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Interview

»Ich möchte keinen Regimewechsel, ich will das Regime abschaffen«

Interview
von Eva Tepest
Razan Ghazzawi
Foto: Ibrahim Al-Assil

Razan Ghazzawi stand für den friedlichen Widerstand gegen das Regime - und warnt heute vor Assads Plänen, um das Land zu »befrieden«.

zenith: Im August sagte Baschar Al-Assad bei einer Rede in Damaskus, nach seinem Sieg sei Syrien nun »gesünder und homogener«. Auch in Europa sind viele der Ansicht, dass der Erhalt des Regimes Syriens bester Garant für Frieden und Stabilität sei.
Razan Ghazzawi: Diese Aussage traf er im Anschluss an den Fall Aleppos. Es sagt viel darüber aus, dass Militarisierung und Krieg die Sprache des Regimes bestimmen. Viele sehen den Konflikt in Syrien als einen Krieg zwischen verschiedenen staatlichen und nicht staatlichen Akteuren. Dabei begann er, weil ein Diktator sich für Krieg anstelle von Demokratisierung und Wandel entschied. »Homogenität« bedeutet für Assad, jeden auszulöschen, der gegen das Regime sein könnte. Dabei waren nicht alle Menschen, die zum Zeitpunkt der Belagerung, Bombardierung und Zwangsumsiedlungen in Aleppo waren, Oppositionelle. Viele von ihnen waren nicht privilegiert genug, um sich in Sicherheit zu bringen, oder sie wollten ihre Familien nicht zurücklassen. Assad hat gewonnen, weil er eine halbe Million Menschen umbrachte und die Hälfte der Bevölkerung ihr Zuhause verlor.

Was bedeutet die Stabilisierung des Assad-Regimes für die syrische Opposition und ihre Rolle beim Wiederaufbau?
Mit der Stabilisierung wird das zentrale Pro­blem der syrischen Opposition deutlich. Sie ist allzu oft ausschließlich auf den Sturz Assads fixiert – als ob das automatisch alle Probleme lösen würde. Dabei sollte er der Ausgangspunkt für unsere oppositionelle Arbeit sein. Ich selber habe 2006 angefangen zu bloggen, die Regierung zu kritisieren – damals hatte das Konzept »Regime« noch keinen Platz in meinem Denken. Heute kämpfe ich gegen viele andere wichtige Probleme neben Assad an, aber dieses Anliegen teilen eine Menge Leute in der Opposition nicht.

Wogegen kämpfen Sie konkret an?
Sowohl oppositionelle Gruppen als auch viele Regimeanhänger denken, dass manche Staaten gefährlicher sind als andere. Sie teilen sie in Feinde und Verbündete ein. Je nachdem ist es dann okay, mit Saudi-Arabien, Katar oder der Türkei zusammenzuarbeiten. Die Opposition hat sich für den einfachsten Weg entschieden, indem sie sich mit repressiven Regionalmächten verbündete. Sogar einige Linke haben diesen Kurs unterstützt. Das »Hohe Verhandlungskomitee« (HNC) …

… eine 2016 ins Leben gerufene Dachorganisation zur Repräsentation syrischer Oppositionsgruppen bei den Genfer Friedensgesprächen
...bleibt gegenüber der türkischen Besetzung in Nordsyrien stumm und billigt die Nusra-Front – dämonisiert aber die Kurden. Aus meiner Sicht kann keine Gruppe politischen Fortschritt reklamieren, die ein Territorium mit Gewalt kontrolliert und den Menschen sagt: »Wir werden euch befreien.«

Hat die Opposition beim Wiederaufbau ein Wort mitzureden?
Dass wichtige Probleme seitens der oppositionellen Gruppen nicht angegangen wurden, hat jetzt Auswirkungen auf den Wiederaufbau. Viele Leute innerhalb der Opposition sagen, dass die Gelder in diesem Kontext jetzt an »oppositionelle Geschäftsmänner« gehen sollten. Wie können wir annehmen, dass diese Art von Neoliberalismus sich von der staatlichen Monopolstellung der vergangenen Jahrzehnte unterscheidet? Die Planung und Durchführung von Projekten wird nur unter der Aufsicht Syriens neuer Kolonialmächte – Iran, Russland, Türkei – möglich sein. Der Wiederaufbau setzt die Kolonialisierung von Syriens Ressourcen fort. Und Assad Al-Zubi und Riad Hijab …

… einer der Delegationsführer der syrischen Opposition in Genf sowie der Vorsitzende des »Hohen Verhandlungskomitees« ­
… haben Kurden als »Schuhputzer« bezeichnet, die erst »von Assads Regime zu Menschen gemacht wurden«. Mehreren Oppositionsführern, wie Ahmad Al-Jarba …

»Die Opposition hat sich für den ­einfachsten Weg ­entschieden, indem sie sich mit repressiven Regionalmächten ­verbündete«

… der ehemalige Vorsitzende des »Syrischen Nationalrats«
...wurde kürzlich sexuelle Belästigung vorgeworfen. Es haben sich sehr problematische Hierarchien innerhalb der oppositionellen Gremien etabliert, die mit Verweis auf das höhere Gut – Assad zu stürzen – unangetastet bleiben. Die Frage sollte aber sein: Kämpfen wir für Gerechtigkeit auf allen Ebenen oder für einen Regimewechsel? Ich möchte keinen Regimewechsel, ich will das Regime abschaffen.

