Im Februar 2011 gab Hossam Badrawi dem angeschlagenen Präsidenten Hosni Mubarak einen Rat, den dieser nicht befolgte. Im Interview spricht der frühere NDP-Funktionär über die Macht des Regimes Sisi – und ob es Ägypten heute besser geht.
zenith: Professor Badrawi, Deutschland, die Europäer, alle, die 2011 mit Sympathie auf die Umbrüche in Ägypten geschaut haben, sind irritiert. Was ist eigentlich los bei Ihnen?
Hossam Badrawi: Wenn wir uns den Zerfall der Staaten in unserer Region anschauen, müssen wir doch sagen: Ägypten ist stabil als Staat und die Institutionen sind darin fest verankert. Derweil läuft die Wirtschaft an; wir bewegen uns relativ frei. Ich würde sagen: Ägypten geht um gute 60-70 Prozent besser als vor dem Sturz der Muslimbrüder. Ich verstehe die Verwirrung. Das liegt vor allem daran, dass ein Sachverhalt im Westen noch nicht zutreffend wahrgenommen wird. Der Machtwechsel vom 30. Juni 2013 ...
... als die ägyptische Armee die Regierung der Muslimbrüder stürzte ...
.... hatte den Rückhalt der ägyptischen Bevölkerung!
Mit dem Stabilitätsargument ist es so eine Sache. Mancher meint: Hauptsache Sisi bekommt den Terror in den Griff. Und dann? Immer mehr Anschläge, die Armee verliert die Kontrolle über ganze Gebiete im Sinai an Dschihadisten. So stark scheint das Regime ja nicht zu sein.
Ich habe nicht gesagt, dass das Regime besonders stark sei, sondern dass es die Unterstützung der Bevölkerung genießt. Die Muslimbrüdern ließen im Sinai eine Menge fremder Kämpfer unbehindert eindringen – mit denen haben wir es jetzt tun. Hunderte Soldaten und Polizisten sterben in diesem Kampf, einen weiteren Beweis für die Aggressivität des Gegners muss man nicht erbringen. Der Südsinai ist übrigens voller Touristen - ich komme gerade von dort. Die Probleme haben wir im Norden. Gewalt springt über und in einem solchen Klima kommt es auch seitens der Sicherheitskräfte zu Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen, die aber so nicht beabsichtigt sind.
Ein unerfreuliches Nebenprodukt des Kampfes gegen Terror? Man fragt sich derzeit schon, ob Gewalt, Folter und sexueller Missbrauch nicht vielmehr System haben, um Menschen einzuschüchtern. Darunter leiden ja nicht nur Islamisten, sondern auch liberale Gruppen.
Der Grund ist Inkompetenz im Umgang mit der Sicherheitslage. Ich denke, die Regierung ist bereit, dagegen vorzugehen – hier kann und Deutschland übrigens wirklich helfen, Polizisten auszubilden. Wenn man sich an wissenschaftliche, forensische Methoden bei Ermittlungen hält, braucht man keine Gewalt anzuwenden. Wir sollten solche Übergriffe als zivilgesellschaftliche Gruppen, als NGOs, übrigens nicht tolerieren.
Als NGO-Aktivist steht man doch mit einem Bein im Gefängnis. Zumal wird es immer schwieriger, überhaupt Finanzmittel zu bekommen – etwa aus dem Ausland. Die Deutschen wollen gerne enger mit ägyptischen NGOs arbeiten. Aber Kairo sperrt sich und will alles mit entscheiden: Mit wem gearbeitet wird, wieviel Geld es gibt, überhaupt welche Projekte gemacht werden. Damit erstickt man eher die Zivilgesellschaft, als dass man sie fördert.
