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Revolutionsgarde in Iran

Das Versagen der Elite

Analyse
Iranische Revolutionsgarde nach Soleimani
Die Feierlichkeiten ziehen auch Besucher aus Ländern an, deren linke Bewegungen seit den 1980er-Jahren gute Beziehungen zur Islamischen Republik pflegen, wie diese Touristen aus Bolivien (l.) und Nicaragua. Foto: Farhad Babaei

Erst die Ermordung Qassem Soleimanis, dann der Abschuss von Flug PS752: Wie es wirklich um die iranische Revolutionsgarde bestellt ist und was das über den Zustand der Islamischen Republik aussagt.

Als Generalmajor Qassem Soleimani gemeinsam mit acht weiteren Männern in der Nacht auf den 3. Januar 2020 durch eine amerikanische Drohne in Bagdad getötet wurde, schien es kurzzeitig, als sei die – gesellschaftlich und politisch – tief gespaltene Islamische Republik Iran in Trauer vereint. Generäle der Revolutionsgarde traten allenthalben öffentlich auf, um Soleimani als einen der Ihren zu betrauern und damit etwas vom Glanz des Märtyrers auf sich fallen zu lassen. Am 8. Januar dann folgte der Gegenschlag – mit einem Raketenangriff auf eine US-Basis im Irak.

 

Es hätte ein Triumph für die Revolutionsgarde werden können, wäre nicht am Morgen nach dem Angriff eine Boeing 737-800 der Ukrainian International Airlines (Flug PS752) versehentlich abgeschossen worden: von der Flugabwehr der Revolutionsgarde. Das eigene Versagen wurde erst vier Tage später eingestanden und führte zu landesweiten Protesten, die international großes Aufsehen erregten und nicht zuletzt vom US-amerikanischen Präsidenten kommentiert wurden.

 

Beide Vorfälle müssen vor dem Hintergrund der iranischen und irakischen Institutionsgeschichte gelesen werden. Sie betreffen sowohl die iranische Revolutionsgarde als auch die irakischen Volksmobilisierungseinheiten (»Al-Hashd al-Sha’abi«). Die Entwicklung der genannten Institutionen ist untrennbar mit dem regionalpolitischen Engagement Irans im Nahen Osten verbunden.

 

Das im Deutschen als »Revolutionsgarde« bekannte »Korps der Gardisten der Islamischen Revolution« (»Sepâh-e Pâsdârân- e Enqelâb-e Eslâmi«) verdankt seine Entstehung dem Zusammenschluss verschiedener militanter schiitischer Netzwerke in Iran, von denen die meisten spontan in der Revolutionszeit entstanden waren. Ein kleinerer Teil kann seine Geschichte jedoch auf radikale, international vernetzte Gruppen zurückführen, die seit den 1940er-Jahren im Untergrund aktiv waren.

 

In der Frühzeit der 1979 gegründeten Islamischen Republik Iran übte die Revolutionsgarde polizeiliche und paramilitärische Funktionen aus – als bewaffneter Arm der landesweit aktiven Revolutionskomitees, denen parallel zur Polizei und Gendarmerie die innere Ordnung oblag, sowie als paramilitärische Infanterieeinheiten bei den Provinzgouverneuren, die für die Niederschlagung kommunistischer und separatistischer Aufstände verantwortlich waren.

 

Auf die Armee wollte sich Revolutionsführer Ayatollah Ruhollah Khomeini nicht verlassen. Sie galt ihm als Relikt der Kaiserzeit und musste erst durch politische Säuberungen auf Linie gebracht werden. Mit Beginn des Iran-Irak-Krieges 1980 wurde die Revolutionsgarde ausgebaut. Der hohe Blutzoll, den sie in den ersten Kriegsjahren zahlte, erklärt sich aus der Unerfahrenheit ihrer militärischen Führer. Sie betrachteten den Kampf weniger als Landesverteidigung, sondern als revolutionär-spirituelle Reinigung.

