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Gustave Flauberts Tagebuch seiner »Reise nach Ägypten«

Antike und Melancholie

Feature

Erstmals erscheint Gustave Flauberts Tagebuch seiner »Reise nach Ägypten« in einem Band inklusive der während des Aufenthalts gemachten Aufnahmen des Fotografen Maxime Du Camp.

Gustave Flauberts Tagebuch seiner Reise in den Nahen Osten 1849–51 ist ein Klassiker des Genres. Denn er thematisiert in nuce alles, was in den Jahrzehnten darauf auch andere Orientfaszinierte motivieren wird, dorthin zu fahren. Enttäuscht und gelangweilt vom bisherigen Leben, nutzt Flaubert (1821–1880) die Möglichkeit, seinen Freund Maxime Du Camp (1822–1894) auf eine Reise nach Ägypten, Nubien, Palästina, Libanon und Syrien zu begleiten. Im Auftrag des »Ministère de L’Instruction Publique« fährt der Journalist und Amateurarchäologe ins nordöstliche Afrika, um entlang des Nils Aufnahmen von antiken Monumenten und Denkmälern zu machen.

 

Flaubert, seit 1841 in Paris, um Jura zu hören, bricht einige Jahre später sein Studium nach einem epileptischen Anfall ab und geht auf Reisen im Mittelmeerraum. Diejenige in den Nahen Osten ist nicht nur eine Ablenkung von den schlechten Kritiken seiner bisherigen literarischen Arbeiten, sondern auch eine Möglichkeit, neues Material zu sammeln. Denn wie kaum ein anderer Teil der Welt beflügelt das Morgenland die Fantasien der Europäer. Geprägt von der Lektüre der Bibel und der Märchen von Tausendundeiner Nacht bietet ihnen der stark mythisch und historisch aufgeladene Orient eine optimale Projektionsfläche.

 

Er fungiert als geistiger, oft idyllischer Raum, in dem man sich vor des Lebens Unbill zurückziehen kann. Im Zeitalter der Industrialisierung wird es dann für immer mehr Menschen möglich, den Osten auch real zu bereisen und Anspruch und Wirklichkeit miteinander zu vergleichen. Das Land am Nil steht dabei besonders im Interesse, herrscht seit Napoleons Ägyptenfeldzug 1798–99 und den seitdem erfolgten, vielfältigen wissenschaftlichen Entdeckungen doch in Europa eine regelrechte Ägyptenmode etwa in der Literatur und Kunst, Mode und Architektur vor. Von der antiken Nil-Kultur fasziniert sind auch Flaubert und Du Camp.

 

Das Ergebnis von Flauberts Orientaufenthalt 1849–51 ist ein Tagebuch, das der spätere Autor der Romane »Madame Bovary« (1857) und »L’Éducation sentimentale« (1869) zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht hat – im Gegensatz zu Maxime Du Camp, der während der Reise Gedichte und Romane schreibt und später auch fotografische Werke über Afrika und den Orient publiziert. Flauberts Aufzeichnungen kommen erst 1910 im Rahmen seiner Gesammelten Werke heraus. Acht Jahre später erscheint eine erste deutsche Übersetzung seiner Notizen aus Ägypten und Nubien aus den Jahren 1849–50 durch Eduard Wilhelm Fischer.

 

Diese dient auch als Textgrundlage für eine 2011 erschienene Neuausgabe, die mit knapp 50 Aufnahmen von Maxime Du Camp aus Nordafrika mehr Fotos als etwa die Insel-Ausgabe von Flauberts »Reise in den Orient« (Frankfurt/Main 1985) beinhaltet, die ihrerseits eine neuere Übersetzung, ein Register sowie ein Nachwort vorweisen kann.

 

Eine Erkundungsreise mit Therapiecharakter

 

Die Fotos sind in der Neuausgabe in den Text integriert und korrespondieren mit ihm, illustrieren die genaue Schilderung des von Flaubert Erlebten, wie sie auch ein »unberührtes« Ägypten zeigen, das noch nicht vom modernen Massentourismus erobert worden ist. Zu entdecken sind die zahlreichen, nicht selten gewaltigen Tempelanlagen, die beide während ihres gemeinsamen Aufenthalts besuchen. Neben Kairo und seinen neueren Moscheen zeigen die zahlreichen Fotos altägyptische Stätten wie die Pyramiden und die Sphinx von Gizeh, die Felsengräber von Lykopolis beziehungsweise Asyut, die Kolossalstatuen vom großen Tempel von Abu Simbel oder die große Säulenhalle der Anlage von Karnak.

