Lesezeit: 8 Minuten
Syriens Zukunft

12 Thesen zu Syrien

Essay
Sewer Homs
Foto: Carole Alfarah

Und was kommt nach dem Krieg? Womit man in Syrien in den kommenden Jahren rechnet.

Der Krieg in Syrien ist noch nicht vorbei, dennoch zeichnet sich langsam ab, wie das Land in Zukunft beschaffen sein wird.

Alte Rechnungen

Der »Islamische Staat« (IS) wird auch kommenden Generationen in Syrien keine Ruhe lassen. Autoritäre Regime – nicht nur das syrische – werden den schnellen Aufstieg und die brutale Herrschaft der Dschihadisten als Vorwand heranziehen, um jegliche politische Opposition zu zerschlagen. Dennoch ist der IS weit mehr als ein Schreckgespenst. Die verstreuten Kämpfer, die bis zuletzt ums Kalifat gekämpft, die Niederlage überlebt und sich für ein Leben im Untergrund entschieden haben, werden über Jahre immer wieder mit Anschlägen auf sich aufmerksam machen, versuchen, aus strategischen Fehlern zu lernen, sich neu aufstellen – und auf ihre nächste Chance warten.

Aber wie werden die Syrer zu ihren Mitbürgern stehen, die sich dem IS angeschlossen und die eigenen Landsleute terrorisiert haben? Insbesondere in den einstigen IS-Hochburgen im Norden werden diejenigen Kämpfer, die sich wieder in ein ziviles Leben integrieren wollen, mit den Folgen der Dschihadisten-Herrschaft auseinandersetzen müssen. Ob Mitläufer oder Zwangsrekrutierte, die Wut der Opfer und Hinterbliebenen wird sich Bahn brechen.


Staat-Ziel

Einen unabhängigen, international anerkannten Kurden-Staat in Syrien wird es nicht geben – und doch werden die syrischen Kurden einen eigenen Staat bekommen. Wie geht denn das?

Die Antwort: eine Art Bundesstaat, denn damit haben Russland und die USA grundsätzlich kein Problem. Und selbst Assads Außenminister Walid Al-Muallem bezeichnete den Status der Gebiete im Norden als »Verhandlungssache«. Und das nicht nur mit den Groß- und Regionalmächten sowie dem Regime: Denn die Kurden werden sich ihren Bundesstaat mit anderen Minderheit wie Arabern und Assyrern teilen müssen.

Für die »Volksverteidigungseinheiten« (YPG) und ihre Alliierten in den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) brächte das zwar neue Kompetenzen als reguläre Polizei- und Sicherheitskräfte, aber auch Verantwortung. Ein ähnliches Loyalitätsdilemma zwischen Partei und Bürger beschäftigt bis heute die Autonomieregion im Irak.


Die Nusra-Front ist Geschichte

Die andere Dschihadisten-Armee von Bedeutung hat sich im Nordwesten Syriens eigenistet: Die Nusra-Front hat sich unter der Zivilbevölkerung keine Freunde gemacht, und auch die anderen Milizen, die sie in den vergangenen Jahren in Allianzen gezwungen hat, werden ihr keine Träne nachweinen, wenn sie von den Kampffliegern der US-geführten Koalition und russischen Bombern in die Zange genommen wird.

Die Nusra-Front ist das Ass der Türkei in der Region. Aber sobald Ankara eine geeignete Abmachung mit Russland trifft, hat der Al-Qaida-Ableger in Syrien kaum eine Chance, sich in Syrien zu halten – daran werden auch weitere Namensänderungen und Verhandlungsbereitschaft nichts ändern. Das Machtvakuum im Nordwesten füllen wird die oppositionelle Milizenallianz Ahrar Al-Scham, der zweitwichtigste Handlanger der Türkei.


Freunde auf Zeit

Russland und Iran haben für den Krieg in Syrien tief in die Tasche gegriffen und machen keinen Hehl daraus, nun Pfründe einzuheimsen und ihr Revier zu markieren. Für den Moment stehen beide Länder auf derselben Seite. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in die Quere kommen. Teheran könnte solch eine Konfrontation schon bald bereuen.

Wenn es um wirtschaftliche Vorteile, wie etwa Deals für staatseigene Unternehmen, geht, wird sich Moskau von Iran nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Zudem hat Russland als Großmacht einen viel weiteren Interessenhorizont und ordnet die Beziehungen zu Teheran diesem Kalkül unter. Russlands Position im Atomkonflikt kann sich daher auch von der in Syrien unterscheiden – zumal Moskau seinen Einfluss in Syrien durchaus als Faustpfand sieht, um die Beziehungen zum Westen zu verbessern.