 

Seit dieser Zeit aber haftet ihr im Westen das Image einer Truppe von islamistischen Fanatikern an, wobei in der Berichterstattung häufig verdrängt wird, dass sie trotz allem eine reguläre staatliche Streitmacht ist, bei der man beispielsweise seinen Militärdienst ableistet, und keine schiitische Freiwilligenmiliz. Die Revolutionsgarde wurde bereits im ersten Kriegsjahr umgegliedert und unter Anleitung der Armee insgesamt zwölf Infanterie-, später auch mechanisierte Divisionen auf landsmannschaftlicher Basis gegründet. Die als »Sâro-llâh – Rache Gottes« bekannte 41. Mechanisierte Division der Revolutionsgarde bestand zum Beispiel aus Rekruten aus der Provinz Kerman, was den Zusammenhalt und die Frontbewährung förderte. Auch ein gewisser Qassem Soleimani gehörte dieser Truppe an.

 

Im Laufe des Krieges gegen den Irak setzte die militärische Professionalisierung der Revolutionsgarde ein. Diese beinhaltete die Einführung von Stabsschulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie die Ergänzung um eine Luft- (Kleinflugzeuge, Drohnen und später Raketen) und eine Seekomponente (Schnellbote). Die Revolutionsgarde erhielt einen eigenen militärischen Nachrichtendienst, der vom späteren Admiral und Verteidigungsminister und jetzigen Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats Ali Shamkhani aufgebaut und geleitet wurde.

 

Dieser Dienst versuchte alle nachrichtendienstlichen und staatspolizeiliche Funktionen (Innen, Außen, Politik und Militärisches) an sich zu reißen und lieferte sich ein dramatisches Kräftemessen mit dem neu gegründeten »Informationsministerium der Islamischen Republik Iran«, dem eigentlichen Geheimdienst der Islamischen Republik. Im Zuge der Neuordnung der Sicherheitskräfte in den Jahren 1990 bis 1992 wurde dieser Dienst als »Informations- und Abwehrorganisation der Revolutionsgarde« neu strukturiert.

 

Kurz nach ihrer Gründung hatten sich die Gardisten aber auch ein »Koordinationsbüro für Islamische Befreiungsbewegungen« eingerichtet, welches für Auslandsoperationen, darunter den »Export« der Islamischen Revolution, zuständig sein sollte. Diese hochideologisierte Einheit glich ihre mangelnde nachrichtendienstliche Expertise mit der Untergrunderfahrung ihrer Anführer aus der Zeit des Widerstands gegen den Schah sowie einem hohen Grad an Aggressivität und Gewalttätigkeit aus.

 

Das Büro wurde unter anderem von Mohammad Montazeri gegründet, einem Sohn des ehemaligen Stellvertreters Khomeinis, und dem mit ihm befreundeten damaligen Botschafter Irans im Libanon und späteren Innenminister, Seyyed Ali Akbar Mohtashamipur. Mitglieder des Büros waren in den 1980er-Jahren im Sudan aufseiten der islamistischen Regierung und in Afghanistan auf Seiten der Schiiten aktiv.

 

Vor allem aber unterstützte das Büro unter Federführung Mohtashamipurs eine Gruppe libanesischer und irakischer Schiiten beim Aufbau der libanesischen Hizbullah. In den 1980er-Jahren war das Büro in zahlreiche Terroranschläge in der Golfregion, im Libanon und in Afghanistan involviert.

 

Allerdings prägte es ein Eigenleben aus und war zudem in kriminelle Aktivitäten aller Art verwickelt – darunter die Iran-Contra- Affäre, die in Iran nach dem Namen des damaligen Bürochefs als »Mehdi- Hashemi-Affäre« bekannt geworden ist: Von 1985 bis 1987 hatten US-Geheimdienstler mit israelischer Unterstützung Waffen an Iran verkauft, um mit den Erlösen rechtsgerichtete Rebellen in Nicaragua zu finanzieren. Das Büro wurde gewaltsam aufgelöst, seiner bewaffneten Einheiten entblößt und als einfaches Koordinationsbüro ins Außenministerium transferiert.