 

Du Camp hat aber auch die meist karge, wüstenreiche Landschaft berücksichtigt, den Nil mit seinen Inseln und Katarakten aufgenommen, und so das Bild von einem Land geschaffen, das einerseits ursprünglich und zeitlos wirkt, andererseits aber von einer großen Vergangenheit zeugt, deren Monumente und Denkmäler Bewunderung hervorrufen und zugleich Fragen aufwerfen.

 

Flaubert stellt da keine Ausnahme dar. Er schildert durchgehend, was er für Sehenswürdigkeiten sieht und versucht, selbst die Funktion der Anlagen, ihrer Anordnung und Reliefs zu ergründen. So sehr er die Altertümer auch bewundert, so ehrlich ist er aber auch, als er am Ende seiner Reise, fiebrig geworden, bekennt, »allmählich genug von den Tempeln« zu haben. Diese Aussage verweist zugleich auf den Bruch mit Du Camp, der schrittweise während der Reise erfolgt.

 

An anderer Stelle findet sich eine weitere Anspielung hierauf: »Neue Aufnahmen. Das Mittel steht in keinem Verhältnis zum Zweck; süße Muße in der Sonne ist weniger unfruchtbar als diese Beschäftigungen, an denen das Herz keinen Anteil nimmt.« Was hier auffällt und auf das Gesamte verweist, ist die Ambivalenz von Gustave Flauberts Reisebuch, das im Grunde zwei Ebenen besitzt. Der Autor nutzt die »Reise in das antike Altertum«, wie er sie am Anfang seiner Notizen nennt, auch, um einer großen Melancholie, die ihn damals beherrscht, zu entkommen.

 

»Wir kehren durch die Wüste zurück. – Samstag, Sonntag und Montag in Philae kampiert. – Ich gehe nicht von der Insel herunter und langweile mich dort. Was ist das für ein ewiger Überdruss, o mein Gott, den ich mit mir herumschleppe! Er hat mich auf der Reise verfolgt! Dejaniras Hemd klebte nicht fester auf dem Rücken des Herkules als die Langeweile an meinem Leben! Nur zerstört sie es langsamer, das ist der ganze Unterschied!«, notiert der 28-Jährige im April 1850. Es gibt wiederholt Stellen solcherart, die deutlich machen, dass die Reise lediglich eine Unterbrechung der Resignation und Ziellosigkeit darstellt, die Flaubert umtreiben. Nicht unwahrscheinlich ist, dass das Scheitern der Februarrevolution 1848 in Frankreich, zu dessen Anhängern er zu zählen ist, einen entscheidenden Einfluss auf seine Verfassung ausübt.

 

Flaubert ist in seiner Beschreibung ein Kind seiner Zeit

 

Nichtsdestotrotz wird sich die Reise in den östlichen Mittelmeerraum langfristig positiv auf seine literarische Arbeit auswirken. Dabei ist das Tagebuch aus Ägypten und Nubien schon selbst – trotz oder gerade wegen der besonderen Disposition seines Autors – ein bedeutendes, wenn auch widersprüchliches Werk. Man bemerkt sogleich, dass der Ich-Erzähler ein sehr neugieriger Mensch und genauer Beobachter seiner Umwelt ist.

 

Er beschreibt präzise und sucht beständig nach den Ursachen der Dinge. Er kritisiert andere, äußert sich zugleich aber auch offen über seine eigenen Schwächen und Fehler. Nach der Hinreise, die die beiden Männer über Marseille und Malta nach Nordafrika führt, interessiert sich Flaubert nicht nur für die Geschichte und Architektur im Niltal. Mindestens genauso, wenn nicht sogar stärker, zieht ihn das zeitgenössische Nordafrika an. Zwischen den Touren zu den antiken Stätten kampieren Du Camp und er in den verschiedensten Ortschaften. In Kairo etwa treffen sie Geschäftsleute, Beamte und andere Reisende aus Frankreich, England, Deutschland und Polen, wie sie auch die einheimische Bevölkerung kennen lernen.

 

Flauberts Darstellung ist dabei reich an Informationen. Auf den heutigen Leser wirkt sie freilich teilweise klischeehaft. Man fragt sich, inwiefern seine Schilderungen der Realität entsprechen und welche Rolle seine Vorurteile hierbei spielen. Die Beschreibung von einheimischen Tänzerinnen, die er daheim aufsucht, und sich lasziv und feminin gebenden Männern, die ihm und seinen Bekannten ihre Tänze und Gesänge darbieten, zeugt von Neugierde und Faszination für das Unbekannte und Verbotene.

