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10 Jahre Al-Sisi und Ägypten vor den Präsidentschaftswahlen

General Chaos

Feature
10 Jahre Al-Sisi und Ägypten vor den Präsidentschaftswahlen
Wahlkampfplakat in Kairo im November 2023 Christian Hanelt

Abdul-Fattah Al-Sisi trat an, um Ägypten in ruhige Fahrwasser zu führen. Zehn Jahre später fällt seine Bilanz verheerend aus. Doch die Regierung hält einen entscheidenden Trumpf.

Ab 2024 gehört Ägypten zum Klub der Gernegroßen. Die Gruppe der aufstrebenden Schwellenländer BRICS hat bei ihrem Gipfel in Südafrika im August die Aufnahme von sechs Staaten beschlossen – darunter das Land am Nil. Ägypten steht dann in einer Reihe mit China, Indien und dem ebenfalls neu aufgenommenen Saudi-Arabien. Mehr Gemeinsamkeiten dürfte die Regierung von Präsident Abdul-Fattah Al-Sisi hingegen mit anderen, weniger einflussreichen, Staaten in dieser Gruppe haben: Südafrika und Argentinien.

 

Inmitten eines selbst für ägyptische Verhältnisse heißen Sommers begann die Regierung, ihren Bürgerinnen und Bürger stundenweise den Strom abzustellen. Für viele Menschen eine neue Erfahrung: »Ich wusste gar nicht mehr, was ein Stromausfall ist«, sagte der Bewohner eines neu errichteten Sozialbauprojekts im Südosten Kairos der Nachrichtenagentur Reuters. Anders in Südafrika: Dort rationiert die Regierung mit Hilfe von »load-shedding« (zu Deutsch: »Lastabwurf«) bereits seit 2022 den Strom für Haushalte und Geschäfte.

 

Die Parallele zu dem ebenfalls neuen BRICS-Mitglied Argentinien findet sich im Staatshaushalt: Beide Länder haben 2023 weltweit die höchsten Kredite vom Internationalen Währungsfonds (IWF) in Anspruch genommen: Argentinien 46 Milliarden US-Dollar, Ägypten 18 Milliarden US-Dollar. Und beide haben Schwierigkeiten, die Schulden zu tilgen. Die jüngste Kreditvereinbarung vom Dezember 2022 hat der IWF vorerst auf Eis gelegt, unter anderem, weil Kairo die geforderte Flexibilisierung des Wechselkurses des Ägyptischen Pfunds verweigert. Präsident Sisi argumentierte, eine weitere Abwertung der Währung werde es mit ihm nicht geben, da darunter die Bevölkerung leide.

 

»Freie Wahlen wären das Ende der Herrschaft von Sisi«

 

Doch die Menschen ächzen ohnehin schon. Die Stromausfälle sind für viele Ägypter nur das offensichtlichste Anzeichen dafür, dass ihr Land in einer massiven Wirtschaftskrise steckt. Hinzu kommt eine Rekordinflation: Laut der staatlichen Statistikbehörde stiegen die Preise zwischen Juli 2022 und Juli 2023 um 36,5 Prozent. Bei Lebensmitteln lag die Rate noch höher. Immer größere Teile der Bevölkerung rutschen so in die Armut. Selbst zum Opferfest im Juni konnten sich viele Ägypter kaum noch Fleisch leisten.

 

Entsprechend groß ist der Unmut in der Bevölkerung vor am 10. und 12. Dezember anstehenden Präsidentschaftswahlen. Wie groß genau, das lässt sich allerdings kaum sagen. Weder gibt es in Ägypten unter Sisi unabhängige Umfragen noch nennenswerte Oppositionsparteien, denen sich unzufriedene Bürger anschließen könnten. Die Muslimbruderschaft ist weitgehend zerschlagen und intern zerstritten, den säkularen Aktivisten von 2011 – sofern sie das Land nicht verlassen haben oder inhaftiert wurden – fehlt die Energie, um sich erneut gegen das Regime aufzulehnen. Dass der Unmut der Menschen in politischen Widerstand umschlägt, damit rechnen die meisten Beobachter deshalb nicht.

 

Dennoch sagt Basma Mostafa: »Freie Wahlen wären das Ende der Herrschaft von Sisi« – um gleich hinzuzufügen: »Ich habe keine Hoffnung.« Die Journalistin lebt seit zwei Jahren in Deutschland im Exil. Eine Rückkehr nach Ägypten kann sie sich nicht vorstellen, solange Sisi an der Macht ist – zu groß ist ihre Angst, verhaftet zu werden.

 

Wird das Regime dennoch den Raum für Gegenkandidaten bei den Präsidentschaftswahlen etwas weiter öffnen als noch 2018, als Sisi nach offiziellen Angaben mehr als 97 Prozent der Stimmen erhielt? Ein zumindest kleines Zugeständnis nach innen und außen? Basma Mostafa rechnet nicht damit. Sie verweist auf den Fall von Ahmed Tantawi. Der ehemalige oppositionelle Parlamentsabgeordnete hatte im Frühjahr 2023 aus dem libanesischen Exil heraus seine Kandidatur angekündigt. Daraufhin wurden nach Angaben von Human Rights Watch zwölf Angehörige und Unterstützer Tantawis in Ägypten festgenommen.

 

Plötzlich schien Gamal Mubarak zum Hoffnungsträger für mehr politischen Wettbewerb in der ägyptischen Autokratie zu werden

 

In Kairo kursierten dennoch schnell wilde Gerüchte über mögliche Kandidaten. Dabei fielen auch bekannte Namen, wie der von Gamal Mubarak, dem Sohn des 2011 gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak. Es blieb beim Gerücht, aber allein das sprühte schon vor historischer Ironie. Die Proteste gegen Mubarak den Älteren hatten sich auch daran entzündet, dass er Gamal als Nachfolger aufbauen wollte. Plötzlich schien dieser zum Hoffnungsträger für mehr politischen Wettbewerb in der ägyptischen Autokratie zu werden.