 

Damit endet die Phase des unkontrollierten Revolutionsexports und iranischer Unterstützung für schiitische und andere Extremisten zunächst. Die militärischen und nachrichtendienstlichen Tätigkeiten des Büros wurden von anderen Diensten übernommen.

 

Der Großteil dürfte jedoch auf die Qods-Einheit übertragen worden sein, eine renommierte Teilstreitkraft der Revolutionsgarde, die während des Kriegs gegen den Irak für Gefechtsfeldaufklärung hinter den irakischen Linien zuständig gewesen war und dort Tuchfühlung mit radikalen, schiitischen Gruppen aufgenommen hatte, die sie zum Teil ideologisch, nachrichtendienstlich und militärisch ertüchtigte.

 

Aus dieser Zeit stammt auch die enge Zusammenarbeit mit der aus irakischen Kriegsgefangenen zusammengestellten Badr-Einheit der Revolutionsgarde. Der Auftrag der Qods-Einheit wurde 1989 von Revolutionsführer Ali Khamenei genauer formuliert: Die Qods-Einheit werde nur auf Einladung ins Ausland geschickt, um dort ideologisch verlässliche Zellen zu identifizieren und militärisch fortzubilden. Im Prinzip wurden dieselben Aufgaben, die Qods schon während des Krieges wahrnahm, den neuen Gegebenheiten im Nahen Osten angepasst. (Siehe zenith 04/2014, »Soleimanis Auftrag«)

 

Mit der Übernahme des Kommandos der Qods-Einheit 1998 durch Soleimani begann eine neue Ära. Soleimani vereinte alle Qualitäten eines Verteidigers der Islamischen Republik auf sich: Als Abkömmling eines Stammes der Volksgruppe der Luren, der im Iran-Irak-Krieg angeblich über 500 Kämpfer gestellt hatte, hatte es ihn in seiner Jugend nach Kerman gezogen, wo er sich der revolutionären Bewegung gegen den Schah anschloss.

 

Zu Beginn des Iran-Irak-Krieges 1980 stieß er zur Revolutionsgarde. Damals soll er mehrere Bataillone in Kerman ausgebildet haben, wobei im Dunkeln bleibt, wo er seine eigene militärische Ausbildung erhalten hatte. Er wusste unter anderem mit Stämmen umzugehen, was ihm auch in seiner Rolle in Syrien und Irak Jahre später zugutekam. Unter Soleimanis Führung der Qods-Einheit gelang es Teheran, die eigene nachrichtendienstliche und militärische Präsenz in der Region zu stärken und auszubauen.

 

Auf die Armee wollte sich Revolutionsführer Khomeini nicht verlassen. Sie galt ihm als Relikt der Kaiserzeit.

 

Für diesen Erfolg wurde Soleimani 2011 vom Revolutionsführer zum Generalmajor ernannt – damit unterstrich Khamenei auch die direkte Unterstellung der Qods unter seinen Befehl. Der breiten Öffentlichkeit in Iran und im Ausland wurde Soleimani aber erst nach dem Beginn des Arabischen Frühlings als Kämpfer etwa gegen den »Islamischen Staat«, mit Al-Qaida verbündete Gruppen und andere Aufständische in Irak und Syrien bekannt.

 

Irakische Milizionäre und Politiker, Kurden wie Schiiten, berichten übereinstimmend davon, dass Soleimani in recht kurzer Zeit iranische Waffenlieferungen und Ausbildung für den Abwehrkampf gegen den IS organisiert habe. Auch beim Aufbau der paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten im Irak ab 2014 wirkte er mit: Die überwiegend schiitischen Milizen, die zunächst den Kern des Verbandes bildeten, entstammten der Zeit der schiitischen Aufstände gegen Saddam Hussein oder der amerikanischen Besatzung. Sie unterhielten enge Beziehungen nach Iran, insbesondere zur Qods-Einheit.

