Der tunesische Forscher Amine Ghali erläutert im Interview, warum eine echte Reform des Sicherheitsapparats auch vier Jahre nach dem Sturz Ben Alis auf sich warten lässt.
zenith: Herr Ghali, was ist, vier Jahre nach dem Sturz von Zine el-Abidine Ben Ali, die größte Herausforderung für den politischen Übergangsprozess in Tunesien?
Amine Ghali: Eine der größten Gefahren ist das Sicherheitsproblem. Zum einen ist da die Instabilität in unserer Nachbarschaft. Die fundamentalistisch-islamistische Gewalt hat in den meisten Ländern der Region zugenommen, aber insbesondere in den Transitionsstaaten, etwa Syrien oder Libyen. Das stellt eine Bedrohung für den politischen Übergang auch hier in Tunesien dar. Zum anderen gibt es immer noch keine erfolgreiche Reform des Sicherheitsapparats in Tunesien. Wir müssen dieses Monster anpacken, um es zu reformieren, gemäß demokratischen Prinzipien und mit dem nötigen Respekt für Menschenrechtsstandards. Andererseits könnte eine Gegenbewegung in Gang kommen – ich würde es nicht Konterrevolution nennen, aber eine konterdemokratische Bewegung.
Welche Rolle haben das Innenministerium und die ihm unterstellten Sicherheitskräfte in dem Transitionsprozess bislang denn gespielt?
Am Wendepunkt der Revolution war der Sicherheitssektor sehr, sagen wir, fragil. Er agierte wegen der herrschenden Instabilität sehr vorsichtig. Im ganzen ersten Jahr nach der Revolution ist der Sicherheitsapparat eigentlich eher durch seine Abwesenheit aufgefallen, nach dem Motto: Ihr wollt uns reformieren? – Wir tun so, als wären wir nicht da.
Was hatte das für Folgen?
In dieser Zeit gab es viele Sicherheitsprobleme, die wir zuvor nicht gekannt hatten: Ausbrüche aus Gefängnissen, Probleme an den Grenzen, die Sicherheit in den Städten war nicht mehr gewährleistet. Während der Regierungszeit von Ennahda gab es dann einen merkwürdigen Deal: Drängt uns nicht zu sehr in Richtung Reform, wenn ihr wollt, dass wir für euch den Kampf gegen den Terrorismus führen.
Amine Ghali
ist Programmdirektor des Al Kawakibi Democracy Transition Center (KADEM), wo er sich vor allem mit Fragen des politischen Übergangs beschäftigt. Er war seit 2011 Mitglied verschiedener staatlicher Kommissionen. Ghali hat an der Pariser Sorbonne Rechtswissenschaften und in Houston International Management studiert. www.kawakibi.org
Und wie wurde diese Forderung aufgenommen?
Unglücklicherweise hat die breite Öffentlichkeit diesen Status mehr oder weniger akzeptiert. Und, was noch bedauerlicher ist, auch die politischen Akteure. Die Folgen zeigen sich nun. Das Innenministerium hat damals klargemacht: Wenn die Politik wolle, dass die Sicherheitskräfte den Terrorismus bekämpfen, dürfen sie es mit der Einhaltung der Menschenrechte nicht so genau nehmen. Dieser Diskurs wird bedauerlicherweise mehr und mehr anerkannt.
Steht das nicht einer der zentralen Forderungen der Revolution entgegen?
Viele Tunesier sagen: Wir sind in schwierigen Zeiten. Also lasst uns diesen Deal akzeptieren, um diese Phase zu überstehen. Was dabei unberücksichtigt bleibt, ist, dass solche einmal festgelegten Spielregeln in Zukunft kaum zu ändern sein werden – auch nicht in stabilen Zeiten, falls wir diese jemals erreichen. Dies ist also die Strategie des Innenministeriums, und so hat der Sicherheitsapparat über die letzten vier Jahre hinweg Schritt für Schritt seine zentrale Position zurückgewonnen.
Haben sich denn Transparenz und Verantwortlichkeit der Sicherheitssektors verbessert in dieser Zeit?
