Das Miteinander in den bestehenden Staaten südlich und östlich des Mittelmeers funktioniert kaum noch. Dennoch kann ein Auseinander nicht die Lösung sein, meint Aktham Suliman in seinem Essay.
Jede Zeit bringt ihre Slogans hervor. In der Zeit des Kampfs gegen die Kolonialmächte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt der Spruch: »Die Religion ist für Gott, die Heimat für uns alle!« Mit dem Zusammenbrechen der nationalistischen und linken Träume im Laufe der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts eroberte die Religion verlorenes Terrain zurück: »Der Islam ist die Lösung!«, hieß es dann vielerorts zwischen dem Persischen Golf und dem Atlantik.
An der Eigenwahrnehmung im Nahen Osten hat sich infolgedessen einiges verändert; aber auch der Blick auf die Region von außen hat sich gewandelt: Spätestens seit dem Irakkrieg 2003 war auf einmal von Sunniten und Schiiten die Rede, von Arabern und Kurden sowie – etwa in Libyen – von »Stämmen«. Selbst dem laizistischsten Land der Region, der Türkei, bescherte das Schicksal eine islamistische Regierungspartei und einen Ministerpräsidenten – inzwischen Präsident –, der bei der eigenen Bevölkerung zwischen Sunniten und Aleviten, Angehörigen einer religiösen Minderheit, unterscheidet.
Die Teilung nach Religion, Konfession oder Ethnie gab es faktisch schon immer – mal von einer panislamischen, mal von einer panarabischen Ideologie verdeckt. Neu ist allerdings, dass viele inner- wie außerhalb der Region nur noch diese Teilung sehen und ihre Sprache dementsprechend angepasst haben. Es herrscht inzwischen ein Diskurs, der jahrzehntelang im Nahen Osten, zumindest bei den Eliten, als rückständig verpönt war; ein Diskurs, der auch im Westen nur unter wenigen Orientalisten weiterlebte, ein Diskurs nach dem Motto: Sag mir, ob du Schiit, Sunnit, Christ oder Kurde bist, und ich sage dir, wie du denkst und handelst.
Dieser Diskurs wurde nicht nur in den Medien salonfähig; er ist zur Grundlage von Politikgestaltung in der und für die Nahostregion geworden. Den plakativen Anfang machte der irakische »Regierende Rat«, den die Amerikaner nach dem Sturz von Saddam Hussein einsetzten, mit Vertretern der »verschiedenen Kräfte«. Gemeint waren nicht Nationalisten, Liberalen und Linke, sondern Schiiten, Sunniten, Christen und Kurden.
Ein junger Mann, der wie viele andere am ersten Arbeitstag der Übergangsregierung im Herbst 2003 vor dem Außenministerium in Bagdad wartete, sagte: »Ich will mich für den Außendienst bewerben. Ich bin nämlich Kurde und der Außenminister ist es auch.« Wie ein Flächenbrand verbreiteten sich diese (Selbst-)Definitionen in Syrien und im Libanon, die beide ähnliche Strukturen wie der Irak aufweisen – aber auch in Ländern, die theoretisch und praktisch nichts damit zu tun haben, etwa Tunesien, Libyen oder Marokko.
Man wurde dort zum »Sunniten«, der in den Kampf gegen »Schiiten« zieht, selbst wenn gar keine in der Nähe waren. Dies erklärt auch, warum so viele Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) aus dem Maghreb kommen. Zum Äußersten getrieben wurde dieser Diskurs durch den Umgang der IS-Terroristen mit Nichtsunniten: durch die Morde an Schiiten, Christen, Jesiden und Kurden. Dass nicht alleine sie von der neuen Sprache erfasst wurde, zeigen die Äußerungen westlicher Politiker und Experten: Die »Sunniten« im Irak etwa müssten in die Regierung eingebunden, die »Minderheit der Christen« müsse geschützt werden.
Solche Äußerungen klingen eher nach Anerkennung als nach Ablehnung des Kalifatsgedankens von IS. Wie auch immer: Spätestens seit dem vergangenen Jahr dürfte es nicht verwundern, wenn ein Christ aus einem dieser Länder sagt, er wolle nicht mehr als »Ungläubiger« in einer sich zunehmend islamisierenden Gemeinschaft leben; wenn ein Kurde meint, er sehne sich nach einem eigenen staatlichen Gebilde, wo er geschätzt und geschützt wird.
Wenn ein Alawit entscheidet, nicht mehr an einer Straßensperre erschossen werden zu wollen, nur weil er als Alawit geboren ist und die islamischen Gebetsrituale nicht allzu ernst nimmt. Was also tun? Muss man die Nahostregion vielleicht nach ethnischen und/oder religiösen Kriterien neu aufteilen? Die Motive der Befürworter einer solchen Trennung sind auf emotionaler Ebene wohl nachvollziehbar. Die Realität allerdings ist komplizierter. Denn nur auf den ersten Blick steht auf der anderen Seite eine monolithische »sunnitische Gemeinschaft«.