 

Aus Sicht der Gegner des iranischen Engagements im Nahen Osten, insbesondere aber der Trump-Regierung in Washington, wurde Soleimani nicht nur das Gesicht, sondern auch der Dreh- und Angelpunkt iranischen Hegemonialstrebens in der Region. Als Begründung für den Anschlag auf Soleimani, bei dem auch der Stabschef der irakischen Volksmobilisierungseinheiten, Abu Mahdi al-Muhandis, getötet wurde, gaben die USA eine »unmittelbar drohende« Gefahr für amerikanische Diplomaten zu Protokoll.

 

Soleimani habe im Irak Anschläge gegen amerikanische Ziele planen wollen. Belege blieb das Weiße Haus schuldig und verstrickte sich in Widersprüche. Der irakische Premierminister Adil Abdul-Mahdi wiederum behauptete, Soleimani sei auf Einladung der irakischen Regierung in Bagdad gewesen, um die iranische Antwort auf einen saudischen Deeskalationsplan für die Region zu diskutieren.

 

Der Tod der beiden wichtigen schiitischen Akteure, Soleimani und Muhandis, berührt vor allem die Reform des Sicherheitssektors in Iran und Irak. Für den Irak werden die Verhandlungen über das Verhältnis der paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten zur Armee nun schwieriger werden. Muhandis, der auch ein enger persönlicher Freund Soleimanis war, genoss Achtung und Gehör fast aller schiitischen Gruppen, konnte sich aber auch Respekt bei Armee und Politik verschaffen.

 

Sein Nachfolger Hadi Al-Ameri von der Organisation Badr kann das nicht von sich behaupten. Er ist direkt in die Parteipolitik verwickelt und ist in den Augen der Protestbewegung, die seit Herbst 2019 im Irak auf die Straße geht, Teil der Elite, die für Korruption und Misswirtschaft verantwortlich ist.

 

Muhandis konnte auch verschiedene, als extremistisch einzuschätzende Milizenführer aus dem schiitischen Spektrum disziplinieren, die selbst große politische Ambitionen verfolgen und dabei auf eigene Rechnung die Unterstützung der Iraner suchen. Das Gespann Muhandis-Soleimani gewährte diesen Kräften zwar gewisse Freiräume und Unterstützung, hielt sie aber auch im Zaum.

 

Durch ihren Verlust verschärft sich das Hauptproblem des irakischen Sicherheitssektors: seine Vierteilung in eine schwache Armee, einer ausgezeichneten, von den USA ausgebildeten Antiterrordivision, kurdische Peschmerga-Milizen und die Volksmobilisierung. Im schlimmsten Fall ist nun mit einer direkten Konfrontation zwischen US- und iranisch-finanzierten Einheiten zu rechnen, wofür die Rhetorik der Trump-Regierung spricht, welche die Volksmobilisierungseinheiten gern in cumulo unter Terrorismusverdacht stellt.

 

Die Revolutionsgarde ist eine reguläre staatliche Streitmacht und keine schiitische Freiwilligenmiliz.

 

Sowohl für Iran als auch für Irak gilt, dass die Bevölkerung beider Staaten sich einen verantwortungsvollen und transparenten Staatsapparat wünscht. Hierzu bedarf es in beiden Fällen aus verschiedenen Gründen einer Reform des Sicherheitssektors, die durch den Tod von Muhandis und Soleimani eher noch unwahrscheinlicher wird.

