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Irans Start-up-Szene

Der Traum vom Einhorn

Feature
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Von Lieferdiensten bis Online-Banking: Start-ups mischen Irans Wirtschaft auf. Doch die Euphorie über den Digitalisierungsschub täuscht: Denn im internationalen Vergleich steckt Irans Start-up-Ökosystem noch in den Kinderschuhen.

Als die Brüder Hamid und Said Mohammadi vor zehn Jahren als Studenten auf der Suche nach einer Kamera waren, stießen sie auf ein Problem: Es gab keine persische Website, die die verschiedenen Modelle verglich oder zum Kauf anbot. Eine klassische Situation für die Gründung eines Start-ups: ein Problem, das noch keiner gelöst hat. Hamid und Said machten sich daran, die Homepage und den damit verbundenen Shop selbst zu erstellen. Dass sie damit eines Tages zum größten Start-up Irans mit einem Wert von 757 Millionen Euro heranwachsen würden, hätten sie nicht gedacht. 

2007, im Jahr der Gründung von Digikala, hatten nur 11 Millionen der rund 72 Millionen Iraner Zugang zum Internet, circa 21 Millionen besaßen Handys. Der Absichtserklärung des Ex-Präsidenten Mohammad Khatami, die Glasfasertechnologie landesweit auszurollen, waren keine Taten gefolgt. Nachfolger Mahmud Ahmadinedschad hatte die Internetgeschwindigkeit sogar gedrosselt. Der Zugang zum Internet entschied sich anhand des Einkommens und des Wohnorts, Städter und vor allem die Teheraner waren früher online. Aber selbst die besuchten meist die unter staatlicher Beobachtung stehenden Internet-Cafés, die seit der Jahrtausendwende aus dem Boden sprießen. WLAN-Hotspots gab es kaum und das Datenpaket für ADSL für den Heimgebrauch war oft zu kostspielig. Blogger waren die Stars der Szene und Persisch zeitweise unter den Top Ten der meistgenutzten Blog-Sprachen. 

Wie also konnte sich die iranische Web-Welt in nur zehn Jahren dementsprechend ändern, dass Kunden heute nahezu alles per App oder online bestellen und bezahlen können und Produkte von Digikala in Teheran innerhalb von wenigen Stunden beim Kunden ankommen? 

Während die Revolution leise auch im Hintergrund ablief – Smartphones günstiger wurden, Exil-Iraner Technologien nach Iran brachten –, war vor allem ein Ereignis entscheidend: Im September 2014 wurde das 3G/4G-Netz für alle Mobilfunk-Anbieter geöffnet, zuvor hatte Rightel eine Monopolstellung. Somit wurde mobiles Internet für alle Iraner zugänglich, die erhöhte Konkurrenz wirkte sich positiv auf die Preise aus. Heute nutzt bereits die Hälfte der Bevölkerung das Internet, vor allem für Anwendungen wie Instagram, Telegram oder die iranische YouTube-Variante Aparat. Auch Onlinebeziehungsweise Handy-Spiele sind beliebt. 

Die Macher hinter den Apps und Websites haben einen regelrechten Boom ausgelöst, der sich nicht nur in den internationalen Medienberichten widerspiegelt. Mit dem Erfolg von Pionieren wie den Mohammadi-Brüdern änderten sich das Klima und das wirtschaftliche System. Nun war es angesagt, für ein Internet-Unternehmen zu arbeiten, junge Uni-Absolventen wollten selbst gründen und trafen sich auf Networking-Veranstaltungen wie »Hamfekr«, zu Deutsch in etwa: »Gemeinsames Denken«, oder bewarben sich bei Acceleratoren. Die Gruppe Hamfekr startete als eine der ersten Hotspots für zukünftige Unternehmer in Teheran. Der Start-up-Hype hat mittlerweile auch andere Städte erreicht, wöchentliche Hamfekr-Meetups werden mittlerweile in 16 iranischen Städten abgehalten. Trotzdem bleibt Teheran weiter das Zentrum der Start-up-Szene. 

Viele der erfolgreichen Start-ups in Iran werden von ausländischen Investoren gefördert oder von Exil-Iranern gegründet oder geführt 

Hier lässt sich am besten der Status quo des iranischen Start-up Ökosystems beobachten, beispielsweise auf der Elecomp, der Messe für Soft- und Hardware. Im Juli 2017 wurden zum ersten Mal allein für Internet-Unternehmen zwei separate Hallen bereitgestellt. Um die 300 Start-ups nahmen teil, allen voran die Platzhirsche der Szene: die Taxi-App Snapp, die kürzlich eine engere Verbindung mit dem Essenslieferdienst Zoodfood einging, der jetzt unter dem Namen Snappfood läuft, oder der international bestens vernetzte Accelerator Avatech.

