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Afrikanische Flüchtlinge auf dem Sinai und in Israel

Verkauft, gefoltert, entrechtet

Feature

Menschenhändler treiben zwischen Sudan und Ägypten ihr einträgliches Unwesen mit afrikanischen Flüchtlingen. Wer die Folterkammern auf dem Sinai überlebt, den erwartet in Israel ein Leben in Hoffnungslosigkeit.

Mit gesenktem Kopf hält Mebrahtom eine geblümte Plastiktüte in der Hand und rupft hektisch ein Stück nach dem anderen ab, wirft es auf den Boden und starrt mit leerem Blick. Sein Englisch ist gebrochen, doch er bemüht sich zu sprechen. Er gestikuliert wild. Dem unstrukturierten Gestammel kann man wenig entnehmen, und doch versteht man fast alles. Es fallen die Schlagworte, die seit längerem mit Sinai in Verbindung gebracht werden: auf der Haut ausgedrückte Zigarettenstummel, Vergewaltigung, Elektroschocks, Eisenketten, an die Menschen mit verbundenen Augen gefesselt und daran aufgehängt werden.

 

Mebrahtom fragt, ob er seine Narben zeigen soll. Ohne eine Antwort abzuwarten, reißt er sein T-Shirt hoch und offenbart die riesigen Brandnarben auf seinem Rücken. »37.500 Dollar Lösegeld haben meine Eltern in Eritrea gezahlt. Alles, was sie hatten, haben sie verkauft, und dazu noch tausende Dollar Schulden gemacht. Jetzt muss ich die Schulden zurückzahlen«, sagt er. Nachdem er zehn Monate lang in den Folterkammern auf dem Sinai gefangen war, lebt Mebrahtom nun seit zwei Jahren in Israel. Oder besser: Er überlebt.

 

Gearbeitet hat er bisher nicht. Stattdessen denkt er an die Schulden, Tag und Nacht, auf nichts anderes kann er sich konzentrieren. Mebrahtom ist ein klassischer Fall von Posttraumatischer Belastungsstörung. »Wir versuchen, diese Menschen zu begleiten bei dem, was sie durchmachen. Wir ›schwimmen‹ mit ihnen in diesem unendlichen Ozean, der droht, sie zu ertränken. Aber es gelingt uns nicht immer, und oft nur für wenige Augenblicke«, erzählt Bracha Shapiro, eine Sozialarbeiterin von ASSAF, einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge in Tel Aviv.

 

Alleine von den etwa 60.000 Flüchtlingen in Israel, die überwiegend aus Eritrea und dem Sudan kommen, wurden nach Schätzungen von NGOs wie »Physicians for Human Rights« und »Hotline for Migrant Workers« seit 2009 7.000 Menschen auf der Sinai-Halbinsel von Mitgliedern des Beduinenstammes Rashida gequält und gefoltert. Um höheres Lösegeld zu erpressen, quälen die Folterer ihre Opfer so lange, bis sie ihnen die Telefonnummern ihrer Familien geben.

 

Dann wird angerufen und die Tortur geht am Telefon weiter, so dass Familienmitglieder die Schreie ihrer Angehoerigen miterleben. Frauen werden vergewaltigt, während ihre Männer am anderen Ende der Leitung zuhören muessen. Dies sei die effektivste Methode, die Familien zum Zahlen zu bringen – so die Logik der Beduinen. Mebrahtom ist diesem System zum Opfer gefallen. Und hat es überlebt. Die Zahl der Toten liegt im Dunkeln: Es sind Flüchtlinge, deren Familien das horrende Lösegeld nicht auftreiben konnten, solche, die von ihren Peinigern zu Tode gequält wurden, von der Wüste verschluckt oder nach ihrer Freilassung von ägyptischen Grenzsoldaten erschossen wurden, beim Versuch, die Grenze zu Israel zu überqueren.

