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Kampf gegen häusliche Gewalt in Jordanien

Ehrefrauen

Reportage
Frauenhäuser in Jordanien
Foto: Rajiv Raman

Sie haben für Frauenhäuser und gegen Täterschutz gekämpft. Und dafür gesorgt, dass bedrohte Frauen nicht mehr ins Gefängnis kommen. Dass ihre Erfolge in der westlichen Berichterstattung untergehen, liegt auch an einer grandiosen Lügengeschichte.

Im Oberschenkel steckt der kräftigste Knochen des menschlichen Körpers. Ihn zu brechen bedarf absurd viel Gewalt. Bestialischer Gewalt, der Dania* ausgesetzt war. Zerstörte Beine, gequälte Seele. Die Haut der Jordanierin wirkt dünn, erinnert an recyceltes Papier und ist ebenso fahl. Der weite Hidschab lässt ihren Kopf groß und schwer erscheinen, wie die Erinnerungen, die in ihm Platz finden. »Ich musste erst lernen, mich für das, was passiert ist, nicht zu schämen«, sagt sie schließlich und blickt in den Raum, in dem sie genau das gelernt hat.

 

Dania ist 39 Jahre alt und wurde von ihren Brüdern misshandelt, musste um ihr Leben fürchten. Für das Gespräch ist sie in das Dar Al-Wefaq zurückgekommen, das 2007 eröffnete. Es ist das erste und älteste Frauenhaus Jordaniens – irgendwo im Osten der Hauptstadt Amman. Wo es genau steht, darüber darf nicht geschrieben werden. Auch Journalisten bekommen hier eigentlich keinen Zutritt.

 

In wochenlanger Arbeit helfen Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen und Therapeutinnen eine sichere Rückkehr zu ermöglichen.

 

Denn das Dar Al-Wefaq ist für viele Jordanierinnen der letzte Zufluchtsort vor der Gewalt einer von Männern dominierten Gesellschaft, die das Ideal der reinen, durch ihr züchtiges Verhalten die Familienehre bewahrenden Frau zwar auf Händen trägt, deren Rechte sie aber oft genug mit Füßen tritt. Viele Jordanierinnen fliehen vor Gewalt innerhalb der eigenen Familie ins Al-Wefaq – in wochenlanger Arbeit helfen ihnen Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen und Therapeutinnen dann dabei, eine sichere Rückkehr zu ermöglichen. Wenn es gar nicht anders geht, unterstützen sie sie bei einem Neuanfang außerhalb des eigenen Hauses.

 

Im vergangenen Jahr haben hier nach Angaben der Heimleitung mehr als 450 Frauen Unterschlupf gefunden, im Schnitt bleiben sie zwei bis vier Wochen in dem dreistöckigen Bau, der sich mit seinen vergitterten Fenstern und der unverputzten Fassade hinter eine stacheldrahtbewehrte Mauer duckt. Sicherheitsstufe 3 von 6. Die Frauen, die hier leben, waren häuslicher Gewalt ausgesetzt. Seit Eröffnung des Dar Al-Wefaq vor über einem Jahrzehnt haben hier rund 5.000 Jordanierinnen eine Atempause einlegen dürfen, die Zahl der Fälle pro Jahr ist dabei relativ konstant. Die Angestellten im Haus sind stolz auf das Projekt, führen den Besuch in die Krankenstation, den Computerraum, das Fitnessstudio, den Friseursalon.

 

Wie in vielen Teilen der Welt ist häusliche Gewalt auch in Jordanien ein akutes Problem. Doch wie groß genau? In den vergangenen Jahren wurde das Land diesbezüglich immer wieder an den medialen Pranger gestellt. Insbesondere die sogenannten Ehrenmorde, in mancherlei Hinsicht die maximale Eskalation häuslicher Gewalt, sind ein wiederkehrendes Thema in europäischen Medien – und auffällig oft geht es dann um Jordanien.

 

Frauenhäuser in Jordanien
Im Archiv des Dar Al-Wefaq sind über die Jahre tausende Fall-Akten zusammengekommen.Foto: Rajiv Raman

 

»Der Fokus liegt auf uns, weil wir darüber reden, wir beschönigen nichts. Es gibt das Problem und wir kümmern uns darum.« Rana Husseini schlägt mit der Handkante auf den Tisch, dass die Tassen klirren. Die Journalistin arbeitet für die englischsprachige Jordan Times und schreibt seit Jahrzehnten über Gewalt gegen Frauen. Ihre Haltung ist so resolut wie ihre Worte und ihr Handschlag. Wenn sie lacht, dann dröhnend. Wenn sie widerspricht, dann bestimmt.