Das geringste Übel

Niemand mag ihn sonderlich leiden, aber er geht als Gewinner aus dem Krieg in Syrien hervor. Baschar Al-Assad hat es geschafft, sich an der Macht zu halten, weil er Feinde wie Freunde vom selben Argument überzeugt hat: Ihr findet keinen anderen, der mich ersetzen kann – oder zumindest könnt ihr euch auf niemanden einigen.

Diese Linie konnte Assad während des Krieges fahren, eine sichere Bank für die Zukunft seiner Person und seines Clans an der Spitze des Staates ist das aber nicht. Russland lehnt aus Prinzip einen – vom Westen vorangetriebenen – Regimewechsel von außen ab, würde aber einem Palastcoup nicht im Wege stehen, sollte sich ein fähiger Sachwalter russischer Interessen finden, der weniger polarisiert als Assad.

Bislang haben die Großmächte in diesem Krieg keinen Nachfolger für den derzeitigen Präsidenten gefunden. Und Iran braucht Assad, um die Investitionen in Syrien zu sichern, denn momentan können sie sich dafür auf niemand anderen verlassen.


Neue Blockflöten

Obwohl das Assad-Regime als Sieger aus dem Krieg hervorgeht, muss es nach außen zeigen, dass es auf den Wunsch der Bevölkerung nach Ausweitung der politischen Partizipation eingeht. Dafür eignet sich am besten das Parlament. Das Regime hat prinzipiell die Möglichkeit oppositioneller Aktivität legalisiert und die Gründung neuer Parteien begrüßt.

Gut vorstellbar, dass Assad feierlich neue Parteien im Abgeordnetenhaus begrüßen und eine neue Ära der Meinungspluralität in Syrien ausrufen wird. Gut möglich, dass Russia Today diese Sitzung übertragen und als Beweis für die guten Absichten der syrischen Führung heranzieht.

Aber machen wir uns nichts vor: Handverlesene Blockparteien um Vertreter aus der syrischen Oberschicht machen noch keine Opposition. Eine ernst gemeinte Demokratisierung liegt in Syrien in weiter Ferne.


Armee ohne Bürger

Ohne Unterstützung von außen hätte Assad den Krieg wohl verloren. Syriens Streitkräfte sind ausgeblutet, der Neuaufbau der Armee wird sich lange hinziehen. Der Dienst an der Waffe ist wenig reizvoll für viele junge Männer, die in den vergangenen Jahren in immer größerer Zahl versuchten, den Pflichtwehrdienst zu umgehen.

Zudem wird der Wiederaufbau der Armee äußerst selektiv und unter iranisch-russischer Aufsicht verlaufen. Diese Umstrukturierung soll womöglich die Schlagkraft des Militärs erhöhen. Eine Truppe aus Rekruten, ein Spiegelbild der Gesellschaft, kann Syriens Armee dann aber nicht mehr sein.

Statt seine Landsleute über den Wehrdienst an sich zu binden, droht das Regime auf lange Sicht die Distanz zwischen Volk und Armee zu zementieren. Sollte den syrischen Streitkräften eine neue Landesstaffel der Hizbullah aufgezwungen werden – so wie im Libanon –, könnte das den offensichtlichen Vasallen-Status des Assad-Regimes offenlegen und Ressentiments selbst in den Gemeinden schüren, die Assad bislang die Treue hielten.


Vollbeschäftigung

Iran wird seine militärische Präsenz in Syrien verstetigen – unter direkter Führung der Revolutionsgarden. Und nicht mal neue Jobs sind für die syrischen Projektpartner drin. Stattdessen wird Teheran wohl größtenteils auf das Personal bauen, das sich am effektivsten unter iranischer Führung in Syrien gezeigt hat.

Die irakischen Milizen und ihre Befehlshaber werden in großen Teilen ebenso in Syrien bleiben wie die zahlreichen afghanischen Kämpfer. Und möglicherweise werden sie für ihren loyalen Dienst gar mit der syrischen Staatsbürgerschaft belohnt.

»Syrien ist nicht für jene, die dort wohnen oder die Staatsbürgerschaft haben, sondern für die, die es verteidigen und beschützen«, verkündete Baschar Al-Assad bereits in einer Rede im Juli 2015.


Viel Aufarbeitungsarbeit

Der Krieg in Syrien hat die konfessionalistische Spaltung nicht begründet, sondern lediglich zutage gefördert, was das Assad-Regime jahrzehntelang übertüncht hatte. Diese Erkenntnis rückt in den vergangenen Jahren immer mehr in die Öffentlichkeit – und beschäftigt damit auch Kunst und Kultur.

