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AKP und Kritik an Erdogan

Brutus bleibt in Deckung

Feature

Die AKP hat kaum Gelegenheit zur Freude über das starke Abschneiden bei den Kommunalwahlen. Erdogans Rundumschlag stößt auch in den eigenen Reihen auf Unbehagen. Doch die parteiinternen Kritiker scheuen die Konfrontation mit dem Premier.

»Schicksalswahl«, »Entscheidung über Erdoğans Zukunft« oder »Abrechnung von Gezi-Protesten, Korruptionsskandal und Internetsperren« – was die türkischen Kommunalwahlen im März 2014 in die Höhen einer Schicksalsschlacht hob, war die Tatsache, dass Erdoğan nicht nur mit der parlamentarischen Opposition, der kemalistischen CHP und der ultranationalistischen MHP, sondern erstmals auch mit Widersachern aus den eigenen Reihen zu kämpfen hatte.

 

Dennoch, Recep Tayyip Erdoğan ist gestärkt, seine AKP geht als klarer Gewinner aus den Kommunalwahlen hervor. Die Opposition spricht von Wahlbetrug und tatsächlich scheint der massenhafte Stromausfall am Wahlabend nicht zufällig. So lagen zunächst in Istanbul, Ankara und Antalya CHP-Kandidaten vorne – letztendlich gewannen dann jedoch die AKP-Bewerber. Mansur Yavaş, CHP-Bürgermeisterkandidat in Ankara, kündigte an: »Wir werden kämpfen. Wir lassen uns unsere Stimmen nicht stehlen.«

 

In vielen Wahlkreisen verlangt die Opposition eine Neuauszählung der Stimmen. Im Bezirk Yalova nahe Istanbul hat das schon zum gewünschten Ergebnis geführt, dort stellt nun die CHP den Bürgermeister. Fakt ist aber auch: Schon die Wahlprognosen sahen ein relativ gutes Abschneiden der AKP voraus, das Forschungsinstitut KONDA etwa sah die Regierungspartei bei 46 Prozent.

 

Gegen die politische Opposition wird der Premier hart durchgreifen. Nach der Entmachtung des Militärs verfügen die anderen Parteien nur noch über geringen politischen Einfluss. Die größte Zeitung des Landes, Hürriyet, sieht sich seit den Gezi-Protesten wieder stärker auf Seiten der Opposition.  Laut AKP-Sprecher Hüseyin Çelik werde man gegen sie vorgehen, da sie versucht habe, mit ihrer Berichterstattung das Wahlergebnis zu beeinflussen.  Erdoğans größter Hass richtet sich aber gegen die Gülen-Bewegung. Nach seinem Wahlsieg fackelte er nicht lange und blies zum Angriff auf seine Kritiker: »Bis in ihre Höhlen werde ich sie verfolgen. Sie werden ihren Preis zahlen.« Mit großer Wahrscheinlichkeit steckt die Gülen-Bewegung hinter dem Versuch der Demontage Erdoğans durch die Veröffentlichung kompromittierenden Abhörmaterials.

 

Ein heimlich abgehörtes Treffen, bei dem Geheimdienstchef Hakan Fidan vorschlägt, einen Vorwand für einen Krieg gegen Syrien zu produzieren (»Wenn es nötig ist, werfen wir acht Raketen auf leeres Gebiet ab.«) stellt den vorläufigen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung dar. Anstatt sich zu erklären oder zumindest die beteiligten Personen bis zur Klärung des Vorfalls zu suspendieren, holte die Regierung zum Rundumschlag aus: »Verrat und Spionage«, beklagte Außenminister Ahmet Davutoğlu, da das Sitzungszimmer nicht abhörsicher war.

 

Langfristig wird Erdoğan versuchen, die Gülen-Bewegung ganz auszuschalten

 

Die AKP ist seit ihrer Gründung eine Koalition unterschiedlicher Interessengruppen. Neben dem Milli-Görüş-Kern sind auch viele Anhänger der Gülen-Bewegung in der AKP. Durch das vergleichsweise hohe Bildungsniveau ihrer Mitglieder, ihre wirtschaftliche Stärke und die weltweite Vernetzung ist die Gülen-Bewegung gegenüber der Regierung aber relativ autonom. Durch ihre Selbstdarstellung als »moderate Muslime« genießen sie zudem die Gunst des Weißen Hauses. Zunehmende Differenzen über die Ausrichtung der Partei führten Ende 2013 zum offenen Konflikt.