 

Nur wenige zieht es nach Israel – dennoch ist das Land für viele die Endstation

 

Einige haben es nach ihrer Freilassung aus dem Sinai nach Israel geschafft, in die »einzige Demokratie im Nahen Osten«. Andere fristen ihr Dasein in ägyptischen Gefängnissen oder wurden zurück in ihre Heimat abgeschoben. 95 Prozent von ihnen sind Eritreer – Männer, Frauen, einige Kinder. Sie alle versuchten, vor der Militärdiktatur des Präsidenten Isaias Afewerki aus Eritrea zu fliehen. Fast immer ging es zunächst nach Äthiopien oder in den Sudan, wo sie in Flüchtlingslagern nahe Khartum oder Kassala untergekommen sind.

 

Von dort aus wollen die meisten nach Europa – nur wenige zieht es nach Israel. Dass Flüchtlinge dort nicht erwünscht sind, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Dennoch ist Israel für viele die unfreiwillige Endstation ihrer Reise. Die Menschen werden meist direkt aus den Lagern, bisweilen auch aus Grenzgebieten, entführt und weiterverkauft. Es sind dann mehrere dutzend Geiseln, die in einem Lastwagen versammelt in den Sinai abtransportiert werden. Der Rashida-Stamm, ansässig im Grenzgebiet zwischen Sudan und Eritrea sowie in Südägypten, kooperiert dabei mit dem sudanesischen Militär und lokalen Sicherheitskräften.

 

Viele Flüchtlinge verdursten oder ersticken bereits unterwegs. So hat Mebrahtom seinen Freund verloren, mit dem er während der Arbeit gekidnappt worden war. Später wurde er mit etwa fünfzig anderen im Foltercamp untergebracht, einzelne von ihnen hat er in Tel Aviv wiedergetroffen. Gelegentlich fallen sich in den Räumen von ASSAF zwei Eritreer um den Hals und weinen zusammen aus Freude, sich »seit Sinai« zum ersten Mal wiederzusehen. Wie ist die systematische Gewalt auf dem Sinai zu erklären?

 

Aufgrund der geringen ägyptischen Militärpräsenz auf der Halbinsel, die das Camp-David Abkommen mit Israel seit 1982 vorsieht, hat sich das Gebiet zu einer praktisch gesetzlosen Zone entwickelt, in der Beduinenstämme eigene Machtstrukturen errichtet haben. Hohe Arbeitslosigkeit und die isolierte soziale Lage der Beduinen in der ägyptischen Gesellschaft schufen einen Nährboden, der den Handel mit Waren, Waffen oder Drogen nach Gaza seit Jahrzehnten florieren lässt. Seit einigen Jahren ist auch der Menschenhandel hinzugekommen, der den Profit vervielfacht. Im Durchschnitt werden pro Kopf 30.000 US-Dollar Lösegeld bezahlt.

 

»Das einzige, was wir tun können: den Schmerz ein wenig lindern«

 

Erst jetzt, etwa vier Jahre nach Beginn der Verbrechen, beginnt die Weltöffentlichkeit langsam aufzuhorchen. Am 4. Dezember 2013 wurde im Europäischen Parlament in Brüssel ein Bericht mit dem Titel »The Human Trafficking Cycle: Sinai and Beyond«, vorgestellt, eine der wenigen Veröffentlichungen zu dem Thema, voll detaillierter Zeugenaussagen. Dass der Menschenhandel durch erhöhte Aufmerksamkeit unter Kontrolle zu bekommen ist, ist dagegen unwahrscheinlich.

 

Das wachsende Interesse lässt jedoch auf größere Unterstützung für die freigelassenen Opfer hoffen. »Solch ein Trauma lässt sich nicht heilen«, berichtet Shapiro von ihren Erfahrungen in der Therapiearbeit mit den Opfern vom Sinai. »Das einzige, was wir tun können, ist, den Schmerz ein wenig zu lindern. Aber weil diese Menschen in Israel keine angemessene Betreuung erhalten, verschlechtert sich ihr Zustand noch. Für viele wurde die physische Gefangenschaft nur abgelöst von einer Versklavung durch die Schulden an ihre Familien.