Syriens Literaturszene, insbesondere in der Diaspora, wird sich für lange Zeit primär mit den Kriegsereignissen, dem menschlichen Leid und den gesellschaftlichen Folgen des Konfessionalismus auseinandersetzen. Dieser Fokus bietet zwar einen Ansatz zur Aufarbeitung, könnte aber die Gräben ebenso weiter vertiefen.

Das kollektive Gedächtnis der syrischen Gesellschaft wird das Bild dieses Krieges für lange Zeit präsent erhalten. Aber jeder Teil der Gesellschaft wird es aus einer eigenen Perspektive sehen, ebenso wie die Libanesen und Iraker eigene Helden feiern und Opfer beklagen. Eine gemeinsame, verbindende Erinnerungskultur hat unter dieser Nachkriegsordnung einen schweren Stand.


Das Kalkül des Hungers

Die Hizbullah hat die sunnitische Bevölkerung systematisch aus dem Grenzgebiet zwischen Syrien und dem Libanon in Richtung Idlib und Aleppo verdrängt. Dieser erzwungene demografische Wandel folgt einem Kalkül: Die Hauptstadt, knapp 20 Kilometer von der Grenze entfernt, und das Umland von Damaskus sollen mit loyalen, überwiegend schiitischen und alawitischen Einwohnern besiedelt werden.

In den Vorstädten und dem ländlichen Gürtel um Damaskus brodelt seit Jahren der Widerstand gegen das Regime – und Assad scheute sich nicht, ein Exempel zu statuieren: Die überwiegend sunnitischen Ortschaften Ghuta, Zabadani und Daraya mussten sich dem Druck der Belagerung beugen, der jegliche Versorgung abschnitt – auch für Zivilisten. Das wohl eindrücklichste Beispiel für die Aushungerungsstrategie des Regimes bot Madaya. Die Bilder von ausgemergelten Kindern aus dem Dorf nahe der libanesischen Grenze gingen um die Welt.

Mit solchen Methoden trieb und treibt das Assad-Regime die Überlebenden in die Flucht gen Nordsyrien. Die Zerstörung des religiösen Mosaiks ist der Preis, den Assad zu zahlen willens ist, um sich seine Herrschaft durch die Schaffung möglichst homogener – und demnach loyaler – Blöcke zu sichern.


Notstand mit System

Der gute Bildungsgrad früherer Zeiten spiegelte sich insbesondere im Gesundheitswesen wider. Syrien war Heimat zahlreicher Arztpraxen, pharmazeutischer Labore und Arzneimittelherstelle.

Aber infolge des Krieges hat ein Großteil des medizinischen Personals, das an europäischen und amerikanischen Universitäten die Ausbildung weiterverfolgte, das Land verlassen. Viele Pharma-Unternehmen sind umgesiedelt, um ihre Vermögen in Sicherheit zu bringen

Aus den Krankenhäusern des Landes mehren sich die Berichte über schlechte Behandlung und Medikamentenmangel. Die Beschäftigten in Syriens Gesundheitssektor sind unzureichend ausgebildet und ausgestattet

Der Grund für die gravierende Schieflage im Gesundheitswesen ist zu großen Teilen hausgemacht – und ist die Folge einer perfiden Kriegsstrategie. Denn nicht zuletzt hat das Regime gezielt Feldhospitäler in oppositionellen Ortschaften unter Beschuss genommen – und so eine ganze Generation angehender Ärzte ausgeschaltet.


Ausgebildet

Einst zählte Syrien Bildungssystem zu den Spitzenreitern in der Region. Nicht nur die physische Zerstörung von Bildungseinrichtungen, von Schulen, Universitäten und Kindergärten, wird das Land über Jahre zurückwerfen.

Die meisten syrischen Autoren, die in der Regel zu der Ausarbeitung des Lehrplans beitragen, sind nicht mehr im Land und haben eine ablehnende Haltung gegenüber dem Regime eingenommen. Zudem wacht das Regime noch achtsamer auf die Lehrinhalte und hat etwa systematisch jegliche Texte von Autoren entfernt, die auch nur der Sympathie für Regime-Opposition verdächtigt werden.

Das Curriculum, einst gespickt mit anspruchsvoller arabischer Literatur, hat so deutlich an Qualität eingebüßt – und kommenden Generationen wird zumindest an den Schulen ihr literarisches Erbe vorenthalten.

Von: 
Hussam Al-Rifai

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.