Es gibt durchaus Ansätze, mehr Transparenz zu schaffen. Ein kleiner Schritt war, dass das Innenministerium eine Medienstrategie ausgearbeitet hat. Manchmal hilft das, aber es kann auch schnell in Propaganda ausarten. Bei der Verantwortlichkeit hingegen gab es trotz allem keine Verbesserungen. Und genau das ist Teil des Deals, von dem ich gesprochen habe! Das Innenministerium sagt: Wir müssen unseren Status der Straffreiheit beibehalten. Das ist der Kern des Deals: Ja, wir versuchen, die Sicherheitslage zu verbessern. Ja, wir können reformieren – aber niemals kann der Status der Straffreiheit des Sicherheitsapparates angetastet werden. Wir sind keine reguläre Institution, welche verantwortlich gemacht werden kann. Weder von der Öffentlichkeit noch von der Politik oder von der Justiz.
Apropos: Welche Rolle hat die Justiz in diesem Prozess gespielt?
Nicht die effektive Rolle, die wir gerne sähen, denn die tunesische Justiz ist selbst sehr reformbedürftig. Und sich des Sicherheitssektors anzunehmen, ist die wohl schwierigste Aufgabe der Justiz nach einem revolutionären Machtwechsel. Dazu braucht man eine unabhängige und unparteiische Justiz, und an diesem Punkt sind wir noch nicht. Derzeit kann von Seiten der Justiz keine Initiative zur Reform des Sicherheitsapparats erwartet werden.
Wie stehen also die Chancen für eine substanzielle Sicherheitssektorreform in Tunesien?
Die Chancen werden jeden Tag geringer. Meiner Meinung nach hatten wir größere Aussichten auf eine Reform am Höhepunkt der Revolution – als das Innenministerium instabil, fragmentiert und schwach war. Es war sehr unbeliebt, und eine Reform wäre leichter gewesen. Aber wir hatten zu viele andere Dinge zu tun. Nach der ersten legitimen Wahl ...
... die im Herbst 2011 die islamische Ennahda-Partei an die Macht brachte ...
... hat dann die Regierung meiner Ansicht nach die Gelegenheit zu einer Reform des Innenministeriums verstreichen lassen. Wie ich schon sagte, gab es ein Stillhalteabkommen: Ihr müsst keine strukturelle Reform befürchten, wenn ihr unsere Parteiinteressen unterstützt. Was in meinen Augen noch schlimmer ist als die erste verpasste Gelegenheit zur Reform: Denn im Frühjahr 2011 wussten wir noch nicht genau, was wir tun. Aber bei dem Deal unter Ennahda handelte es sich um eine strategische politische Entscheidung. Sie wollten das Innenministerium übernehmen.
Wie meinen Sie das, übernehmen?
Das Ziel war die Stationierung eigener Leute in bestimmten Positionen innerhalb des Ministeriums. All die Entwicklungen der letzten zwei bis drei Jahre – der Aufbau paralleler Sicherheitskräfte, die politischen Morde, der Waffenschmuggel –, all das wurde von Funktionären im Innenministerium auf die Fehler von Politikern zurückgeführt. Sie klagten stets darüber, dass der politische Wille und die Unterstützung von oben fehlten, um dagegen vorzugehen: Wir wissen, was passiert, aber wir können nichts tun, weil uns die Hände gebunden sind. Zugleich hatte das Innenministerium gar kein Interesse an einer wirklichen Reform.
Haben die Wahlen an dieser Situation etwas geändert?
Wir haben keine Zeichen von Nidaa Tounes oder seinen potenziellen Partnern gesehen, dass eine Reform des Sicherheitssektors hoch auf der Agenda steht. Es ist aber auch noch zu früh, das zu beurteilen. Die Parteien brauchen vermutlich Zeit, um sich im neuen politischen Gefüge zu positionieren. Letztlich hat jedoch keine der großen Parteien bei einer Reform etwas zu gewinnen.
Das bedeutet, das Innenministerium wird seine Privilegien auch unter der nächsten Regierung aufrechterhalten können?
Wir könnten noch eine dritte Gelegenheit zur Reform haben: durch den Übergangsjustizprozess. Dieser Prozess hat noch nicht wirklich begonnen, aber eine Reform des Sicherheitssektors wird vermutlich ziemlich hoch auf der Agenda stehen. Wie viel sie aber wirklich tun können, ohne Unterstützung aus der Politik, bleibt abzuwarten. Zivilgesellschaftliche Unterstützung allein reicht wahrscheinlich nicht aus, um diese wichtige und große Institution zu reformieren.