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Ein Problembereich der iranischen Start-up-Szene: Personal. Oftmals verfügen Bewerber nur über mangelhafte Englischkenntnisse und eine Hochschulausbildung, die nicht an den Bedürfnissen des Marktes ausgerichtet ist. Foto: Hamed Farhangi

Dennoch offenbarte die Veranstaltung, dass das iranische Start-up-System noch in den Kinderschuhen steckt. Die Anzahl der Teilnehmer kann nicht über die Qualität der Produkte oder fehlende Erfahrung im Business-, Finanzoder Managementbereich hinwegtäuschen. Wenn man die Maßstäbe des »Global Startup Ecosystem Reports« von Start-up Genome ansetzt, dem fundiertesten Bericht zur weltweiten Start-up-Szene, wird deutlich, dass sich der iranische Markt noch in der Phase der Aktivierung befindet. Die Anzahl der Internet-Unternehmen liegt bei unter 1.000, der Erfahrungsschatz ist gering, ebenso die Ressourcen. Ziel müsste es sein, so der Bericht, eine Start-up-Gemeinschaft zu kreieren und lokale Unternehmer, Talente und Investoren zu aktivieren. 

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Coworking-Spaces sind vor allem für Start-ups wichtig, die bereits einen Accelerator durchlaufen, jedoch noch kein größeres Investment erfahren haben. Ein wichtiges Thema angesichts hoher Immobilienpreise in Teheran. Foto: Hamed Farhangi

Auch wenn die Mohammadi-Brüder offiziell bereits vor zehn Jahren starteten, darf man nicht vergessen, dass »das iranische Start-up-Ökosystem eigentlich erst vier Jahre alt ist«, so Mohammadreza Azali von Techrasa, der größten englischsprachigen Medienplattform zur Start-up-Szene in Iran. »Erst als die private Venture-Capital-Firma Sarava auf der Bühne erschien und in Digikala investierte, wurde der Begriff Start-up zum ersten Mal benutzt.« 

Viele der iranischen Uni-Absolventen sind fachlich stark, jedoch mangelt es ihnen an Soft Skills wie Teamarbeit oder Kritikfähigkeit 

Es verwundert daher nicht, dass in Iran viele der klassischen Probleme der Start-up-Anfangsphase anzutreffen sind: fehlende Englischkenntnisse bei Bewerbern, eine nicht an die Bedürfnisse der Internet-Internehmen ausgerichtete Hochschulausbildung sowie ein falsches Verständnis, was die Startup-Kultur ausmacht. »Vielen fehlt das Start-up-Denken«, so Farzin Nami, Co-Founder des noch jungen Start-ups Nested, das eine Kommunikationsplattform für Unternehmen entwickelt hat. »Der Firma wird nicht das im Westen übliche Vertrauen und Engagement entgegengebracht. Die Erwartungshaltung? Ein schneller Exit.« In wesentlich besser entwickelten Start-up-Systemen bleiben Mitarbeiter meist mehrere Jahre, um mit dem Unternehmen zu wachsen. Dabei geht es ihnen nicht nur um finanzielle Aspekte, sondern auch um das Produkt und die Idee selbst. Viele der iranischen Uni-Absolventen sind fachlich stark, jedoch mangelt es ihnen an Soft Skills wie Teamarbeit oder Kritikfähigkeit existenziell wichtige Konzepte für Start-ups. 

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70 Prozent aller Studenten in den Ingenieursund Naturwissenschaften in Iran sind weiblich. Für sie bieten sich daher im digitalen Bereich immer mehr Arbeitsmöglichkeiten. Foto: Hamed Farhangi

Diese Kultur kann entweder intern aufgebaut oder extern angeworben werden. In Iran beschränkt sich das auf die wenigen professionell arbeitenden Start-ups, Acceleratoren, Investoren und neuerdings auch die Initiative »Karamaan«, die erstmal das Thema Praktika in Unternehmen aufgreift. Weil das iranische Ökosystem noch am Anfang steht, ist die Anzahl dieser Arbeitsplätze noch gering, ebenso die der erfolgreichen Abschlüssen, den sogenannten Exits. Digikala, das mit einer aktuellen Bewertung von 757 Millionen Euro auf den »Unicorn«-Status, also eine Bewertung von über einer Milliarde US-Dollar, zusteuert, könnte diese Situation in den nächsten Jahren ändern. Sein Durchbruch könnte die Dynamik verändern; doch die meisten Stakeholder sind noch dabei, sich ihre Start-up-Erfahrung tagtäglich zu erarbeiten. 

