Lesezeit: 6 Minuten
Israels Sicht

Der Krieg am Horizont

Analyse
.

Für iranische Israelis wäre ein Krieg gegen Iran ein Albtraum. Es gibt genug Gründe, die Eskalationsgefahr ernst zu nehmen. Der entscheidende Faktor ist Teherans Vasall an Israels Nordgrenze.

Ein Atomdeal mit Iran? Israel stemmte sich heftig gegen die diplomatische Aufwertung, die im November 2015 im P5+1-Abkommen mündete. Trotz der weltweiten Euphorie waren die Spannungen zwischen Teheran und Tel Aviv auf dem Siedepunkt. Doch die Generäle und Geheimdienstler hielten die Regierung von Premier Benjamin Netanyahu im Zaum. Und auch viele ehemalige Führungsfiguren aus Armee und Sicherheitsdiensten gewannen dem umstrittenen Abkommen einen geostrategischen Nutzen für Israel ab. Dennoch stehen zwei Jahre später die Zeichen wieder auf Konfrontation – droht gar ein Krieg?

Während 2015 sowohl ein großer Teil der Armeeund Geheimdienstführung als auch Alt-Präsident Schimon Peres der Regierung die Stirn boten, erscheint der Widerstand gegen einen möglichen Präventivschlag viel geringer und könnte nicht nur die iranischen Atomanlagen, sondern eine ganze Operation nach sich ziehen, die Irans militärische und industrielle Infrastruktur ins Visier nimmt – und zwar vom Boden und aus der Luft.

Der Grund für die erhöhte Risikobereitschaft liegt direkt vor der eigenen Haustür: Denn ein Kriegszug gegen Iran könnte die direkte Folge der nächsten militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hizbullah sein. Ein entscheidender Schlag gegen die Schiiten-Miliz war Israel während des »Sommerkriegs« 2006 nicht gelungen. Und obwohl die Hizbullah mit ihren Kämpfern seit mehreren Jahren vor allem in Syrien gebunden ist, konnte sie ihr Arsenal stetig aufstocken. Israelische Armeekreise schätzen, dass die Schiiten-Miliz inzwischen über 120.000 Raketen verfügt – 17-mal mehr als 2006. Die finanzielle und technische Unterstützung, die diese Aufrüstung möglich machte, kommt aus Teheran.

Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah macht aus der Waffenhilfe keinen Hehl. In einer seiner öffentlichen Reden im Juni 2016 gab er unumwunden zu, dass »Hizbullahs Budget, alles, was wir essen und trinken, und unsere Waffen von der Islamischen Republik Iran« bezahlt wird. Das ist keine besonders spektakuläre Enthüllung. Immerhin hatte die Hizbullah auch im Vorfeld des »Sommerkriegs« 2006 Waffenhilfe und Geldspritzen aus Teheran erhalten, ohne dass ein israelischer Vergeltungsschlag gegen die Schutzmacht erfolgt wäre. Was ist also diesmal anders?

2006 feuerte die Hizbullah während des 34-tägigen Kriegs etwa 4.000 Raketen Richtung Israel. Inzwischen könnte die Schiiten-Miliz die 25-fache Anzahl an Geschützen zum Einsatz bringen, wenn nicht gar mehr. Würde die Hizbullah 100.000 Raketen zünden, könnte Israel wahrscheinlich die Hälfte abfangen. Das hieße aber auch, dass 50.000 Geschütze in israelischen Städten landen würden. Die daraus resultierenden zivilen Opferzahlen sowie der materielle Schaden wären ungleich höher als 2006. »Untragbar« nannte Giora Eiland, der ehemalige Generalmajor der israelischen Streitkräfte, bereits Ende 2015 solch ein Szenario, das insbesondere Tel Aviv und das umliegende industrielle Herzland verheerend treffen würde.


Hizbollah
Die Hizbullah hatte auch im Vorfeld des »Sommerkriegs« 2006 Waffenhilfe und Geldspritzen aus Teheran erhalten. Was ist also diesmal anders? Wikimedia Commons

