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»Grünhelm«-Chef Rupert Neudeck

»Ich bewundere die Syrer«

Interview

Obwohl sich die Syrer von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen fühlen, keimt im Norden Hoffnung auf. »Grünhelm«-Chef Rupert Neudeck über geniale Schmuggelsysteme, wilde Flüchtlingslager und Kritik an seiner Hilfsorganisation.

zenith: Sie sind am 12. April aus Syrien zurückgekehrt. Dort haben Sie sich im türkisch-syrischen Grenzgebiet, in den Dörfern Azaz, Tel Refaat und Harim aufgehalten. Wie ist die Situation vor Ort?

Rupert Neudeck: Glücklicherweise ist es wärmer geworden und der Engpass an Heizöl spielt daher keine Rolle mehr. Allerdings ist jetzt die nächste Sorge der Menschen nun die fehlende großflächige Müllabfuhr. Dafür sorgte sonst der Staat. Die Landwirtschaft funktioniert, es herrscht also kein Hunger. Die Märkte sind immer noch voll und die Leute gehen trotz Sicherheitsrisiken zur Arbeit. Ich bin vier Stunden lang durchs befreite Syrien gefahren. Es war ein großartiges Erlebnis zu sehen, mit welcher Beherztheit die Wirtschaft weiter am Laufen gehalten wird. Das ist ein fantastisches Zeichen, denn es beweist, wozu diese Leute in der Lage sind. 

 

Wie funktioniert die Wirtschaft?

Sie basiert auf einem genial organisierten Schmuggelsystem. Es ist die einzige Überlebensmöglichkeit. Benzin und Diesel werden in riesigen Mengen geschmuggelt. Deswegen können die Leute immer noch mit ihren Motorrädern oder Traktoren herumfahren.


Rupert Neudeck

ist promovierter Theologe und Journalist und gründete die Hilfsorganisationen »Cap Anamur« und die »Grünhelme«. In Syrien helfen die »Grünhelme« beim Aufbau von Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern.

 

 
Über die Flüchtlingslager außerhalb Syriens wird öfters berichtet. Sie haben auch Auffanglager innerhalb des Landes besucht. Inwiefern unterscheiden sich diese von jenen im Ausland?

Das sind wilde Lager. Der Bürgermeister eines Dorfes weist den Flüchtlingen ein Feld zu, auf dem sie sich niederlassen dürfen. Die Menschen bekommen Zelte und die Versorgung mit Essen funktioniert einigermaßen, Händler mit Bauchläden ziehen durch die Lager. Aber die Menschen sind auf sich selbst angewiesen. Sie blicken neidisch auf die Flüchtlingslager in der Türkei. Dort haben die Leute Vollpension – Unterkunft, dreimal Essen am Tag und medizinische Versorgung. Das ist in den Lagern innerhalb Syriens nicht so. Aber es ist ein gutes Zeichen, dass es diese Lager gibt. Es zeigt, dass viele Syrer ihr Land nicht verlassen wollen.

 

In den internationalen Medien gab es kürzlich Berichte über Frauenhandel in den syrischen Flüchtlingslagern. Haben Sie davon etwas mitbekommen?

Es überrascht mich ehrlich gesagt, dass viele Leute über solche Nachrichten schockiert sind. Es gibt Brautpreise und das wird genutzt. Die Leute haben nichts mehr in der Tasche, wissen nicht mehr, wovon sie leben sollen. Es ist ein Ausdruck der Lebensrealität dieser Menschen, die nichts davon haben, was auf der ganzen Welt als Errungenschaft der Neuzeit durch die UN-Charta gilt. Im Katastrophenfall, sei sie durch Menschen verursacht oder eine Naturkatastrophe, greift die internationale Staatengemeinschaft ein und hilft. Aber nicht in Syrien. Deshalb bin ich bin voller Bewunderung für die Menschen im Lande, die unter diesen Bedingungen eine Zivilverwaltung organisieren und versuchen, einen Alltag aufrecht zu erhalten.

 

»Syrien hat seinen Staat verloren«

 

Funktioniert die neue Zivilverwaltung?