Ein Zusammenschluss der Start-ups soll bei Konflikten mit alteingesessenen Branchen vermitteln und in Verhandlungen mit der Regierung die Interessen der Start-ups vertreten

Eine große Rolle spielen daher externe Einflüsse. Es verwundert nicht, dass viele der erfolgreichen Start-ups in Iran von ausländischen Investoren gefördert oder von Iranern gegründet oder geführt werden, die entweder im Ausland aufgewachsen sind oder zumindest dort studiert oder gearbeitet haben. Hinter der größten Taxi-App Snapp steht die Iran Internet Group, eine Holding von Rocket Internet aus Berlin und MTN aus Südafrika. Ihr CEO Shahram Shahkar hatte zuvor jahrelang in Kanada studiert und gearbeitet. Ähnlich steht es um den Neuankömmling AloPeyk, der im Sommer 2017 in aller Munde ist. Gründer und CEO Mehdi Nayebi studierte in Paris und arbeitete als Banker in London, bevor er nach Iran zurückkehrte. 

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Kurierdienste tummeln sich derzeit in einem der meistumkämpften Märkte in Iran. Die beiden größten Platzhirsche: Snapp sowie der Neuankömmling AloPeyk. Foto: Hamed Farhangi

Die Liste könnte weitergeführt werden und zeigt, wie sehr die internationale Isolation Irans dem Start-up-System schadet und den Anschluss an andere Hubs erschwert. Eine restriktive Visapolitik verhindert die Teilnahme von Iranern an Konferenzen, Workshops und Praktika. Umgekehrt werden Ausländer davon abgehalten, Iran zu besuchen, indem im Anschluss die Einreise in die USA komplizierter wird. Der Ausschluss iranischer Banken aus dem SWIFT-System im Rahmen der Nuklear-Sanktionen erschwerte es iranischen Start-ups lange Zeit, internationale Kunden zu akquirieren und deren Produktfeedback einzuholen. Auch wenn dies sich nach dem Iran-Deal ändern soll, besteht heute für Iraner noch keine Möglichkeit, Zahlungen anzunehmen oder im Ausland Bankkonten zu eröffnen. Der »Global Startup Ecosystem Report« fand in der globalen Vernetzung einen der wichtigen Faktoren für die Qualität eines Ökosystems. Start-ups ziehen einen enormen Nutzen aus dem Austausch von Ideen und Netzwerken. 

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Seit 2014 das 3G/4G-Netz allen Mobilfunk-Anbietern zugänglich wurde, hat sich das mobile Internet rasant ausgebreitet. Mittlerweile nutzen es 26 Millionen Iraner. Foto: Hamed Farhangi

Den größten Ressourcen-Pool stellen daher die Exil-Iraner. Ihre Zahl wird auf vier bis sechs Millionen geschätzt und sie sind oftmals gut ausgebildet. Iran erfährt einen größeren Braindrain als jedes andere Land. Laut Irans Minister für Wissenschaft, Forschung und Technologie, Reza Faraji Dana, verlassen jedes Jahr 150.000 Fachkräfte Iran, 89 Prozent aller iranischen PhD-Studenten in den USA kommen nicht zurück. Sie bilden die Brücke zum Wissen der reiferen Start-up-Ökosysteme, denn viele von ihnen kommen nach Abschlüssen an Elite-Unis bei den innovativsten Unternehmen unter. Die Organisation iBridges hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, das Silicon Valley mit Teheran zu vernetzen und Wissen auszutauschen. Die bisherigen drei Konferenzen waren ein Erfolg, nur auf politischer Seite sieht man sich mit Hindernissen konfrontiert. Zusammenarbeit mit den USA, und sei es mit Exil-Iranern und auf wirtschaftlicher Ebene, erregt Skepsis im konservativen Lager der iranischen Führungselite. 

Um den Wegzug abzufedern und Exil-Iraner zur Rückkehr zu bewegen, ist eine soziale und kulturelle Öffnung unumgänglich. Neben finanziellen Faktoren ist die Enge der Lebenswelt nämlich oftmals einer der Hauptgründe für die Auswanderung. Eine Parallele lässt sich hier auch zu den Tech-Industrien in China und Indien sehen, die ihre Exil-Gemeinschaften durch eine Verbesserung der beruflichen, familiären, kulturellen und wirtschaftlichen Umgebung zurückgewannen. 