 

Und doch, auch Husseini kann die Fassung verlieren. Etwa als die Nachrichtenagentur Reuters 2017 schrieb, Jordanien habe die weltweit höchste Zahl an Ehrenmorden, ohne die Behauptung mit einer Quelle zu belegen. Feststeht: Statistiken zu sogenannten Ehrenmorden sind mit Vorsicht zu genießen. 5.000 solcher Fälle gäbe es weltweit, so steht es in einem Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA), der vor knapp 20 Jahren erschien. Wie die Zahl zustande kommt, steht dort nicht, und doch wird sie bis heute kolportiert. Unstrittig ist zumindest, dass das Phänomen auftritt, nicht nur in Jordanien oder anderen arabischen Ländern. Lateinamerika, Afrika und Europa. Frauen, da ist sich die Forschung einig, sind nirgendwo sicher.

 

Der UN-Bericht aus dem Jahr 2000 behauptet, dass es in Jordanien pro Jahr rund 25 solcher Fälle gibt. Die NGO »Sisterhood is Global Institute« spricht von 28 Jordanierinnen, die 2016 Opfer sogenannter Ehrenmorde wurden, 2017 habe es 17 solcher Morde gegeben. Human Rights Watch bleibt vage und schätzt die Zahl auf 15 bis 20 Fälle pro Jahr. Problematisch ist außerdem, dass manche Morde ökonomische Motive haben, etwa wenn es um das Erbe zwischen Geschwistern geht, sie auf den ersten Blick aber doch wie ein sogenannter Ehrenmord wirken.

 

Ein regionaler Vergleich der Fallzahlen ist schwierig, gibt es doch kaum belastbare Statistiken für die Länder in Jordaniens Nachbarschaft – Schätzungen und kursorische Untersuchungen durch NGOs deuten darauf hin, dass Jordanien bezogen auf die Bevölkerungszahl kein statistischer Ausreißer bei der Zahl der sogenannten Ehrenmorde ist. Dass nirgendwo mehr Frauen Opfer solcher Verbrechen werden als in Jordanien, gibt keine der Quellen her. Woher kommt er also, der schlechte Ruf des Haschemitischen Königreichs?

 

Eine Antwort auf die Frage lautet: Ein sehr erfolgreiches Buch, das die Autorin Norma Khouri 2003 unter dem Titel »Honor Lost« an den großen US-amerikanischen Verlag Random House verkaufte. Darin erzählt sie von Dalia, die, so die Autorin, eine von ihrem Mann im Namen der Ehre ermordete Kindheitsfreundin sei. »Honor Lost« wird zum Bestseller, 300.000 Exemplare setzt der Verlag in 15 Ländern ab. In Deutschland erscheint es bei Rowohlt unter dem Titel »Du fehlst mir, meine Schwester«. In Australien wird es von begeisterten Lesern in die Liste der 100 besten Bücher aller Zeiten gewählt.

 

Frauenhäuser in Jordanien
Die Journalistin Rana Husseini arbeitet für die Jordan Times und setzt sich seit Jahrzehnten gegen Frauen gerichtete Gewalt ein.Foto: Florian Guckelsberger

 

»Norma ist eine Betrügerin!« Rana Husseini, die Journalistin der Jordan Times, lacht auf. Gemeinsam mit zwei anderen Frauenrechtlerinnen nimmt sie das Buch nach seiner Veröffentlichung auseinander und schickt am Ende eine lange Liste mit Fehlern und Falschbehauptungen an den Verlag. Der Jordan fließe durch die Hauptstadt Amman und Jordanien teile sich eine Grenze mit Kuwait – einige von Norma Khouris Behauptungen sind offensichtlich Unsinn. Um andere Behauptungen zu entkräften, genügt Rana Husseini ein Anruf. Als die Kritik zu laut wird, ruft Random House das Buch aus dem Handel zurück, der Rowohlt-Verlag zieht nach.

 

Denn am Ende ist klar: Nicht einmal der Name der Autorin stimmt, in Jordanien hat sie nie lange gelebt, in den USA wurde sie zwischenzeitlich vom FBI gesucht. Und doch bleiben Sätze wie dieser auf Seite 197 ihres Buches haften: »Jede Woche wird eine jordanische Frau ermordet, weil sie ihre Unschuld verloren hat.« Und natürlich taucht auch die bereits erwähnte UN-Statistik auf, sodass Khouri am Ende behauptet, pro Jahr würden mehr als 2.500 Frauen in Palästina und Jordanien im Namen der Ehre getötet.