Bieten sich denn alternative Führungsstrukturen an?
Ich glaube, dass Aktivisten in Syrien vor Ort und im Exil gegen diese Strukturen ankämpfen. 2011 erlebten wir ein revolutionäres Momentum, weil wir uns vergegenwärtigten, dass wir um unsere Rechte kämpfen müssen. Und dieses Momentum wird nie aufhören. Für alle, die sich für ein föderales und demokratisches Syrien einsetzen, muss das wichtigste Ziel sein, die Herrschaft des Volkes über den Staat wiederherzustellen.

Und wie soll das gelingen?
Aktivisten auf lokaler Ebene – darunter auch Frauenrechtsaktivisten und Medienschaffende – haben gegen die Nusra-Front protestiert, gegen die FSA, gegen Assad, gegen den IS, gegen alle Autoritäten, die aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen sind. Wir müssen uns mit Befreiungsbewegungen in der Region solidarisieren – der palästinensischen, der jemenitischen, der bahrainischen Bewegung, mit den Menschen im Libanon, in Ägypten, in Iran, in der Türkei! Diesen Weg verfolgen viele syrische Aktivisten, besonders diejenigen, die im Exil leben. Wir müssen uns gemeinsam als Völker gegen unsere eigenen Regime verständigen.

Sie kritisieren immer wieder, dass die syrische Opposition strukturell frauenfeindlich ist. Woran machen Sie das fest?
2013 war ich die einzige unverschleierte Frau in Kafranbel …

… eine Kleinstadt im Nordwesten Syriens, die seit August 2012 unter der Kontrolle der »Freien Syrischen Armee« und zunehmend auch verschiedener sunnitischer islamistischer Brigaden steht und die für ihre satirische Medienarbeit bekannt ist
... dort bin ich mit sozialem Druck und Anfeindungen konfrontiert worden. Die Zwangsverschleierung von unverschleierten Frauen in den sogenannten befreiten Gebieten ist eine Form von Gewalt. Das Problematische an der FSA ist, dass sie militärische Kräfte nutzte, um im Anschluss ihre Version von Regierungsgewalt, ihr Verständnis von einem »guten Mann«, einer »guten Frau« zu implementieren. In diesem Zusammenhang habe ich 2013 meine Kritik an der FSA und der institutionalisierten Oppositionsbewegung entwickelt. Gleichzeitig will ich die FSA nicht verteufeln. Sie hat oft friedliche Proteste geschützt, die nur deswegen nicht vom Regime attackiert wurden, weil ihnen FSA-­Kämpfer mit Waffen zur Seite standen.

Wie wurde Ihnen auf Ihre Kritik begegnet?
Auf meine Kritik in Kafranbel hin wurde ich 2013 von Aktivisten und Intellektuellen, darunter auch Frauen, gefragt, wovon ich denn reden würde, wenn ich Misogynie innerhalb der oppositionellen Bewegung kritisiere. Wir befänden uns schließlich im Krieg. Ich könnte kein Teil der Gemeinschaft in Kafranbel sein, da ich zu urban, zu anders sei – eine Argumentation, die unterstellt, dass Menschen dort niemals jemanden akzeptieren werden könnten, die anders sind als sie.

Machen andere Frauen in der Opposition ähnliche Erfahrungen?
Die Reaktionen, die ich erfahren habe, sind auch Ausdruck eines strukturellen Problems. Syrische Frauen, die über Politik redeten, wurden im Internet bedroht, nicht ernst genommen, Männer haben ihnen erklärt, wie Politik richtig zu machen sei. Aktivistinnen werden persönlich angegriffen und diskreditiert. Vor Kurzem wurden Frauen, die in Paris eine syrische feministische Frauengruppe gegründet haben, von Männern angegriffen, die fragten: »Was sind das für Frauen? Sie sehen nicht aus wie Inhaftierte oder die Mütter unserer Märtyrer.« Seit diesem Jahr nutzen syrische Trolls den Ausdruck »weiße Syrer« …

… ein Ausdruck zur Diffamierung vermeintlich »verwestlichter« Syrer
... doch dieser Begriff wird mittlerweile meist gegenüber Frauen benutzt, die Misogynie innerhalb der Bewegung kritisieren. Ich wurde so bezeichnet, als ich Intellektuelle kritisierte, die einen Vergewaltigungswitz runtergespielt hatten.

Wie können Menschen, etwa aus Deutschland, die progressiven Momente in der syrischen Opposition unterstützen?
Man darf nur Graswurzelbewegungen unterstützen. Offizielle oppositionelle Organe können Verbündete sein, aber sie müssen beständig zur Rechenschaft gezogen werden. Die syrische Bewegung machen die Menschen aus, die konkret, vor Ort und im Exil, an ihren Projekten arbeiten. Manche von uns organisieren sich schon wieder und versuchen, auf die momentane Situation zu reagieren. Ich habe immer Hoffnung, auch wenn die Lage aussichtslos scheint.


RAZAN GHAZZAWI ist eine syrisch-palästinensische Aktivistin und Wissenschaftlerin. Als Grassroot-Aktivistin erlangte sie nach 2011 Bekanntheit, weil sie als eine der wenigen auf Englisch aus Syrien heraus bloggte und twitterte. Nach zwei Festnahmen durch das Regime verließ sie Syrien 2013, als der IS sich Kafranbel näherte. Zurzeit schreibt sie ihre Doktorarbeit an der Universität Sussex über queeren Widerstand im postrevolutionären Syrien. Sie tweetet unter @Redrazan.

Von: 
Eva Tepest
Fotografien von: 
Ibrahim Al-Assil

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