 

Dennoch trat mit dem Abgeordneten Hakan Şükür bislang nur ein einziger Gülen-Anhänger aus der Partei aus. Ex-Fußballstar Şükür ist aber die Ausnahme, da er sich damit öffentlich als Gülen-Anhänger bekennt. Nachdem die AKP nun bei den Wahlen so gut abschnitt, bleibt die Frage, welchen Einfluss Gülen auf seine Bewegung hat beziehungsweise ob diese doch weniger einflussreich ist als bislang angenommen. Langfristig wird Erdoğan versuchen, die Gülen-Bewegung ganz auszuschalten.

 

Die Gülen-Anhänger sehen jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit Verfahren wegen Steuerhinterziehung oder »Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen« entgegen – ein beliebtes Mittel der Einschüchterung, dem zuletzt zahlreiche Gezi-Demonstranten ausgesetzt waren. Bereits nach Bekanntwerden des Korruptionsskandals Ende 2013 – auch dieser begleitet durch die Veröffentlichung von Telefonmitschnitten – griff der Premier hart durch. So wurden der Istanbuler Polizeichefs und tausende von Polizisten strafversetzt, außerdem müssen sie nun ihren Vorgesetzten detailliert über geplante Ermittlungen informieren.

 

Der leitende Staatsanwalt, Muammer Akkas, beklagte, in seinen Ermittlungen behindert und unter Druck gesetzt worden zu sein. Das wirkte sich verzögernd auf eine zweite Ermittlungsrunde aus, die sich auch gegen Erdoğans Sohn Bilal richtet. Von Justizbeeinflussung wollte der Premier aber nichts wissen. Zwar räumte er die Authentizität der Tonbänder ein, erklärt aber weiterhin, die Türkei befände sich in ihrem »zweiten Unabhängigkeitskrieg gegen in- und ausländische Feinde« und besetzte 10 der 26 Ministerposten in seinem »Kriegskabinett« neu.

 

Der Premier lässt seinen Stellvertreter im Regen stehen

 

Was damals Ausland und Opposition empörte, scheint den durchschnittlichen türkischen Wähler nicht weiter zu stören, so zumindest eine Lesart des überraschend guten Abschneidens der AKP bei den Kommunalwahlen. Mit seiner Mischung aus Größen- und Verfolgungswahn rennt Erdoğan in der Türkei meist offene Türen ein. Zudem kontrollieren regierungsnahe Unternehmer inzwischen einen Großteil der Medien, kritische Berichterstattung wird dadurch zunehmend erschwert.

 

Korrupte Regierungen sind die Türken gewohnt – und mit der Lokalpolitik der AKP die meisten zufrieden. Deren »hizmet«, also Dienstleistungen, kommen beim Bürger gut an, dem funktionierende Kanalisation und regelmäßige Müllabfuhr im Zweifelsfall wichtiger sind als ideologische Grabenkämpfe. Aber die Gülen-Anhänger sind nicht Erdoğans einzige Sorgen. Auch von Seiten ehemaliger Mitstreiter, die wie er aus der islamistischen Milli-Görüş-Bewegung hervorgegangen sind, weht ihm heftigerer Wind entgegen.

 

Während der Gezi-Proteste taten sich erstmals Risse in der sonst so sorgsam gehüteten »Einheitsfront« der AKP auf: Bildungsminister Nabi Avcı, Präsident Abdullah Gül und der Istanbuler Bürgermeister Kadir Topbaş sprachen sich für ein besonneneres Vorgehen der Polizei aus und räumten Fehler der Regierung bei der Handhabung des Konfliktes ein. Staatspräsident Abdullah Gül drückte im türkischen Staatssender TRT1 sein Bedauern über die Todesfälle aus – während Erdoğan die Demonstranten weiter als Marodeure und Plünderer beschimpfte.

 

Auch ein schon lang schwelender Konflikt zwischen Erdoğan und Vizepremier Bulent Arınç, eine wichtige Figur in der islamistischen Milli-Görüş-Bewegung und Mitbegründer der AKP, kam während der Gezi-Proteste erstmals an die Öffentlichkeit, als Arınç sich bei den Demonstranten für die Gewaltanwendung der Polizei entschuldigte. Kaum war Erdoğan von seiner Nordafrika-Reise zurück, gab er bekannt, die Polizei solle ruhig hart durchgreifen – und düpierte so Arınç in aller Öffentlichkeit.

 

Anfang November 2013 gerieten die beiden AKP-Veteranen erneut aneinander, als Erdoğan Journalisten gegenüber äußerte, gemischtgeschlechtliche Wohnheime schließen und auch das Zusammenleben von unverheirateten männlichen und weiblichen Studenten aus »moralischen Gründen und im Zuge der Terrorbekämpfung« gesetzlich verbieten zu lassen. Arınç sah voraus, dass dieser Vorstoß öffentliche Entrüstung mit sich bringen würde und stellte sich mit der Erklärung »das hat er nicht so gemeint« schützend vor Erdoğan. Der Premier aber ließ seinen Stellvertreter abermals ins Leere laufen und bestand auf die Richtigkeit seiner Wortwahl.