 

In den Wochen vor der Wahl war es vor allem Ahmed Tantawi, der lautstark gegen das Sisi-Regime wetterte. Diejenigen, die einen wirklichen Wandel in Ägypten anstreben, setzen seine Hoffnungen in ihn. Allerdings hat die Regierung Tantawis Kampagne und seine Unterstützer massiv behindert. Doch zumindest den Anschein von mehr Einbindung von größeren Teilen der Bevölkerung und der politischen Klasse will die Regierung inmitten der Wirtschaftskrise erzeugen.

 

Freilich ohne große Zugeständnisse in Sachen demokratische Teilhabe. 2022 rief die Regierung dazu den »Nationalen Dialog« ins Leben, an dem auch Oppositionsparteien teilnehmen. Die Journalistin Mostafa sieht darin aber nur »eine Show«, die gegenüber dem Westen Reformbereitschaft vortäuschen soll: »Das Regime hat im Rahmen des sogenannten Dialogs zwar einige Menschenrechtler freigelassen, im gleichen Zeitraum kamen aber noch viel mehr Menschen ins Gefängnis.«

 

Tatsächlich wirken die letzten Monate wie ein grausames Nullsummenspiel: Einerseits wurden der bekannte ägyptische Menschenrechtsanwalt Mohammed Baker und der Wissenschaftler Patrick George Zaki im Sommer freigelassen, andererseits erlebte die Deutsche Fagr Eladly wenige Wochen später, dass ihr ägyptischer Vater nach der Einreise in Kairo festgenommen wurde. Offiziell wird er beschuldigt, Falschmeldungen verbreitet zu haben. Menschenrechtler glauben hingegen, dass der Mann wegen eines Ereignisses im Sommer 2015 verhaftet wurde. Bei einer Pressekonferenz in Berlin während des Staatsbesuchs von Sisi beschimpfte Fagr Eladly damals den ägyptischen Präsidenten als Mörder. Nun wird offenbar ihr Vater dafür bestraft.

 

Die Angst vor Chaos und Instabilität bleibt daher Sisis größter Trumpf, innen- wie außenpolitisch

 

Während die Regierung Sisi innenpolitisch höchstens kleine Freiräume zulässt, droht die weitaus größere Gefahr aufgrund der desolaten Finanzlage: Ägyptens Auslandsverschuldung hat sich von 2015 bis 2022 vervierfacht – auf mehr als 150 Milliarden Euro. Stephan Roll, Leiter der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin betont, dass nicht nur der IWF langsam ungeduldig wird, sondern auch die Geldgeber aus der Nachbarschaft. »In den Vereinigten Arabischen Emiraten und vor allem in Saudi-Arabien ist der Ärger groß und die Bereitschaft, noch mehr Geld nach Ägypten zu pumpen, immer geringer geworden«, sagt Roll im Gespräch mit zenith. Schon 2016 hatte Ägyptens Präsident angekündigt, dass die beiden im Roten Meer gelegenen Inseln Sanafir und Tiran an Saudi-Arabien übergeben werden – im Gegenzug für die finanzielle Unterstützung aus Riad. Vollzogen wurde dieser Schritt bislang allerdings nicht.

 

Das Misstrauen der Golfstaaten – Roll spricht gar vom »Ende einer Allianz« – wird nicht verschwinden, nur weil Ägypten, Saudi-Arabien und auch die Vereinigten Arabischen Emirate demnächst gemeinsam der Staatengruppe BRICS angehören. Dennoch verspricht sich Ägypten von der Mitgliedschaf nicht zuletzt auch ökonomische Vorteile. Yomn Hamaki, Wirtschaftsprofessorin an der Ain-Shams-Universität in Kairo, sagte dem Portal Al-Monitor, die Entwicklungsbank der BRICS-Gruppe könne für die Finanzierung von Infrastrukturprojekten in Ägypten von großem Nutzen sein. Wie andere Experten auch warnt sie jedoch davor, sich von der Mitgliedschaft im Klub der Schwellenländer eine grundlegende oder auch nur kurzfristige Lösung der Finanzprobleme des Landes zu erhoffen.

 

Und Präsident Sisi? Der macht in seinen Reden die Folgen der Corona-Pandemie und die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine für die Wirtschaftskrise verantwortlich. Bei den Gläubigern stößt das kaum auf Verständnis. Sie bemängeln, dass die ägyptische Regierung Milliardensummen in zweifelhafte Projekte wie den Bau einer neuen Verwaltungshauptstadt gesteckt hat und dass die versprochene Privatisierung von staatlichen Betrieben nur stockend vorankommt. Der ägyptische Schuldenberg ist inzwischen so groß, dass manche bereits mit dem finanziellen Kollaps des Landes rechnen.

 

Für die Regierung in Kairo ist das unvorstellbar. Sie setzt darauf, dass ihr Land mit seinen 108 Millionen Einwohnern »too big to fail« ist, dass niemand in der internationalen Politik Interesse daran hat, Ägypten scheitern zu sehen. Für den IWF geht es dabei auch um den eigenen Ruf; und in Europa ist die Furcht groß, dass Ägypter in großen Zahlen die Flucht übers Mittelmeer antreten. Die Angst vor Chaos und Instabilität bleibt daher Sisis größter Trumpf, innen- wie außenpolitisch.

Von: 
Moritz Behrendt

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