Ich habe betreibe selbst eine NGO, eine Stiftung für Bildung und Gesundheit, in die alle unsere Familienmitglieder drei Prozent ihres Einkommens geben. Wir haben derzeit Probleme, Funding aus dem Ausland zu bekommen. Ich habe aber auch Verständnis für die Paranoia der Behörden, angesichts der Massen von Geldern, die früher ins Land kamen und es mitunter destabilisierten. Die NGOs müssen transparent sein – und niemanden trainieren, um Straßenschlachten anzuzetteln. Ich versuche, genau diesen Dialog zwischen Regierung und NGOs aufzubauen, damit das Verständnis besser wird und alles legal abläuft.
Am Ende aber doch keine rechtliche, sondern eine politische Frage: Die Zivilgesellschaft sollte nicht von der Regierung kontrolliert werden, sondern umgekehrt.
Richtig. Eine effiziente Regierung sollte Pläne für die Entwicklung haben und die NGOs einladen, komplementär zu wirken. Sie sollte die NGOs aber nicht bei der Arbeit behindern und sie auch nicht zwingen, etwas gegen ihren Willen zu tun.
Hossam Badrawi
Der 1953 geborene Ägypter studierte in Kairo, Michigan und Sunderland. 2000 wurde Badrawi Abgeordneter der herrschenden »Nationaldemokratischen Partei« (NDP) und später Berater von Präsident Hosni Mubarak. Dieser ernannte Badrawi inmitten der Proteste am 5. Februar 2011 zum Generalsekretär der NDP. Nach Mubaraks Sturz wirkte Badrawi bei der Gründung zweiter säkularer Parteien mit: Misr Al-Nahda (»Renaissance«) und Al-ttihad (»Union«).
Wie sieht es mit den Muslimbrüdern aus, die im ganzen Land – zum Teil sogar im Ausland – verfolgt werden: Kann man die Ihrer Meinung nach politisch wieder integrieren oder werden sie jetzt einfach ausradiert?
Auch wenn sie im Westen als moderat gelten, sind die Muslimbrüder die ideologisch-philosophischen Vordenker der gewalttätigen Dschihadisten – und sie haben Gewalt immer auch als politisches Mittel genutzt. Die Muslimbrüder sind keine kleine Gruppe, bestimmt 600.000 Menschen zuzüglich ihrer Familien und Unterstützer. Wir müssen bereits sein, auch sie hier in den gesellschaftlichen Prozess zu integrieren, sofern sie die Verfassung akzeptieren: Ägypten ist kein religiöser Staat.
Über 1.000 Todesurteile seit 2014 – oft genügt ja schon der Verdacht, Mitglied der Muslimbrüder zu sein. Wer oder was soll denn da politisch integriert werden?
Ich bin persönlich gegen die Todesstrafe. Schon für eine solche Aussage hätten mich die Muslimbrüder angegriffen. Sie finden ja, dass die Todesstrafe gottgefällig sei. Zudem: Ich bin kein Rechtsexperte, aber die meisten dieser Todesurteile sind nicht final, es gibt noch einige Stufen und Instanzen zu nehmen. Bestätigt sind sie in Fällen, wo nicht politische Entscheidungen, sondern konkrete Verbrechen vorlagen. In vielen Fällen wurde die Höchststrafe verhängt, auch weil man in Abwesenheit des Angeklagten urteilte. Wer zu seinem Prozess erscheint, ist vielleicht besser dran.
Wird man an Mursi ein Exempel und statuieren und ihn aufhängen?
Ich denke es nicht. Und ich hoffe es nicht.
Sie und andere Politiker werfen den Muslimbrüdern vor, nach ihrem Wahlsieg dem Land ihre islamischen Regeln aufgezwungen zu haben. Aber hat der Machzuwachs des konservativen Islams in Ägypten nicht unter Mubarak begonnen?