 

Der tragische Star des türkischen Politkrimis

 

Diesmal reagierte Arınç impulsiv und warnte Erdoğan Anfang November mit den Worten: »Ich habe Gewicht in der Partei, ich bin ein Teil ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; meine Meinung sollte nicht leichtfertig übergangen werden.« Erstmals machten auch andere hochrangige Parteimitglieder ihre Unzufriedenheit öffentlich. Fatma Bostan Unal, Rechtsanwältin und Gründungsmitglied der AKP, bezeichnete Erdoğans Äußerungen als »sehr gefährlich«.

 

Sie und ihr Mann Ahmet, 2010 Aktivist auf dem Gaza-Flottillen-Flaggschiff Mavi Marmara und Präsident der muslimischen Menschenrechtsorganisation Maslum, haben großes Gewicht bei der Milli-Göruş-Fraktion innerhalb der AKP. Inzwischen haben besonders Erdoğans frühere Mitstreiter das Gefühl, sein Zenit sei überschritten. Der ehemalige Erfolgsgarant macht den Parteieliten durch sein unberechenbares und launisches Verhalten mehr und mehr Sorgen – seine Aufrufe zu innerparteilicher Disziplin bleiben immer öfter ungehört.

 

Aus Protest gegen Erdoğan traten einige Kritiker sogar aus der AKP aus. Der Abgeordnete Haluk Özdalga begründet seinen Parteiaustritt mit der Korruption und dem »Fehlen einer unabhängigen Justiz und Gewaltenteilung«. Auch der ehemalige Innenminister und AKP-Abgeordnete İdris Naim Şahin erklärt, dass die Aktionen gegen Polizei und Justizbeamte nicht nachvollziehbar seien und dass er die Partei, in die er einst voller Hoffnung eingetreten sei, nur schweren Herzens wieder verlassen würde.

 

Genau wie Arınç gehört auch Şahin zum alten Kern der Milli-Görüş-Bewegung. Er und Erdoğan kennen sich noch aus Schulzeiten vom Predigergymnasium. 1994 arbeitete er unter Erdoğan in der Istanbuler Stadtbehörde, nachdem dieser dort mit dem AKP-Vorgänger, der islamistischen Wohlfahrtspartei, gewann. Şahin kritisierte in seiner Austrittserklärung die kurdische Initiative der AKP, die Behandlung von Justiz und Polizei nach dem Korruptionsskandal und die politische Kultur der AKP, die sich, so Sahin, hin zu einer Oligarchie entwickelt habe.

 

Ertuğul Günay, von2007 bis 2013 Minister für Kultur und Tourismus, setzt sich nach seinem Parteiaustritt nun aktiv für die Opposition ein und machte Wahlkampf für die Bürgermeisterwahlen der CHP in Ankara. Doch wenn man betrachtet, in welcher Lage sich die Türkei befindet, mag es erstaunen, dass Kritik aus der AKP nicht deutlicher geäußert wird, dass bislang nur vereinzelt Abgeordnete austreten und ihren Unmut öffentlich machen. Anders als etwa in der kemalistischen CHP gibt es bei konservativ-muslimischen Parteien eine Art Ehrenkodex, der öffentlich ausgetragene Konflikte ächtet.

 

Zudem haben viele Parteimitglieder Angst vor Erdoğan, der nicht nur als Premier, sondern auch als Parteipräsident alle Fäden in der Hand hält. Und auch manch potentieller Kritiker mag seine Leichen im Keller haben. Wenn jeder jeden beschattet, lehnt sich niemand ohne Not allzu weit aus dem Fenster. Fakt ist, dass sich zurzeit keine ernsthafte Alternative zu Erdoğan bietet. Er ist der tragische Star des türkischen Politkrimis. Die Opposition ist schwach und weiß Polizeigewalt, Korruptionsskandal und Justizbeeinflussung nicht ausreichend zu nutzen.

 

Sie arbeitet sich am Premier ab, ohne einen Gegenentwurf zu liefern. Durch seine starke Stellung als Parteipräsident hat es Erdoğan zudem geschafft, dass ihm innerhalb der AKP kaum ein Herausforderer erwachsen kann. Und so bleibt das Volk erst einmal bei dem, was es kennt. Noch steht Erdoğans Burg, aber sie bröckelt.

Von: 
Charlotte Joppien

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