 

Soleimanis Tod rief in Iran tatsächlich große Bestürzung hervor und brachte Zehntausende auf die Straßen. Soleimani fand über die Grenzen der radikalen Schiiten hinaus in weiten Teilen der iranischen Gesellschaft Anerkennung. So war er bei Weitem nicht die finstere Person, als die er im Westen gezeichnet wurde und auf die sich die radikalsten Elemente des iranischen politischen Systems zu berufen wünschten. Bei mehreren Gelegenheiten verteidigte Soleimani sogar den als reformerisch geltenden Außenminister Javad Zarif gegen unqualifizierte Angriffe von rechts.

 

Dazu kam, dass er offensichtlich selbst davon überzeugt war, die Ausrichtung Irans in der Region diene objektiven Interessen des Landes, vor allem dem Kampf gegen den IS und andere dschihadistische, schiitenfeindliche Gruppierungen. Dieses Argument wurde auch von säkularen Iranern weitgehend akzeptiert. Die Logik: Den IS außerhalb Irans bekämpfen, anstatt sich mit ihm im Lande selbst herumschlagen zu müssen. Für den Kampf gegen den IS wurde er 2019 mit dem höchsten militärischen Orden der Islamischen Republik ausgezeichnet.

 

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das Regime sich seiner (oder seines Todes) zum Zwecke der Legitimation bediente. Doch der Versuch, seinen Tod für eine Propagandashow zu nutzen, scheiterte. Besonders peinlich für jene radikalen Kreise, die ihn zum Helden des Antiamerikanismus und Antizionismus hochstilisierten: Iranische Passanten weigerten sich zum Teil, auf die an prominenten Stellen ausgelegten amerikanischen und israelischen Flaggen zu trampeln. Selbst Moscheebesucher verweigerten ein derartig anachronistisches und eher peinliches Schauspiel.

 

Damit setzten iranische Bürger ein Zeichen, das seit Jahrzehnten von den Machthabern überhört wird: Die Bevölkerung ist durchaus bereit, jenen Staatsdienern Respekt zu zollen, die, wie Soleimani, ihrer Ansicht nach ihren Interessen dienen, lässt sich aber nicht durch billige Feindbilder einlullen oder emotional hochpeitschen.

 

Damit hinterlässt Soleimani seinem Nachfolger Ismael Qaani als Chef der Qods-Einheit eine Hypothek: Zwar lassen sich Soleimanis nachrichtendienstliche und militärische Fähigkeiten leicht ersetzen, doch mit Rückhalt in der Bevölkerung, den Soleimani ja vor allem wegen des Kampfes gegen den IS erhielt, kann Qaani nicht ohne Weiteres rechnen.

 

Die Revolutionsgarde steckt heute in einer größeren Legitimationskrise, die sich seit Jahren abgezeichnet hat. Abgesehen von der Glorifizierung des »Märtyrers« Soleimani haben die Gardisten zuletzt einiges unternommen, um ihr Image in der Öffentlichkeit aufzupolieren – etwa als Macher und Helfer während der Flutkatastrophe 2019 in den nicht persischen, sunnitischen und besonders schlecht entwickelten Wüstengebieten Sistans und Belutschistans.

 

Allerdings scheint ihnen das kaum zu gelingen. Eine Streitmacht, die ihre Existenz der schiitisch-revolutionären Natur des Staates verdankt, der sunnitische Muslime diskriminiert, indem er ihnen beispielsweise die Offizierslaufbahn verwehrt, kann bei dieser Bevölkerung wenig punkten.

 

Diese derzeitige Misere könnte sich noch verschärfen: In der Regel ist die Islamische Republik Iran im Umgang mit Demonstrationen sehr erfahren. Nicht nur Gewalt, sondern exakte soziologische Analysen und ein Netzwerk überlappender Nachrichten- und Aufklärungsdienste sorgten bisher dafür, dass sich in Iran bislang keine landesweit organisierte Protestbewegung etablieren konnte.

 

Heikler ist es, wenn sich Forderungen seitens ethnischer Minderheiten mit den Zielen einer landesweiten sozialen Protestbewegung überschneiden. Doch auch in diesen Fällen konnte das Regime sich bisher in Sicherheit wiegen und die Proteste als »Stresstest« für den Sicherheitsapparat und die politische Führung betrachten.

