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Säkularismus

Assad und der Koran

Essay
Das Emblem des syrischen Ablegers der Baath-Partei

Das Assad-Regime verkauft sich als säkularer Verbündeter im Kampf gegen den Terrorismus.

Einst träumten die jungen Leute, die in Syrien die Revolution anfachten, davon, ein despotisches und absolutistisches Regime abzusetzen, um einen modernen Staat, im Dienste der Bürgerinnen und Bürger, zu bilden. Was diese jungen Leute wollten, war der Säkularismus in seiner wahrhaftigen Form, nicht jene Fälschung, die ihnen die Assads und ihr Regime aufgezwungen haben.

Seit Jahrzehnten setzt das syrische Regime den Anspruch der Säkularität als zentrales Mittel ein, um die eigene Herrschaft – besonders dem Westen gegenüber – zu legitimieren. Dabei inszeniert es sich als Beschützer der Minderheiten im Kampf gegen den Islamismus und verkauft sich als Partner in der Terrorbekämpfung, die dem Ausbreiten des islamischen Fundamentalismus entgegenwirkt. Die Propagandamaschinerie des Regimes ist und war beharrlich darauf bedacht, dieses Bild auf sämtlichen Kanälen zu verbreiten. Durch die Erinnerung an den blutigen Kampf gegen die Islamisten während der achtziger Jahre zum Beispiel oder durch das Perpetuieren des arabisch-nationalistischen Slogans der Baath-­Partei (»Einheit, Freiheit, Sozialismus«), des ideologischen Deckmantels des Regimes.

Trotz der anhaltenden Verbrechen gegen das eigene Volk und der katastrophalen Lage, in die es das Land gebracht hat, unterstützen nicht nur Söldner und gekaufte Stimmen, sondern heute auch Politiker, Schriftsteller und Journalisten aus der Region selbst oder aus dem Westen dieses Regime. Die Propaganda zeitigte also Erfolg, denn obwohl das Regime selbst Milizen mit religiöser und konfessioneller Ausrichtung einsetzt, um die eigene Macht zu festigen, verteidigen jene Unterstützer die Machterhaltung des Regimes mit einem zentralen Argument: Es sei wichtig zu verhindern, dass extremistische Kräfte das Machtvakuum der »einzigen säkularen Regierung in der Region« füllen.

Anhand zweier Grundaspekte kann die Säkularität, die das syrische Regime für sich reklamiert, widerlegt werden. Denn sie verkörpern den Kern des Säkularismus und machen deutlich, welche Systeme oder Verfassungen an den Kriterien scheitern und dem Anspruch der Säkularität somit nicht gerecht werden.

Wie sollen gleiche ­Rechte und Pflichten in einem Land gelten, in dem die Verfassung verbietet, dass ein Nicht-Muslim den ­Präsidentenposten besetzt?

Der erste Aspekt betrifft den Säkularismus als Trennung von Religion und Staat. Damit geht einher, dass der Einflussnahme der Religion in weltliche Angelegenheiten ein Riegel vorgeschoben wird. Der zweite Aspekt meint die Formulierung eines Staates, in dem alle Bürgerinnen und Bürger gleichberechtigt und frei von Diskriminierung leben können, ohne Bevorzugung von Individuen oder Gruppen aufgrund irgendwelcher Zugehörigkeit oder religiöser oder weltlicher Überzeugungen.

Die Baathisten in Syrien haben sich von Anfang an, seit der Machtübernahme in den 1960er Jahren, auf konfessionelle Gruppen und die Religionszugehörigkeit als Mittel der Festigung ihrer Macht gestützt – im völligen Widerspruch zu den Grundsätzen des Säkularismus. Nicht einmal den Ansprüchen ihrer ideologischen Verpackung, dem arabischen Nationalismus, wurde dieses totalitäre Militärregime dabei gerecht, genauso wenig wie dem Anspruch der »Progressivität«, die sich die Baathisten selbst auf die Fahne schrieben. Differenzen über den Kurs im Militär und in der Partei mündeten schließlich in Säuberungen – damit waren die Weichen für die Ein-­Mann-Diktatur des Assad-Clans gestellt. Hafiz Al-Assad stieg im November 1970 zum alleinigen Herrscher auf, war Oberbefehlshaber der Armee und Vorsitzender der Baath-Partei und bekleidete bis zu seinem Tod im Juni 2000 den Posten des Präsidenten, den er seinem Sohn Baschar vererbte. Unter Hafiz Al-Assad wurde ein Regime begründet, das dem Präsidenten gemäß der Verfassung die absolute Macht gewährt und die Führungsrolle der Baath-Partei in Staat und Gesellschaft zementiert.

Jene Verfassung besteht aus in sich widersprüchlichen Texten, die eben allen Argumenten für den angeblich säkularen Charakter des Systems zuwiderlaufen. So steht dort geschrieben: »Die Religion des Präsidenten der Republik ist der Islam.« Dies steht im direkten Widerspruch zu einer Verfassungsklausel, in der es heißt: »Die Bürger sind in ihren Rechten und Pflichten vor dem Gesetz gleich, der Staat gewährleistet die Chancengleichheit der Bürger.« Wie sollen jedoch gleiche Rechte und Pflichten in einem Land gelten, in dem die Verfassung verbietet, dass ein Nicht-Muslim den Präsidentenposten besetzt, nicht zuletzt angesichts der religiösen Vielfalt in Syrien?