Ich denke zwar nicht, dass ein israelisch-iranischer Krieg zeitgleich mit der nächsten militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der Hizbullah ausbrechen wird. Eine in Israels Geschichte beispiellose Dimension von zivilen Opferzahlen und materieller Zerstörung würde aber alles durcheinanderwerfen. Selbst eine Regierung, die deutlich links von Netanyahu steht, würde sich gezwungen sehen, nicht bloß Vergeltungsschläge gegen Libanons Infrastruktur zu fliegen – schließlich konnte Iran bislang gut damit leben, aus sicherer Distanz zu steuern und Libanesen und Palästinenser an die Front zu schicken. Oder wie es der frühere IDF-General Ephraim Sneh auf der jährlichen Herzliya-Konferenz im Juni 2017 formulierte: »Iran schert sich einen Dreck um Libanons Infrastruktur.« Eine wichtige Rolle für das sichtbar gestiegene Bedrohungsgefühl spielt auch der mögliche Einsatz von chemischen Waffen beziehungsweise gezielten Angriffen auf chemische Industrieanlagen. Im Februar 2016 drohte Nasrallah in einer Rede, dass im Falle des Kriegsausbruchs »ein paar Geschütze auf ein paar Ammoniak-Werke ebenso tödlich wie eine Atombombe« seien. Der Hizbullah-Generalsekretär bezog sich auf die Ammoniak-Fabriken in Haifa, die Dünger für die Landwirtschaft herstellen. Ein Jahr später drohte Nasrallah mit Raketenangriffen auf den israelischen Nuklearrektor in Dimona.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum dieselben Verantwortlichen in Israels Militär und Sicherheitsapparat, die einst einen Angriff auf iranische Atomanlagen ablehnten, nun Vergeltungsschläge im Fall eines Israel-Hizbullah-Krieges befürworten könnten. Denn im Gegensatz zur Atomfrage gibt es keinen Verhandlungsmechanismus mit Iran, der die Krise auf diplomatischem Wege entschärfen könnte. Die Führungsriege des israelischen Sicherheitsapparates hatte nach dem Nukleardeal einen Angriff verworfen, weil die P5+1-Gespräche eine handfeste Alternative geboten hatten. Hinzu kommt die strategische Tiefe der Bedrohung an mehr als nur der libanesischen Nordgrenze: Über seine Vasallen hat das iranische Regime inzwischen an die 20.000 Kämpfer in schiitischen Milizen in Syrien stationiert.

Um es ganz klar zu sagen: Keiner der Kontrahenten will diesen Krieg – weder Israel noch die Hizbullah. Im Zuge des Waffengangs 2006 kamen 1.200 Libanesen, zumeist Zivilisten, sowie 160 Israelis, die meisten davon Soldaten, ums Leben. Eine Million Menschen flohen im Libanon vor den Kämpfen, in Israel wurden 500.000 Menschen evakuiert. Selbst Nasrallah hat mehrfach verlautbaren lassen, dass er keinen großen Krieg vom Zaun brechen will, Gleiches gilt für Israel – für beide Seiten wären die Folgen verheerend. Und doch ist die jüngere Geschichte des Nahen Ostens gesäumt von ungewollten Kriegen, oft ausgelöst durch unerwartete Ereignisse oder begrenzte Zusammenstöße, deren Eskalationsdynamik dann kaum noch aufzuhalten war. Nach mehreren kriegerischen Auseinandersetzungen hatten weder Israel noch die Hamas 2014 einen weiteren Waffengang vorausgesehen oder angestrebt. Der Sechstagekrieg, der sich in diesem Jahr zum 50. Mal jährt, beruhte weniger auf israelischer oder ägyptischer Angriffslust, vielmehr ließen sich beide Seiten durch sowjetische Desinformation in den Krieg treiben. Und auch 2006 stolperten Israel und die Hizbullah eher in den »Sommerkrieg«, als dass sie ihn sorgfältig durchkalkulierten. Warum sollte die momentane Krise aus diesem Muster ausbrechen?

Für iranische Israelis wie mich wäre ein Krieg zwischen Iran und Israel ein Albtraumszenario – und so denkt der überwiegende Teil unserer Gemeinschaft von über 130.000 Israelis iranischer Herkunft. Wir nutzen jede Gelegenheit, um die Beziehungen zwischen den Menschen in beiden Ländern zu verbessern. Und wir wollen Frieden zwischen Israel und Iran. Wenn die Hizbullah aber Geschütze regnen lassen sollte, die tausende Israelis töten, bleibt uns wenig argumentativer Spielraum – zumal die Raketen uns genauso treffen würden. Es ist ein düsteres, aber nicht undenkbares Szenario, das ich hier aufgezeigt habe. Ich hoffe, dass ich Unrecht behalten werde. Das Letzte, was die Menschen in Israel, Iran und im Libanon gebrauchen können, ist noch ein vernichtender Krieg.


Meir Javedanfar wurde in Teheran geboren und emigrierte 1987 nach Israel. Er ist Dozent am Interdisciplinary Center (IDC) in Herzliya und betreibt den Blog The Iran-Israel Observer.

 

Von: 
Meir Javedanfar

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.