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Interview

»Ein Syrien ohne Assad ist möglich«

Interview
von Leo Wigger
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Foto: Marisa Reichert

Wird die Arabische Republik Syrien weiterhin bestehen? ­Staatsrechtler Naseef Naeem über politische Spielräume und seine Idee von einem Syrien der Regionen.

zenith: Herr Naeem, nach sechs Jahren Krieg ist Syrien heute in unterschiedliche Einflussgebiete zersplittert, wenngleich das Regime verlorenes Territorium nach und nach wiedererobert. Hat der syrische Einheitsstaat überhaupt noch eine Chance?
Naseef Naeem: Es ist natürlich schwierig – und womöglich verfrüht –, schon jetzt über verfassungsrechtliche Fragen des Nachkriegs-Syriens zu sprechen. Erst einmal muss die Gewalt ein Ende finden. Aber das heißt nicht, dass man jetzt noch keine Anzeichen für die Zukunft der Staatlichkeit in Syrien finden kann. Die verschiedenen aktuellen Einflusssphären in Syrien werden in Zukunft auf irgendeine Art und Weise mit Autonomiefragen in Verbindung gebracht werden.

Welche Fragen sind da von Bedeutung?
Schauen wir zum Beispiel auf die de facto türkisch besetzten Gebiete in Nordsyrien. Die Türken werden nicht bis in alle Ewigkeit in diesen Gebieten bleiben – obgleich das nicht wenige in Syrien befürchten. Die Türkei wird sich eines Tages zurückziehen. Aber auch nach dem Rückzug werden diese Gebiete in ihrem Orbit bleiben. Die Frage ist also, wie man diese Einflusssphären strukturiert. Es wird kein zentralistisches Syrien mehr wie vor 2011 geben, aber auch keinen syrischen Bundesstaat. Ich schlage stattdessen einen neuen Begriff vor: ein Syrien der Regionen.

Was ist damit gemeint?
Eine Form der Regionalstaatlichkeit. Damaskus wird die zentralen Aufgaben von Staatlichkeit wahrnehmen: also Außen- und Verteidigungspolitik. Alle anderen Kompetenzen können zwischen der Zentralregierung und den Regionen verhandelt werden. Die syrischen Regionen werden also eine mehr oder weniger starke innere Autonomie besitzen. Sie werden aber durch eine starke finanzielle Bindung zum Zentrum zusammengehalten. Dabei könnten sich auch manche der bestehenden Provinzen zu einer Region zusammenschließen. Die Grenzen der jetzigen 14 Provinzen – oder Gouvernorate, wie man sie mitunter nennt – sind ja nicht in Stein gemeißelt.

»Es wird kein ­zentralistisches Syrien mehr wie vor 2011 ­geben, aber auch ­keinen syrischen Bundesstaat« 

Nur wieso sollte sich das Assad-Regime darauf einlassen, freiwillig Kompetenzen an die Regionen abzugeben? Droht das Nachkriegs-Syrien nicht stattdessen zu einem zweiten Somalia zu werden? Also zu einem Staat, in dem sich die Zentralregierung mit aller Macht an die Fantasie eines allmächtigen Einheitsstaates klammert, obwohl es in der Realität nur Teile des Landes kontrolliert?
Eine dauerhafte Zersplitterung Syriens halte ich eher für unwahrscheinlich. Die syrischen Randregionen sind vom sogenannten Kern-Syrien, also dem Gebiet zwischen Damaskus, Homs, Hama und Latakia, wirtschaftlich zu abhängig und können ohne das Zentrum nur schwer wirtschaftlich überleben. Meiner Meinung nach liegt darin der Trumpf dieses – oder eines anderen – Regimes, das Syrien in Zukunft beherrscht.

Sieht die internationale Gemeinschaft das genauso?
Die Vereinten Nationen erkennen nur die Vertreter des Zentralstaats als Vertreter des syrischen Volkes an. Völkerrechtlich legitimiert ist nach wie vor nur das Regime, sofern man es als Regierung der Arabischen Republik Syrien betrachtet. Auf der anderen Seite haben die Akteure, die auf diesem Territorium agieren, keine andere Wahl, als die aktuelle Teilung in verschiedene Einflusssphären zu akzeptieren und in eine neue Ordnung zu integrieren. Daher wird die Regionalisierung die gesamte zukünftige Verfassungskonstruktion prägen. Die internationale Gemeinschaft wird dies in ihren Verfassungsentwürfen zu berücksichtigen haben. Selbst der von Russland vorangetriebene Entwurf einer Verfassung ist davon geprägt

Von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet hat das Assad-Regime 2012, mitten im Krieg also, nach einem Referendum in den damals unter seiner Kontrolle stehenden Gebieten eine neue Verfassung eingeführt. Wieso sollte diese nun schon wieder abgeschafft werden?
Die Verfassung von 2012 hat ein Problem in ihrer Entstehungsgeschichte: Der Präsident hat sich damals als das verfassungsgebende Organ dargestellt und eine Kommission gegründet, die eine neue Verfassung ausgearbeitet hat. Die Initiative ging also von ihm aus. Nur hatte diese Initiative gar keine verfassungsrechtliche Grundlage. Denn laut der vorher gültigen Verfassung von 1971 hat der Präsident gar nicht die Kompetenzen, eine Verfassungskommission einzuberufen. Das kann auch nicht nachträglich durch ein Referendum legitimiert werden. Die Verfassung wird nach Kriegsende sicher nicht sofort zurückgenommen. Aber ob sie lange Bestand haben wird, steht auf einem anderen Blatt.