Ich kann nur für den Teil Syriens sprechen, den ich selbst gesehen habe. Dort hatte ich den Eindruck, dass in den Städten, Dörfern und Kommunen eine Zivilverwaltung entstanden ist – am häufigsten durch Wahlen oder durch gemeinschaftliche Einigung auf eine geeignete Person. Die Menschen erhalten die Wirtschaft aufrecht, versuchen die Bevölkerung zusammenzuhalten und schicken ihre Kinder in die Schule. Aber das ist kein Ersatz für Staatlichkeit und das merken die Menschen. Syrien hat seinen Staat verloren. Die paar Gestalten in den Damaszener Kasernen sind kein Staat mehr. Das ist ein Regime des Terrors und der Abschreckung. Deshalb ist die Leistung der Menschen umso bedeutender.

 

Haben Sie ein Beispiel für den kommunalen Wiederaufbau?

Ich habe den Bürgermeister von Harim kennengelernt. Der Mann war von morgens bis abends unterwegs und hat versucht, alles Menschenmögliche für seine Bürger zu tun. Er hat gute Ideen, so versucht er über uns die Zustimmung für den Bau eines Krankenhauses einzuholen. Er weiß, dass er so einen Stein ins Rollen bringt. Denn durch das Krankenhaus kann er die Bevölkerung nicht nur medizinisch besser versorgen, sondern zieht auch weitere Institutionen nach sich und schafft Arbeitsplätze.

 

Der Hörfunkreporter Martin Durm hat nach seiner Rückkehr aus Syrien kritisiert, dass die fehlende internationale humanitäre Hilfe durch Saudi-Arabien kompensiert wird und radikalislamische Milizen Hilfsgüter vor Ort verteilen. Was passiert mit den Menschen, denen niemand außer den Islamisten hilft?

Ich teile die Einschätzung meines Kollegen. Aber es kommt darauf an, von welchem Syrien man spricht. Der Westen hat den Syrern jeglicher Hilfe versagt, und hier geht es nicht um Waffen, sondern um humanitäre Hilfe oder zumindest erst einmal Aufmerksamkeit. Dadurch ging entsetzlich viel Vertrauen verloren und diese Sympathielücke haben andere gefüllt. Jammern bringt jetzt nichts, man muss eine Lösung finden. Ich setze aber viel Hoffnung auf die Kräfte in der syrischen Gesellschaft, die sich nicht so schnell von salafistischen oder islamistischen Gruppen verdrängen lassen. Die Clans, Moschee-Gemeinden oder Großfamilien haben starke Einflussmöglichkeiten. Wenn das Regime in einem Monat fallen sollte, hoffe ich auf einen gesamtsyrischen Aufbruch, der nicht in rückwärts gewandten Bewegungen erstickt. Nichtsdestotrotz bleibt die Gefahr, die von Saudi-Arabien ausgeht.

 

»Ich finde diese Kritik beschämend«

 

Was bringt Sie zu dem Schluss, dass das Regime bereits in einem Monat fallen könnte?

Das sagte mir der Leiter eines Flüchtlingslagers, das ich besucht habe, so selbstbewusst, wie ich es zuvor noch nicht gehört hatte. Es gibt dafür auch weitere Anzeichen. Wie wir hörten, wird die Armee nicht mehr mit schweren Waffen ausgerüstet, weil Assad Angst hat, dass seine Leute desertieren. Die einzige Frage ist: Sind es Tage, Monate oder Jahre? Auf diese Frage werden künftig Wetten angenommen.

 

Ihrer Organisation »Grünhelme« wurde, unter anderem auch vom Deutschen Roten Kreuz (DRK), vorgeworfen, ihre ehrenamtlichen Helfer ohne genügend Vorbereitung ins Krisengebiet schicken.

Ich habe einen freundlichen Brief von DRK-Präsident Rudolf Seiters bekommen, in dem er den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit mir und den »Grünhelmen« gegenüber zurückweist. Jeder hat das Recht, Kritik zu äußern, aber ich finde es beschämend, dass gerade solch eine Kritik aufgekommen ist. Ich habe gedacht, dass die Arbeit, die wir seit über 32 Jahren machen, uns gegen solche Vorwürfe gefeit hat.

Von: 
Mai-Britt Wulf

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