 

Viele leben in Zelten, weil sie jeglichen Besitz verkauft haben, um das Lösegeld zusammenzubekommen.« Fast könnte man sagen, Mebrahtom habe noch Glück gehabt. Zumindest theoretisch hat er ein Visum und könnte arbeiten, wäre es um seinen Seelenzustand besser bestellt wäre. Zwar steht auf seinem kleinen, zerfetzten Stückchen Papier in hebräischen Buchstaben geschrieben: »Dies ist keine Arbeitserlaubnis«, doch der Oberste Gerichtshof in Israel hat per Gesetz beschlossen und öffentlich erklärt, dass Flüchtlinge wie Mebrahtom trotzdem legal arbeiten dürfen und dafür nicht bestraft werden dürfen.

 

Die Logik dahinter? Abschreckung, damit nicht noch mehr Afrikaner nach Israel kommen. Und gleichzeitig die Unmöglichkeit, Tausenden Arbeit und jegliche Sozialleistungen zu versagen.

 

Haft, das bedeutet Abgeschiedenheit von jeglicher Zivilisation

 

Für andere ist die Situation komplizierter als für Mebrahtom: »Mistanenim« – »Eindringlinge«, wie die Flüchtlinge in vielen israelischen Medien ganz offiziell genannt werden –, die nach der Verabschiedung des sogenannten »Anti-Infiltrations-Gesetzes« im Juni 2012 die Grenze zu Israel überquert haben und damit illegal israelisches Territorium betraten, können laut Gesetz bis zu drei Jahre lang inhaftiert werden. Haft: Das bedeutet Abgeschiedenheit von jeglicher Zivilisation in der Wüste, kein Kontakt zur Außenwelt.

 

Betroffen waren von diesem Gesetz auch diejenigen, die als Geiseln auf dem Sinai gehalten wurden. Nur eine Handvoll von ihnen, die Opfer der extremsten Fälle der Folter wurden, durfte nach monatelanger Haft das Gefängnis im Frühling 2013 endlich entlassen. Als das Anti-Infiltrations-Gesetz im September 2013 vom Obersten Gericht in Israel für ungültig erklärt wurde, sollten etwa 1.750 Menschen aus dem Gefängnis kommen. Doch nur etwa 700 von ihnen sind nun tatsächlich frei.

 

Kobrom war einer der ersten, die im September entlassen wurden. Seitdem lebt er teils bei Freunden, teils im Park. Vor kurzem wurde er im Schlaf ausgeraubt und besitzt nicht einmal mehr ein Handy, mit dem er seine Anwältin anrufen und ihr davon erzählen könnte. Geblieben ist ihm eine Decke für den israelischen Winter. Über die acht Monate, die er auf dem Sinai festgehalten wurde, will er kaum sprechen. Mehr als ein Jahr lang war er nach seiner Freilassung dort im Gefängnis in Israel, so wie es das Anti-Infiltrations-Gesetz vorsieht.

 

Nach den Qualen auf dem Sinai hat er den Gefängnisaufenthalt beinahe als schöne Erinnerung im Gedächtnis. »Die Israelis waren gut zu mir, ich habe Essen und Pflege bekommen.« Doch die neu gewonnene »Freiheit« der Flüchtlinge geht der israelischen Regierung gegen den Strich: Am 10. Dezember wurde in der Knesset eilig ein neues Gesetz verabschiedet, das die Haft auf ein Jahr verkürzt und danach den Aufenthalt in einem speziellen Lager vorschreibt, in dem die »Eindringlinge« die Nächte verbringen und dreimal täglich abgezählt werden sollen, um deren Anwesenheit zu überprüfen.