 

Es liegt sicherlich im Trend der damaligen Literatur, die vor allem an den Lyriker Charles Baudelaire (1821-1867) erinnert, dass er Interesse für das Morbide und Hässliche hat. Verfallene Stadtteile, Krankenhäuser und ihre Insassen ziehen ihn an. Er beschreibt auch, wie Du Camp und er während ihrer gemeinsamen Ausgrabungsarbeiten in den Tempelanlagen wiederholt auf Mumien und Knochen stoßen. Verstärkt wird dieser Hang wohl durch seine Neigung zum Schwermut, die ihn für das Düstere empfänglich macht.

 

Auffällig ist ebenfalls die Gegensätzlichkeit in Flauberts Einstellung. Einerseits wirkt er offen und am Leben der Orientalen interessiert. Er geht unter die Menschen, setzt sich in Cafés und beobachtet das rege Treiben in den Städten wie das langsame auf dem Land, das ihn an biblische Szenen erinnert. Er äußert sich positiv über die arabische Sprache und das liebenswürdige Verhalten von Türken, denen er begegnet. Andererseits ist er ein Kind seiner Zeit, was sich etwa in der Ethnologie äußert, die er betreibt. So spricht er mehrfach über die »Negerrassen« und verweist auf eine angebliche Tierähnlichkeit der Afrikaner. Es ist nicht nur hier eine gewisse Distanz und Kälte bei ihm zu beobachten.

 

Auch gewinnt man den Eindruck, als würde er sich lieber mit sich selbst als mit der Fremde beschäftigen und eher die Bequemlichkeit suchen. Recht kritisch schreibt Du Camp in seinen »Erinnerungen an Flaubert«: »Wenn er gekonnt hätte, so wäre er am liebsten auf einem Sofa liegend gereist, ohne sich zu rühren, hätte die Landschaften, die Ruinen und die Städte an sich vorüberziehen sehen wie die Leinwand eines Panoramas, die sich mechanisch entfaltet.«

 

Einblick in die Gedankenwelt des Literaten vor seinem Durchbruch

 

Dennoch, was Flauberts Tagebuch in Verknüpfung mit den von Maxime Du Camp geschossenen Aufnahmen gerade so besonders macht, ist ihre Entstehungszeit. Beide zeigen eine Region, die vom Imperialismus und Tourismus westlicher Großmächte erst allmählich erfasst wird. Bei Flaubert herrscht dabei der Eindruck eines antiken und unberührten, zugleich und in vielerlei Hinsicht aber auch verfallenen Landes vor.

 

Zwischen Anteilnahme und Distanz, Interesse für das Fremde und Selbstbezogenheit wankend, macht er wiederholt auf die schleichende Globalisierung und Modernisierung aufmerksam. So wenn er von westlichen Touristen erzählt, die auf den Spuren des Ägyptologen Jean-François Champollion (1790-1832) ihre Namen in Altertümer einritzen, von der Einführung europäisch inspirierter Uniformen beim Militär spricht oder Ingenieure erwähnt, die nach Ägypten kommen, um Telegrafenleitungen zu legen, um es so stärker an die Weltwirtschaft anzuschließen.

 

»Die Reise nach Ägypten« sei all jenen empfohlen, die sich für einen solchen, freilich zeittypischen Blick auf den Orient zu Beginn seiner Verwestlichung interessieren. Flauberts Tagebuch bietet nicht nur eine fesselnde und an Widersprüchen reiche Darstellung Ägyptens und Nubiens mit all ihren Verschiedenheiten und doch auch Ähnlichkeiten zum Westen, die hier nur angerissen werden konnten. Sein Bericht, der bei der Abfahrt in Frankreich einsetzt und die Reise bis vor die syrische Küste beschreibt, ermöglicht es auch, die Gedankenwelt des später so berühmten Schriftstellers in einer für ihn schwierigen Zeit näher zu erkunden. Die Schwarz-Weiß-Bilder von Maxime Du Camp veranschaulichen dabei die Perspektive der beiden von Ägypten faszinierten Männer und erlauben es dem Leser, ihr Erstaunen angesichts der fremden Kultur und ihrer vielfältigen Sehenswürdigkeiten selbst nachzuvollziehen.


Die Reise nach Ägypten 1849–50

Gustave Flaubert / Maxime Du Camp

Aus dem Französischen von Eduard Wilhelm Fischer

Parthas Verlag, Berlin 2011

255 Seiten, Euro 19,80

Von: 
Behrang Samsami

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