Graduell begann das in der Tat mit der Verfassungsänderung von 1981, womit die Muslimbrüder sogar einen islamischen Bezugspunkt im Gesetz bekamen. Unter Mubarak, während der 1990er Jahre, wurden die Muslimbrüder ja aufgewertet und in das politische System integriert. Als Mursi an die Macht kam, hat er uns alle von der Macht ausgeschlossen. Er konnte aber nicht herrschen, weil die Institutionen sich das nicht gefallen ließen.
Sie sagen, Ägypten sei heute besser dran als im Sommer 2013. Auch besser als vor der Revolution von 2011?
Nein. Wir hatten damals ein Wachstum von fast 7 Prozent, hunderttausende neue Jobs jedes Jahr. Es gab keine politische Freiheit und ein geschlossenes Herrschaftssystem. Bisher war die Revolution noch kein Erfolg. Wir haben unser ökonomisches Momentum verloren und konnte die politische Freiheit nicht erreichen. Ich bin überzeugt, dass Sisi bereit ist, das System zu öffnen. Ich gehöre übrigens nicht zu seinen Leuten.
Wann wird bei den Parlamentswahlen herauskommen, die nun im Oktober 2015 stattfinden sollen?
Zunächst wird keine Partei dominieren oder aus eigener Kraft eine Mehrheit zustande bringen. Es wird viele Einzelkämpfer geben, viele Kleingruppen, die zu einer Allianz zusammenfinden müssen. Die Salafisten werden dabei sein, vielleicht mit 5 bis 10 Prozen. Die Muslimbrüder wohl nicht.
Treten Sie selbst als Kandidat für das Parlament an?
Jetzt nicht, beim nächsten Mal vielleicht. Ich beobachte derzeit lieber, analysiere, habe meine wissenschaftliche Betrachtungsweise. Freue mich aber, dass mein Rat gehört wird.
Für Hosni Mubarak galt das nicht. Sie haben ihm im persönlichen Gespräch damals empfohlen, von der Macht zu lassen, aber nicht pötzlich.
Er hatte Angst, dass nach ihm entweder die Armee oder die Muslimbrüder übernehmen. Ich sagte zu ihm: Sie können verfassungskonform abtreten, Neuwahlen ansetzen und erklären, dass Sie selbst nicht mehr antreten!
Warum hat er nicht darauf gehört?
Er stimmte erst einmal zu. Dann verschob er die Entscheidung immer wieder und wieder. Derweil kochte das Volk, die Forderungen wurden größer. Ich sprach mit Jugendlichen auf dem Tahrir, die eine solche Lösung zu Beginn der Revolution akzeptiert hätten, danan aber nicht mehr. Das Glück des Umbruchs 2011: Menschen konnten den Wandel erreichen. Das Unglück: Es geschah nicht verfassungsgemäß und brachte uns großes Chaos.
Hielt Mubarak sich eigentlich für einen guten Regenten?
Er fühlte sich missverstanden und meinte, es habe sich doch vieles unter ihm verbessert. Ich sagte: Ein Drittel der Ägypter kennt keinen anderen Herrscher als Mubarak, deshalb bringt es wenig, über früher zu reden – zumal in der Politik.
Reden wir trotzdem nochmal über früher. Wir kennen die Ägypter insgesamt doch als ein humorvolles, entspanntes Volk. Expats und Journalistenkollegen wandern derweil in großem Stile aus Kairo ab. Sie sagen: Die Ägypter haben ihren Sinn für Humor verloren. Stress und Aggressivität bestimmen das Geschehen.
Schauen Sie: Wir befinden uns gerade in einer Szene aus einem langen Film. In dieser Szene treten gerade ein paar gute, aber auch üble Charaktere auf, die Umstände und die Gewalt belasten alle schwer. Aber es wird auch wieder heitere Szenen geben.
Weiß Sisi, wann die Szene für seinen Abtritt kommt, oder will er jetzt bis zum Ende im Film bleiben?
Nach dem, was geschehen ist, wird sich kein Präsident in Ägypten mehr trauen, hier ewig herrschen zu wollen. Darauf können Sie sich verlassen.