Ein arabischer Sunnit kann ein Laizist sein oder ein Gläubiger, aber vielleicht nicht im Sinne der Al-Nusra-Front oder von IS
Die Wirklichkeit sieht, um beim letzten Beispiel zu bleiben, zurzeit eher so aus: »An der ersten Straßensperre setzen wir auf Anweisung unseres Autofahrers Kopftücher auf, denn Al-Nusra-Kämpfer wollen es so haben. An der zweiten Sperre, die von IS kontrolliert wird, tauschen wir das Kopftuch gegen die Vollverschleierung. An der dritten Sperre können wir alles wieder abnehmen: Da hat nämlich die reguläre syrische Armee das Sagen.« So beschreibt eine »sunnitische Muslima«, um bei der konfessionellen Sprache zu bleiben, ihren Weg von Aleppo im Norden Syriens zur Hauptstadt Damaskus.
So ideologisch homogen sind die »Volksgruppen« in sich also nicht. Ein arabischer Sunnit kann ein Laizist sein oder ein Gläubiger, aber vielleicht nicht im Sinne der Al-Nusra-Front oder von IS. Als zweites Problem stehen einer Neudefinition von Ländergrenzen praktische Herausforderungen entgegen: In der Levante gibt es kaum ethnisch oder religiös homogene Territorien. So haben die Kurdengebiete im Nordirak eigene Minderheiten wie Jesiden oder Turkmenen.
In Syrien leben die Alawiten mehrheitlich in den Gebirgen am Mittelmeer, was aber nicht heißt, dass sie an der Küste die absolute Mehrheit stellen. Auch in Ägypten leben die zehn Millionen Kopten nicht alle an einem Ort. Das Ziehen neuer Grenzen im Nahen Osten wäre somit weniger eine Wiederherstellung »natürlicher Verhältnisse« als vielmehr ein höchst unnatürlicher Schritt, der nur mit einer Entwurzelung vieler Millionen Menschen einhergehen könnte.
Tatsächlich kommen die Ansätze zu einer Neuteilung heute auch weniger aus der Region selbst. Von den USA bis Deutschland aber kursieren Artikel und Abhandlungen zum Versagen des modernen Staats in der arabischen Welt. Die New York Times etwa sprach Ende 2013 sogar von einem Entwurf, der eine Teilung in 18 arabische Staaten vor(aus)sah.
Dabei gehen solche Gedankenspiele nicht darauf ein, dass im Ernstfall auch »erfolgreichere« Nationalstaaten wie die Türkei oder Iran in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Beide Länder haben mit den Kurden eine ethnische Minderheit und mit den Alawiten in der Türkei und den Sunniten in Iran religiöse Minderheiten, die »Verwandte« weit hinter den Grenzen zu den arabischen Nachbarstaaten besitzen.
Staaten sollten nicht auf ethnischen oder religiösen Homogenitäten basieren, sondern auf Inhalten und Werten
Die unberechenbare Reichweite einer Teilung ist ein weiteres Problem. Die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Kurden in der Türkei, die im Herbst 2014 vor dem Hintergrund der Kämpfe um das nordsyrische Kobane stattfanden, sind nur ein Beispiel für die »Durchlässigkeit« der Grenzen im Nahen Osten. Dessen scheinen sich viele westliche Experten und Politiker nicht bewusst zu sein. Seit dem Irakkrieg 2003 machen sie keinen Hehl mehr daraus, dass die Grenzen der arabischen Länder für sie »nicht heilig« seien.
Dabei beruft man sich gerne darauf, dass auch der »alte Nahe Osten« kein selbstgemachter war: Viele Grenzen wurden durch das Sykes-Picot-Abkommen aus dem Jahr 1916 festgelegt. Damals ging es Franzosen und Briten freilich nicht um eine vernünftige Gestaltung der Region nach geografischen oder kulturellen Gesichtspunkten, sondern um handfeste koloniale Interessen.
Das erklärt, warum viele Ideologien und politische Akteure in der arabischen Welt – vom islamistischen bis zum nationalistischen Lager – die »künstlichen« Grenzen nie wirklich akzeptieren konnten. Was sie heute mit einigen »neokolonialen Akteuren« eint – auch wenn Erstere für »größere« und Letztere für »kleinere« Staaten plädieren –, ist die Annahme, dass die Ziehung neuer Grenzen eine sinnvolle Antwort auf die Herausforderungen in der Region sein könnte.
Die bestehenden Handicaps der gegenwärtigen Staaten – Fehlen von Demokratie, Menschenrechten und Meinungsfreiheit; Mangel an Rechtstaatlichkeit, Bildung und wirtschaftlicher Entwicklung; Gewalt, Fanatismus und Kriege – werden jedoch durch kleinere, »homogenere« Staatsgebilde nicht zwangsläufig besser behandelbar, wie zuletzt die Teilung des Sudan gezeigt hat. Staaten sollten nicht auf ethnischen oder religiösen Homogenitäten basieren, sondern auf Inhalten und Werten.
Denn wie definiert sich umgekehrt eine sunnitische Außenpolitik? Worin unterscheidet sich ein christliches von einem schiitischen Gesundheitssystem? Und warum sollte es in einem alawitischen, ostlibyschen oder kurdischen Staat gerechter zugehen als in einem multiethnischen beziehungsweise multikonfessionellen Staat?
Aktham Suliman wurde 1970 in Damaskus geboren. Er arbeitete zehn Jahre lang für den katarischen TV-Sender Al-Jazeera, darunter mehrere Jahre als Deutschlandkorrespondent. Heute arbeiten Suliman als freier Publizist.