Lesezeit: 7 Minuten
Bildungsreform der AKP

Ehe vor Bildung

Feature
von Arzu Eti

Geht die Bildungsreform der AKP durch das Parlament, könnten Eltern ihre Töchter bereits nach vier Jahren von der Schule nehmen. Kritiker befürchten einen bildungspolitischen Rückfall ­– und einen Freifahrtsschein für die Kinderheirat.

In der Türkei wurde diese Woche die Gesetzvorlage für Änderungen im Bildungssystem breit diskutiert – die neue Vorlage wird schlicht als »4+4+4« bezeichnet. Das neue Gesetz sieht vor, die 8-jährige Bildungspflicht auf angeblich 12 Jahre zu erhöhen, dies aber auf jeweils getrennte 4 Jahre. Daher die Bezeichnung 4+4+4. Doch die Zahlen sind trügerisch, denn mit einer wirklichen Bildungsreform, wie sie die regierende AKP verspricht, hat der Gesetzesvorstoß nur bedingt zu tun.

 

Das türkische Parlament, der Bildungsausschuss und das Ministerium für Jugend und Sport besprechen zurzeit die von den Parlamentabgeordneten der AKP vorgelegte Gesetzesnovelle. Eigentlich, so die Argumentation die neue Gesetzgebung, jedem Kind die Gelegenheit geben, eine hochwertige Ausbildung zu erhalten.

 

Tatsächlich wird die Vorlage es wohl insbesondere Mädchen ab dem 4. Schuljahr erheblich erschweren, ihre Bildung fortzuführen. Denn es sind meist Mädchen, die in der Türkei von ihren Familien gerade bis zum Ende der Pflichtausbildung zur Schule geschickt werden. Wenn sich diese Grundbildungszeit nun auf vier Jahre reduziert, sieht es finster aus.

 

Die Mindestschulpflicht in der Türkei liegt derzeit bei acht aufeinander folgenden Jahren. Sollte das Bildungssystem in separate Stufen eingeteilt werden, wird vielen Familien der Entschluss erleichtert, ihre Töchter nach der ersten vierjährigen Stufe, die als einzige verpflichtend ist, aus dem Schulbetrieb zu nehmen. Zudem wertet das Gesetz auch das bislang obligatorische einjährige Vorschulprogramm ab.

 

Gesetzgebung am Parlament vorbei

 

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der türkische Unternehmerverband  TÜSİAD etwa zögerte nicht, seine Befürchtungen vor laufenden Kameras zu äußern und kritisierte, dass das neue Gesetz, entgegen der offiziell verkündeten Stoßrichtung, eher für einen Rückgang der allgemeinen Bildung sorgen werde.

 

Nicht nur werde den Mädchen potenziell der Weg zu Schul- und zur Fortbildung versperrt. Bedenklicher noch sei, so die Kritiker, dass das Gesetz indirekt einen Anstoß gebe, junge Mädchen noch früher zu verheiraten. »Uçan Süpürge – Fliegender Besen«, ein Verein für Frauenrechte, bewertete die  Gesetzvorlage mit den Worten: »Die Jungs sollen eine Lehre anfangen und die Mädchen hängen einfach nur zu Hause herum!«

 

Nach der 4-jährigen Grundbildung sind Berufszieleinrichtungen unter dem Namen »Lehrlingsprogramm« und »Berufsfortbildung« vorgesehen. Über den Inhalt der Fortbildungsmaßnahmen, die eigentlich auch Teil der Bildungsreform sind, werden die Abgeordneten allerdings nicht abstimmen können. Das Program hierfür soll vom Ministerrat festgelegt werden – die Exekutivgewalt übergeht in dem Falle schlichtweg die legislativen Organe.

 

Die daraus resultierenden Änderungen des gesetzlichen Ausbildungsrahmens stehen in direktem Widerspruch zu international gültigen Arbeitsschutzbestimmungen. So soll das Lehrlingsalter von 14 auf 11 Jahre gesenkt werden. Einem elfjährigen Kind eine Arbeitsgenehmigung zu geben, obwohl es noch nicht strafmündig ist, verstößt etwa gegen die Statuten der internationalen Arbeitsorganisation (ILO).

 

»Weniger Pflichtschulbildung bedeutet mehr Kinderausbeutung«

 

Dass türkische Familien nun in Zukunft ihre elfjährigen Töchter massenweise in   Lehrlingsbetriebe zur Berufsausbildung schicken, ist mehr als unwahrscheinlich, es sei denn, handelt sich um Tätigkeiten, die auf weibliche Rollen beschränkt sind. Wahrscheinlicher ist es, dass die Mädchen zur Hausarbeit eingesetzt werden oder gleich verheiratet werden – ein Freifahrtsschein für die Kinderheirat.

 

Dabei liegt die Anteil der Heiraten unter 18 Jahren, die so genannte Kinderheirat, schon jetzt bei 18 Prozent. In einigen Provinzen liegt dieser Wert teils noch deutlich höher. In Mittelanatolien etwa bei 42 Prozent, in Nordanatolien bei 41,6 Prozent und in Diyarbakir bei zweifelhaft rekordverdächtigen 50 Prozent.

 

Die Oppositionspartei CHP kritisierte dass »4+4+4«, Kinder von der Gesellschaft abzukapseln drohe. Zudem bestünden im Schulsystem in ganz anderen Bereichen Nachholbedarf, von den eigentlich Problemen des Bildungswesens lenke die Gesetzgebung somit ab.

 

Die CHP-Abgeordnete und ehemalige Richterin am Kasationshof, Emine Ülker Tarhan, beschuldigte die Regierung, dass das Gesetz »einzig das Ziel verfolge, Mädchen zu Hause einzusperren«. »Weniger Pflichtschulbildung bedeutet mehr Kinderausbeutung«, so Tarhan.

Von: 
Arzu Eti

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