 

Dieses Vorgehen soll verhindern, dass sie sich zu weit entfernen oder sogar Arbeit suchen – denn das sei der eigentliche Grund, warum die Menschen nach Israel kommen. Ebenso wie die bisherige Gefängnisanlage befindet sich das neue Lager »Holot« in den Tiefen der Wüste, nahe der ägyptischen Grenze. Das neue Gesetz ermöglicht es, willkürlich Flüchtlinge aus ganz Israel aufzugreifen und zwangsweise dort unterzubringen. Die räumliche Kapazität des Lagers bietet Platz für etwa 3.000 Menschen.

 

Mitte Dezember sind 150 der Häftlinge ausgebrochen und in den Hungerstreik getreten, um gegen die neuen Regelungen zu protestieren. Der Ausgang ist ungewiss. NGOs und Menschenrechtsaktivisten schreien auf: »Weder das Anti-Infiltrations-Gesetz noch die neuen Regelungen entsprechen Israels rechtlichem Kodex«, sagt Reut Michaeli, eine Anwältin der NGO »Hotline für Migrant Workers«.

 

Ihre Organisation hat gegen das erste Gesetz von 2012 gekämpft und will auch gegen die jüngsten Entwicklungen rechtlich vorgehen. »Wenn Organisationen, deren Rolle es ist, Israels Demokratie zu bewahren, gegen solche Gesetze gerichtlich nicht mehr vorgehen, wird damit ein bedeutender Aspekt im demokratischen Kampf aufgegeben«, erklärte Michaeli im Interview mit dem Blogportal +972mag.

 

Die wenigsten werden offiziell als Opfer anerkannt

 

Viele besonders gefährdeten Flüchtlinge und etwa 200 Opfer von Folter und Menschenhandel, die den Sinai überlebt haben, wurden seit der Ungültigkeitserklärung des Anti-Infiltrationsgesetzes tatsächlich freigelassen. Doch die wenigsten von ihnen sind vom Staat auch offiziell als Opfer anerkannt: Viele haben kein Visum und keine Aussicht, ohne Dokumente einen Job zu finden. Ihre Anwälte kämpfen weiter und die Mitarbeiter von ASSAF vertrösten sie auf ein ungewisses »bald«. 

 

Nun tut Kobrom alles, um sein neues Leben in Tel Aviv zu organisieren. »Bitte handelt, ich brauche ein Visum, nur so kann ich einen Job finden und ein Zimmer mieten«, fleht er. Kobrom hat rechtlichen Anspruch auf psychologische Behandlung und eine Bleibe in der vom Staat finanzierten Zufluchtsstätte, die speziell für Opfer von Menschenhandel und Prostitution eingerichtet wurde. Eigentlich. Praktisch ist der Ort heillos überfüllt.

 

Dutzende Männer und Frauen warten monatelang, viele werden niemals in richtige Behandlung kommen. Es ist eine traurige Realität, die viele, vor allem eritreische, Flüchtlinge in Israel erfahren. Seit Kobrom aus dem Gefängnis entlassen wurde, hat er ein einziges Mal mit seiner Familie in Eritrea telefoniert. Als er davon erzählt, lächelt er zum ersten Mal.


Die NGO »ASSAF«, gegründet 2007 in Tel Aviv, bietet Flüchtlingen in enger Zusammenarbeit mit ihren Gemeinden psychologische und humanitäre Unterstuetzung auf individueller Ebene und setzt sich durch Öffentlichkeitsarbeit für Flüchtlingsrechte in Israel ein. In den vergangenen Monaten hat ASSAF die Arbeit mit Folteropfern intensiviert und versucht verstärkt, auf deren Bedürfnisse und Traumata einzugehen. Damit die Projekte verwirklicht werden können, ist ASSAF auf Unterstützung von privaten Spendern angewiesen.

Von: 
Marina Klimchuk

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