 

Husseini glaubt, dass Khouri der Sache einen Bärendienst erwiesen hat, denn dass sogenannte Ehrenmorde auch in Jordanien ein Problem sind, weiß kaum jemand besser als sie. Bereits Anfang der 1990er-Jahre berichtet sie über diese Verbrechen, damals ein Tabu in der bis heute männlich dominierten Gesellschaft des Königreichs. Zu Beginn wollte kaum jemand hören und lesen, womit sie sich beschäftigte. Es hieß oft, in Familienangelegenheiten mische man sich nun mal nicht ein. »Inzwischen gehen die Zahlen zurück, es kommt zu zehn bis 15 Ermordungen im Jahr«, sagt Husseini. Ihre Arbeit als Journalistin hat dabei geholfen, dass Schweigen zu brechen – immer wieder berichtete sie über sogenannte Ehrenmorde.

 

Gemeinsam mit anderen Aktivisten hat sie außerdem Proteste organisiert und bei der jordanischen Regierung und dem Parlament dafür geworben, Gesetze zu ändern und zumindest in Teilen der Bevölkerung ein Bewusstsein für diese Verbrechen zu schaffen. »Natürlich wünsche ich mir, dass keine Frau mehr getötet wird. Aber wenn es doch passiert, können wir inzwischen immerhin dafür sorgen, dass diese Verbrechen untersucht und die Täter bestraft werden«, zeigt sie sich optimistisch. In vielen anderen Ländern sei man nicht soweit – und auch in Jordanien kamen Täter lange mit geringen Strafen davon. Schuld daran trugen vor allem das Strafgesetzbuch und tradierte Auffassungen von der Rolle von Frau und Mann.

 

Der Begriff des Ehrenmords ist ein soziologischer, kein juristischer. Er beschreibt einen Mord, dessen Motiv auf einer als schamhaft empfundenen Handlung der Frau beruht. Unkeusches Verhalten, verlorene Jungfräulichkeit, ein unbedachter Blick zu einem Mann oder eine außereheliche Affäre: Was genau die Ehre der Familie beschmutzt, liegt im Auge des zumeist männlichen Betrachters. Genau wie die für angemessen gehaltene Strafe – die Ermordung einer direkten Angehörigen ist dabei nicht der Normalfall, sondern die absolute Ausnahme.

 

Ehre ist ein Status und ein schwer greifbarer Komplex aus sozialen Codes für Frauen und patriarchale Familienstrukturen. Folgt man einer extremen Auffassung, reinigt Blut die vermeintlich beschmutzte Ehre der Familie. Zu welch dramatischen Situationen das führen kann, beschreibt Rana Husseini in ihrem Buch »Murder in the Name of Honour«, das vor zehn Jahren erstmals erschien. Darin berichtet sie unter anderem von einem jungen Mann, dessen Familie vom gesamten Viertel gemieden wird, nachdem das Gerücht die Runde macht, seine Schwester habe eine Affäre. Gespräche verstummen, Leute spucken vor seine Füße: Am Ende ermordet er seine Schwester in der Hoffnung, wieder gesellschaftlich integriert zu werden.

 

Neben sozialem Druck kommt hinzu, dass in Jordanien bis 2016 die Strafen für derart begründete Morde teilweise extrem gering ausfielen. Richter orientierten sich dazu eher am unteren Ende des Strafrahmens und akzeptierten darüber hinaus auch strafmildernde Gründe, etwa wenn Männer behaupteten, blind vor Wut auf die vermeintliche Ehebrecherin gewesen zu sein. So verließen manche Täter das Gefängnis bereits nach wenigen Monaten, und im Gefängnis, so berichten Frauenrechtlerinnen, wurden sie von Mitgefangenen teilweise bevorzugt behandelt.

 

Dass sich das geändert hat, liegt auch an einer besonders blutigen Woche im Oktober 2016, als gleich fünf Frauen ermordet wurden. Das jordanische Iftaa-Department erließ daraufhin eine Fatwa, die sich explizit gegen sogenannte Ehrenmorde aussprach – und noch einmal darauf hinwies, dass weder der Koran noch die Scharia solche Verbrechen legitimieren.