Und somit ist an vielen Stellen die Politik gefordert. Die iranische Regierung unter Präsident Hassan Ruhani tut ihr Bestes, um die hippe Start-up-Szene vor den Angriffen der Konservativen zu schützen, die die neuen Unternehmen als Vehikel für westliche Kulturinvasion brandmarken. Wurde die Internetgeschwindigkeit in Iran lange Zeit als Mittel der Zensur genutzt, werden bald viele Haushalte in Teheran über Glasfaserverbindungen verfügen. Bis 2020 sollen 80 Prozent aller Iraner auf irgendeine Weise online sein. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Steuererleichterung, die sogenannte wissensbasierte Unternehmen erhalten. Darunter fallen Technologie-Unternehmen wie Start-ups, denen Ausgaben erspart werden. Außerdem können sie wichtige Mitarbeiter von dem 18bis 24-monatigen Pflicht-Wehrdienst befreien. 

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Der Fokus liegt auf dem B2C-Bereich (Businessto-Customer) und Applikationen. Laut Irans Minister für Technologie und Kommunikation, Mahmud Vaezi, wurden in den letzten Jahren rund 110.000 lokale Apps kreiert. Foto: Hamed Farhangi

Eine digitale Wirtschaft verlangt nach neuen Regeln, weswegen die iranische Regierung an diversen Gesetzentwürfen arbeitet und die Szene selbst die »Gewerkschaft der Internet-Unternehmen« gegründet hat. Sie soll bei Konflikten mit alteingesessenen Branchen vermitteln – ein Beispiel ist der Widerstand gegen die Taxi-App Snapp seitens etablierter Taxiunternehmen – oder in Verhandlungen mit der Regierung die Interessen der Start-ups vertreten. Im boomenden Bereich der Finanz-Start-ups, den FinTechs, werden derzeit Ideen entworfen und weiterentwickelt, bis sie vom Staat kassiert werden. Effizienz sieht anders aus. Zudem ist es für ausländische Investoren, egal ob Privatperson oder Risikokapitalgeber, schwierig, in Start-ups zu investieren, wenn rechtliche Rahmenbedingungen fehlen, die derartige Transaktionen regeln. 

Im Bereich der Finanz-Start-ups werden derzeit Ideen entworfen und weiterentwickelt – bis sie vom Staat kassiert werden 

Wo wird die Start-up-Szene Irans also im Jahr 2027 stehen? Mohammadreza Azali blickt positiv in die Zukunft: »Ich erwarte, dass es nur vier bis fünf Jahre dauern wird, bis unser Start-up-Ökosystem ein reiferes Stadium erreicht. Sobald wir das Klonen bestehender Start-ups gemeistert haben, werden wir unsere eigenen, einzigartigen Unicorns erschaffen.« Dem stimmt auch Mehrad Abdolrazagh zu, einer der Geschäftsführer von Snappfood. Während derzeit weiter alle davon sprechen würden, dass man »auf Gold gestoßen« sei, sieht er in der Entwicklung Parallelen zur Dotcom-Blase Ende der 1990er Jahre: »In zwei bis fünf Jahren wird die Euphorie verpufft sein. Viele Start-ups werden gescheitert sein und nur einige wenige Modelle werden sich bewährt haben.« 

Auch über die Auswirkungen des Start-up-Booms für das Land als Ganzes gehen die Meinungen auseinander. Manche sehen in der Digitalisierung den Hoffnungsträger für den seit Jahren unzureichend organisierten Arbeitsmarkt; manch andere hoffen auf eine Stärkung der Frauen im Berufsleben, vor allem auf Management-Ebene. 70 Prozent aller Studenten in den Ingenieursund Naturwissenschaften sind weiblich. Manche der Hochschulabsolventinnen, die in Iran insgesamt mehr als die Hälfte aller Studenten stellen, haben bereits jetzt als ambitionierte Gründerinnen selbst das Heft in die Hand genommen. Und vielleicht werden in zehn Jahren in Iran prozentual mehr Start-ups von Frauen geführt als im Silicon Valley, dem reifsten Ökosystem, das seit einiger Zeit öffentlich wegen seiner sexistischen Kultur am Pranger steht.

Von: 
Lena Späth
Fotografien von: 
Hamed Farhangi

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