 

Der auf Fehlbedienung zurückzuführende Abschuss des ukrainischen Fluges PS752 ist nun allerdings Beleg für eine gesamtstaatliche Systemkrise. Diese Krise betrifft die politische und die professionelle Ebene, die Generalität der Revolutionsgarde ist dabei auf beiden Ebenen für das Unglück verantwortlich.

 

Zunächst zur professionellen Ebene: Das komplizierte System der iranischen Luftabwehr wird von einem eigenen Kommando (»Châtamo l-Anbiyâ«, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Wirtschaftseinheit der Revolutionsgarde) koordiniert. Unter seinem Dach koexistieren – sprich konkurrieren – jedoch die »Luftraumkräfte« (»niruhâ-ye havâfażâyi«) der Revolutionsgarde mit der »Luftabwehr der Armee« (»niru-ye padâfand-e havâyi-e Arteş«).

 

Die Revolutionsgarde bestand darauf, im Rahmen der Luftraumkräfte neben den prestigeträchtigen ballistischen Raketen auch eine eigene Luftabwehr zu betreiben, obwohl dies militärisch im Grunde nicht zu rechtfertigen war. Vor allem dann nicht, wenn man in Betracht zieht, dass die Flugabwehr der Luftwaffe im Jahre 2008 auf Befehl des Revolutionsführers zur eigenen selbstständigen Teilstreitkraft (»niru«) der Armee erhoben wurde. Als solche verfügt sie über die notwendigen Ausbildungs- und Übungseinrichtungen, genügend institutionelle Erfahrung und vor allem ausreichend qualifizierte Infrastruktur für die Luftabwehr.

 

Die Luftraumkräfte der Revolutionsgarde konzentrierten sich hingegen vor allem auf die strategische Raketenwaffe und scheinen nicht in gleichem Maß für die Luftabwehr qualifiziert.

 

Davon abgesehen tragen Mitglieder aus den Reihen der militärischen Führung der Revolutionsgarde eine Mitschuld an dem Unglück: Etwa der Generalsekretär des Hohen Nationalen Sicherheitsrates, Admiral Ali Shamkhani, der den Luftraum für Passagierflugzeuge nicht rechtzeitig sperren ließ, obwohl durch den iranischen Raketenbeschuss auf eine US-Basis in derselben Nacht mit einem erhöhten Risiko zu rechnen war.
Auch General Amir-Ali Hajizadeh ist mitverantwortlich. Der Kommandant der Luftraumkräfte der Revolutionsgarde hat nach tagelanger Verzögerung nie wirklich die Verantwortung für das Unglück übernommen. Er sprach lediglich davon, dass er lieber »gestorben wäre« als Zeuge dieses Unglücks zu werden, was aber als rhetorische Floskel abgetan werden kann. Zum Rücktritt sah sich Hajizadeh jedenfalls nicht veranlasst.

 

Damit verdeutlicht sich ein Kernproblem der Islamischen Republik: die Straffreiheit und Allmacht der Generalität der Revolutionsgarde. Auch die Unmutsbekundungen und Rücktrittsdrohungen Präsident Hassan Ruhanis offenbarte, wie schwer es ist, die Generalität der Revolutionsgarde zur Verantwortung zu ziehen. Erst auf Druck Ruhanis und nach heftigen internen Auseinandersetzungen wurde der angeblich Verantwortliche, ein Offizier mittleren Ranges, der den Abschuss getätigt hatte, ins Gefängnis gesteckt. Ein Bauernopfer.

 

Es ist unwahrscheinlich, dass die Hierarchie der Revolutionsgarde, die sich noch immer als Elite der Islamischen Revolution betrachtet, tatsächlich begriffen hat, wie tief ihr Ansehensverlust wirklich ist.

Von: 
Walter Posch

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