Was bedeutet das für Assad persönlich? Kann es sein, dass er bei dem Ringen um eine neue Verfassung durch die Hintertür doch noch die Macht verliert?
Schon in der Verfassung von 2012 wäre – zumindest theoretisch – ein Weg zu einem Syrien ohne Assad vorgezeichnet. Der betreffende Artikel, der über die Zulassung einer Person zur Kandidatur entscheidet, wird gemeinhin so interpretiert, dass Assad sich nur noch ein weiteres Mal zur Wahl stellen kann: regulär im Jahr 2021. Einmal – seit die Verfassung in Kraft ist – wurde er ja bereits wiedergewählt: 2014.

In einer äußerst umstrittenen Wahl, an der nur ein Bruchteil der Bevölkerung teilnehmen konnte.
Nach europäischen Maßstäben war die Wahl von 2014 sicherlich illegitim. Viele Gebiete waren von der Abstimmung ausgeschlossen, die Auswahlmöglichkeiten waren sehr begrenzt. Allerdings: Solange es innerhalb des politischen Systems Syriens keine Institutionen gibt, die die Legitimation der Wahl anzweifeln, stellt sich die Frage der Legitimation nicht. Verfassungsrechtrechtlich ist sie so weit legal. Es hat meines Wissens niemand vor syrischen Gerichten dagegen geklagt. Ob wir das gutheißen oder nicht, spielt dabei zunächst keine Rolle.

»Die Christen haben nur vier Optionen: Vertreibung, Vernichtung, einen eigenen Staat oder eine Inklusion in einem neuen Syrien der Regionen«

Die Verfassung hat also Bestand?
Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die neue Verfassung so lange bestehen bleibt. Aber das heißt nicht, dass sie nicht im Sinne des jetzigen Regimes wirken wird. Ganz im Gegenteil. Die neue Verfassung wird schlechterdings den politischen Entwicklungen in Syrien Rechnung tragen und noch mehr in Richtung Machterhalt des Regimes gehen – bis sich die Machtverhältnisse ändern. Schon deshalb ist ein Syrien der Regionen auf mittlere und lange Sicht keine schlechte Option. Und eine, die mehr Stabilität verspricht.

 

Den Syrien-Konflikt prägt heute eine starke konfessionelle Komponente, und die Frage nach konfessionellen Identitäten wird heute anders gestellt als vor 2011. Wie sehen Sie die Zukunft etwa des Christentums im Land?
Verzeihen Sie, dass ich das so drastisch sage, aber die christliche Gemeinschaft steht da wie das Kaninchen vor der Schlange: Dschihadisten greifen gezielt christliche Orte an, und der Krieg zieht ihre traditionellen Siedlungsgebiete außerhalb der großen Metropolen schwer in Mitleidenschaft. Und im Gegensatz zu anderen Minderheiten sind die Christen weitgehend auf das Wohlwollen und den Schutz vonseiten Dritter angewiesen. Eigentlich bieten sich den Christen vier Optionen oder besser Szenarien: Vertreibung – nennen Sie es von mir aus Emigration –, Vernichtung, ein eigener Staat oder eine wie auch immer geartete Inklusion in einem neuen Syrien der Regionen. Leider sind die ersten drei Möglichkeiten zurzeit deutlich wahrscheinlicher. Aber: Die internationale Gemeinschaft kann helfen.

Wie?
Indem zum Beispiel eine Möglichkeit gefunden wird, das weite Spektrum sehr unterschiedlicher christlicher Gruppen in eine Bahn zu lenken, die es den Christen erlaubt, effektiv ihre Interessen innerhalb des syrischen Staates zu vertreten. Da müsste man ansetzen. Dann hätten die Christen, genauso wie andere Minderheiten, durchaus Einflussmöglichkeiten.

Was haben politische Kräfte denn überhaupt für Möglichkeiten, sich gegenüber einem unerbittlichen Regime zu positionieren und ihre Interessen zu vertreten?
Interessant ist doch, dass es bereits viele Parteien in Syrien gibt, die aufgrund des neuen Parteiengesetzes in Syrien gegründet wurden. Wir würden diese Parteien zwar Blockparteien nennen ...

… um hervorzuheben, dass sie gewissermaßen vom Regime kooptiert sind oder zumindest innerhalb enger Grenzen agieren …
aber es gibt dennoch ein relativ weites Spektrum an Parteien, die inzwischen unter dem Regime arbeiten. In diesen Blockparteien sind durchaus Leute vertreten, die aufgrund ihrer persönlichen Macht­sphären viel mehr Freiheiten genießen, um Meinungen zu äußern, als andere, solange sie die grundsätzliche Ordnung nicht infrage stellen. Die Opposition im Ausland verweist immer gerne darauf, dass man die Blockparteien aufgrund ihres Arrangements mit dem Regime nicht ernst nehmen könne. Und das ist bis zu einem gewissen Grad ja auch berechtigt. Dabei wird aber übersehen, dass sich in dem Kontext des syrischen Staates durchaus gewisse Fenster für Partizipation öffnen können. Das ist übrigens typisch für Syrien. Die Frage der Personen war schon immer wichtiger als die Frage der Institutionen.


NASEEF NAEEM, 1974 in Fairouza (Syrien) geboren, studierte Jura in Aleppo und Damaskus und spezialisierte sich auf Staats- und Verfassungsrecht. Von 1999 bis 2002 war er als selbstständiger Anwalt in Syrien tätig. 2007 wurde er an der Universität Hannover promoviert und habilitiert sich derzeit in Göttingen. Bis Ende 2017 begleitete er im Auftrag der GIZ den Transformationsprozess im Jemen. Er ist Forschungsleiter der Beratungsgruppe zenithCouncil.

Von: 
Leo Wigger
Fotografien von: 
Marisa Reichert

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