 

Kurz darauf sah sich auch das Parlament zum Handeln gezwungen. Paragrafen, die Mördern in bestimmten Fällen mildernde Umstände zusprachen, wurden modifiziert oder gleich abgeschafft. Darunter die Artikel 340 (Ehebruch), 98 (Affekthandlung), und 99 (Milde für den Täter auf Bitte der Opferfamilie). »Die Justiz behandelt die Verbrechen endlich als das, was sie sind: als gewöhnlichen Mord«, fasst Rana Husseini die Entwicklung zusammen: »Die Strafen liegen zwischen siebeneinhalb Jahren bis lebenslang oder sogar der Todesstrafe.«

 

Noch 2014 waren 75 Jordanierinnen im Hochsicherheitsgefängnis Juweidah untergebracht, weil dem jordanischen Staat zu ihrem Schutz schlicht keine bessere Lösung einfiel.

 

Als nahezu abgeschafft gilt auch das Konzept der »Administrative Detention«, das sich am ehesten als Sicherungsverwahrung übersetzen lässt. Laut der NGO »Penal Reform International« waren noch 2014 75 Jordanierinnen im Hochsicherheitsgefängnis Juweidah untergebracht, weil dem jordanischen Staat zu ihrem Schutz schlicht keine bessere Lösung einfiel. Husseini erinnert sich an ein Gespräch, dass sie vor einigen Jahren mit einem ungenannten Minister dazu führte: »Er hatte sich beschwert, dass die Familien der Frauen mit Maschinengewehren zu seinem Ministerium kämen, um sie zu finden. Aber als Politiker kann man sich doch nicht von einer Schlägertruppe einschüchtern lassen, wir leben doch nicht im Mittelalter!«

 

Eva Abu Halaweh würde ihr wohl zustimmen. Die Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivistin hat mitgeholfen, die Schutzhaft in Jordanien zu einem Auslaufmodell zu machen. »Nach meinem ersten Besuch im Gefängnis Juweidah konnte ich nicht schlafen. Ich fing an, mir und allen anderen Menschenrechtsorganisationen Vorwürfe zu machen. Wir kämpfen gegen die laschen Bestrafungen, aber arbeiten nicht mit den Überlebenden, den Frauen im Gefängnis?«

 

Die 44-Jährige ist Vorsitzende und Mitgründerin von Mizan, einer Organisation, die sich unter anderem für die Rechte von Mädchen und Frauen in Jordanien einsetzt. Halaweh gehört zu den wenigen, die regelmäßig ins Gefängnis Juweidah gingen, um mit den Frauen zu sprechen und sich für ihre Freiheit einzusetzen. Nach eigenen Angaben gelang es ihr im letzten Jahrzehnt so, die Freilassung von 100 Frauen aus der Schutzhaft zu erwirken.

 

Frauenhäuser in Jordanien
Die Aktivistin Eva Abu Halaweh hat dabei geholfen, dass mit dem Tod bedrohte Frauen in Jordanien nicht mehr in Gefängnissen weggesperrt werden.
Foto: Lisa Neal

 

Gleichzeitig setzte sie sich dafür ein, dass die Regierung weitere Frauenhäuser wie das Al-Wefaq aufbaut. Im vergangenen Sommer war es schließlich so weit: An einem ebenfalls geheimen Ort eröffnete ein neues Frauenhaus. Sicherheitsstufe 6 von 6, Platz für 50 Frauen. Fast alle ursprünglich in Juweidah inhaftierten Frauen leben nun dort. Mizan will den bedrohten Frauen helfen, sich ein neues Leben außerhalb ihrer Familien aufzubauen. Halaweh steht ihnen dabei auch juristisch zur Seite und leistet Aufklärungsarbeit. »2013 haben wir das erste Mal vor Gericht für ein Opfer häuslicher Gewalt ein Schmerzensgeld zugesprochen bekommen«, berichtet sie stolz von einem weiteren Meilenstein.

 

Dass die Arbeit von Frauen wie Halaweh oder Husseini einen Unterschied macht, zeigen Fälle wie der von Dania. Sieben Operationen später sind ihre Beine geheilt und haben sie nach ihrem Aufenthalt im Frauenhaus in ein neues Leben getragen. Ein Einkommen, eine Wohnung, eigene Entscheidungen. »Ich bin im Dar Al-Wefaq zu einer starken Frau geworden«, sagt sie. Heute kämpft sie für einen geregelten Alltag und gegen ihre Angst vor einem Leben in Einsamkeit, weit weg von ihrer Familie.

Von: 
Lisa Neal und Florian Guckelsberger

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