. Das ist ja auch deutsch – Köln liegt bekanntlich nicht in der Türkei.

 

Gehört dazu auch die verstärkte Hinwendung vieler Jugendlicher zum Islam?

Es ist wohl eher die Sehnsucht nach einer eindeutigen Positionierung – es werden konkrete Antworten gesucht und diese meinen viele Jugendliche in der Religion zu finden, die sie dann als klar und strukturierend empfinden. Dabei ist ja gerade das Besondere an Religion, dass sie selbst so hybrid ist und sehr viel Interpretationsspielraum offen lässt. Oft kann man aber auch in der Zuwendung zu Religion ein Entrinnen aus der nationalen Entscheidung sehen. Nach dem Motto: »Mein ganzes Leben lang hab ich mich gefragt, bin ich nun Deutsche oder bin ich nun Türkin – Jetzt sag ich einfach, ich bin Muslima.« Das ist dann eine Erleichterung.


Naika Foroutan,40, hat in Köln Politikwissenschaft, Romanistik und Islamwissenschaft studiert und wurde 2005 in Göttingen promoviert. Seit 2008 ist sie Projektleiterin im Forschungsprojekt »Hybride europäisch-muslimische Identitätsmodelle« (HEyMAT) an der HU Berlin. Dort organisiert Foroutan auch in Kooperation mit der Stiftung Mercator die »Junge Islam-Konferenz«.

Von: 
Sümeyye Çelikkaya

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