Die Republik wird zudem auf den »Staat der Baath-Partei« reduziert. Dies steht im Widerspruch zum Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, da die Herrschaft einer einzelnen Partei allein gehört und deren Ideologie zur Staatsideologie erklärt wird. Im Gegensatz dazu steht der säkulare Staat neutral allen Überzeugungen und Ideologien gegenüber. Obwohl das Regime diesen Artikel über die Alleinherrschaft der Baath-Partei zu Beginn der Revolution 2011 aufgehoben hat, änderte das nichts an den tatsächlichen Machtverhältnissen.

In der neuen Verfassung, die im Rahmen eines angeblichen Reformpakets die Revolution eindämmen sollte, werden diskriminierende Tendenzen gegenüber den Bürgern aufgrund der Religion beibehalten – und sogar ausgeweitet. So heißt es darin: »Die Religion der Republik ist der Islam«. Und weiter: »Die islamische Rechtslehre (Fiqh) ist die oberste Quelle der Gesetzgebung«. In einer neu hinzugefügten Klausel heißt es darüber hinaus, das Zivilrecht sei unabdingbar gemäß der Konfession anzuwenden – eine verfassungsrechtliche Bestätigung des Prinzips Konfession vor Staatsbürgerschaft. Dass das Zivilrecht konfessionellen Gesichtspunkten unterliegt, steht im Widerspruch zur Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger und zu dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.

Das lässt keinen Raum zur Interpretation: In einem säkularen System ist die Konfession in keinem Fall eine Bedingung zur Bekleidung eines Amtes – ungeachtet der prozentualen Verteilung der Religionszugehörigkeit. In einem säkularen System sind alle Staatsbürger gleichberechtigt und als solche definiert, nicht etwa in ihrer Eigenschaft als Angehörige einer bestimmten Glaubensgemeinschaft. Gleichermaßen gilt das für die bevorzugte Behandlung von Bürgern, die Parteimitglieder sind.

Die Privilegierung von Parteimitgliedern verstößt gegen die Prinzipien der Neutralität des Staates und der Gleichheit vor dem Gesetz. Auch all jene sozialistischen Einparteienstaaten, die als Beispiel dienen, um Säkularismus und Atheismus in einen Topf zu werfen, waren eben nicht säkular. Die Macht lag einzig in den Händen der Arbeiterpartei. Gleichzeitig diente der Atheismus als Kriegserklärung an alle Religionen. Damit standen diese Staaten in keinem neutralen Verhältnis zu Religion und Überzeugung, sondern vertraten dogmatisch eine antireligiöse Haltung. Der wirklich säkulare Staat ist nicht religionsfeindlich, er gewährt Religionsfreiheit.

Die Maßnahmen des Assad-Regimes entlarven den Pseudo-Säkularismus in der Praxis. Im Zuge der demonstrativ gewalttätigen Bekämpfung der oppositionellen islamischen Strömungen erstickte es die Opposition aus linken und arabisch-nationalistischen Parteien. Gleichzeitig war Baschar Al-Assad bemüht, sich milde und rücksichtsvoll gegenüber der zunehmend offen zur Schau getragenen Religiosität in der Gesellschaft zu präsentieren. Beide Assads öffneten großzügig die Staatsschatulle für Moscheebauten. Vater wie Sohn ließen sich zu religiösen Anlässen medienwirksam beim Beten ablichten und im ganzen Land Zweigstellen des »Assad-Instituts für Koranstudien« eröffnen.

Die Zusammenarbeit mit dem iranischen Regime trieb Islamisierung und Konfessionalisierung weiter voran. So entsandte Teheran Missionare nach Syrien und finanzierte schiitische Missionskampagnen. Und auch im Kampf gegen sunnitische Dschihadisten setzte Assad Milizen mit eindeutig konfessioneller Ausrichtung aus dem Libanon und dem Irak ein.

Und nun dient der Pseudo-Säkularismus des syrischen Regimes jenen als Negativbeispiel, die dem Prinzip des Säkularismus an sich feindlich gesinnt sind. Befürworter säkularer Ideale werden also von zwei Seiten bedrängt. Denn trotz der Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien und säkularer Werte brachten weite Teile der syrischen Zivilgesellschaft ihre grundsätzliche Zustimmung zum Säkularismus zum Ausdruck. Insbesondere im Vergleich – und in Abgrenzung – zu den Nachbarstaaten lehnte ein Großteil der Bevölkerung religiöses extremistisches Gedankengut ab und bekannte sich zu religiöser Vielfalt. Doch die Einflussnahme islamistischer Milizen – sowohl Sunniten als auch Schiiten – droht nun zu vollenden, wofür das Regime den Weg geebnet hat: das Ende von Toleranz und Koexistenz.


TAREK AZIZEH ist Schriftsteller und Essayist. Der Soziologe aus Latakia hat den Aufstieg dschihadistischer Gruppen in Syrien untersucht.

Von: 
Tarek Azizeh

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