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Interview zu Verhandlungen mit der Hamas und einem Neustart des Friedensprozesse

»Deutschland muss den Staat Palästina anerkennen«

Interview
Interview zu Verhandlungen mit der Hamas und einem Neustart des Friedensprozesses
Gershon Baskin (l.) und Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) privat

Über Jahre verhandelte Gershon Baskin mit Hamas-Funktionären. Doch für den britisch-israelischen Friedensaktivisten ist klar: Mit dem Massaker vom 7. Oktober hat sie ihre Existenzberechtigung verloren. Ein Gespräch über einen Weg zum Frieden und was dafür notwendig ist.

zenith: Herr Baskin, Sie verhandelten mehr als ein Jahrzehnt lang mit Hamas-Vertretern, etwa über die Freilassung des 2005 entführten Soldaten Gilad Shalit. Nach Jahren festgefahrener Verhandlungen stimmte Israel 2011 einem Deal zu. Unter den für Shalit freigelassenen 1.027 Gefangenen befanden sich Kämpfer, die zusammengenommen fast 600 Israelis getötet hatten. Wie werden Menschenleben bei einem solchen Gefangenenaustausch gewichtet?

Gershon Baskin: Wir haben keine Menschenleben gewichtet. Die Bedingungen des Austauschs hatten die Ägypter bereits sechs Monate nach Shalits Entführung festgelegt und die lauteten: 1.000 Palästinenser für einen Israeli. Premierminister Ehud Olmert lehnte ab. Doch nach fünf Jahren wurde der Druck innerhalb der israelischen Gesellschaft immer größer. Shalit stammte aus einer Familie mit gesellschaftlichem Kapital, oder um es zynisch auszudrücken: Es war eine weiße, aschkenasische jüdische Familie, die es verstand, die Straße zu mobilisieren. Im Jahr 2011 forderte Tausende auf den Straßen soziale Reformen und soziale Gerechtigkeit – und der Fall Shalit wurde eines von vielen Anliegen. Letztendlich war es der politische Druck, der Netanyahu dazu brachte, zu verhandeln und dem Deal zuzustimmen.

 

Sie haben also nicht immer wieder neu verhandelt, andere Optionen vorgeschlagen und den Handlungsspielraum beider Parteien austariert?

Nein. Die Anzahl der palästinensischen Gefangenen für einen Austausch-Deal stand seit 2006 fest. Meine Aufgabe war es, die Sicherheitsrisiken zu minimieren.

 

Sie haben kürzlich in einem Artikel erklärt, dass Sie es leid sind zu hören, dass die israelische Regierung alles tue, um die Geiseln zurückzubringen und dabei nichts unversucht lasse. Wie meinten Sie das?

Ich habe jahrelang zugeschaut, wie Netanyahu in der Öffentlichkeit erklärte, das Foto von Gilad Shalit stehe auf seinem Schreibtisch und er »stehe ihm täglich gegenüber«. Gleichzeitig lehnte seine Regierung Verhandlungen mit der Hamas aber ab. Zurzeit stellt Netanyahus Kriegskabinett bloße Vermutungen auf. Darüber, was Hamas-Führer Jahja Sinwar will, unter welchen Bedingunen und militärischem Druck er sich zu einem Deal zwingen lässt. In Wahrheit weiß es die Regierung nicht und pokert – auf Kosten der Familien der Geiseln und der Palästinenser in Gaza.

 

Sie haben auch bezweifelt, dass die Kataris über direkte Kommunikationskanäle zur Hamas verfügen und es halten es für wahrscheinlicher, dass Ägypten Einfluss auf die Qassam-Brigaden hat. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Zunächst einmal gibt es keine direkten Kommunikationswege von Katar zu den Hamas-Funktionären in den unterirdischen Tunneln des Gazastreifens. Anstelle von digitalen Kommunikationswegen setzt die Hamas auf analoge Kommunikationskanäle: über Kabel, die sich über das Tunnelsystem erstrecken. Die Hamas gibt buchstäblich schriftliche Notizen weiter, um mit der Außenwelt zu kommunizieren. Wenn es eine Person gibt, die Kontakt zu den Hamas-Führern vor Ort hat und in Doha sitzt, dann ist es Khalil Hayya: Der ehemalige stellvertretende Hamas-Chef im Gazastreifen wurde kurz vor dem Massaker als Vermittler nach Katar geschickt. Aber diese Kanäle funktionieren nur sehr langsam und sind angesichts des Krieges im Gaza instabil. Die Ägypter hingegen verfügen über direkte Kommunikationskanäle in den Gazastreifen und haben bereits unter Beweis gestellt, dass die Waffenstillstände aushandeln können – wie etwa in den Jahren 2014 mit der Hamas und dann 2021 mit dem »Islamischen Dschihad«. Für die Ägypter ist es schlicht einfacher, diese Drähte aufrecht zu halten.

 

»Zivile Opfer nicht einfach kopfnickend akzeptieren«

 

Wie weit kann Israel in Verhandlungen mit der Hamas gehen?

Wir könnten mehr Zugeständnisse machen: In Bezug auf die inhaftierten Palästinenser, einen Waffenstillstand und humanitäre Pausen, und wir sollten die meisten Forderungen der Hamas akzeptieren, wenn sie vernünftig sind. Ich würde das als Regierung nicht öffentlich sagen, aber Israel sollte fast jede Bedingung der anderen Seite akzeptieren.

 

Sie schreiben in Ihrem Artikel: »Zivile Verluste sind keine Kollateralschäden«. Werfen Sie den israelischen Streitkräften vor, absichtlich zivile Opfer in Gaza in Kauf zu nehmen und damit gegen Völkerrecht zu verstoßen?

Nein. Ich glaube nicht, dass die IDF vorsätzlich Kriegsverbrechen begehen und auch nicht willkürlich Operationen durchführen. Es geht mir vielmehr darum, dass zivile Opfer keine bloßen Statistiken sind. Es handelt sich um Menschen, mit Träumen und Zielen für ihr Leben. Letzten Endes müssen wir den Kreislauf der Gewalt durchbrechen, weshalb wir zivile Opfer nicht einfach kopfnickend zu akzeptieren haben.

 

Ist das mehr eine moralische als eine rechtliche Aussage?

Ja.

 

Hat die israelische Regierung die Legitimität, diesen Krieg mit maximaler militärischer Zielsetzung zu führen?

In einer Demokratie kommt die Legitimität vom Volk, das die Regierung wählt. Es ist unbestritten, dass das israelische Volk hinter dem Hauptziel der Regierung steht: die Hamas als militärische Kraft und zivile Regierung im Gazastreifen auszuschalten. Darüber hinaus fordert ein Großteil der israelischen Gesellschaft, dass die Regierung Netanyahu sie nach diesem Krieg politische Verantwortung übernimmt und zurücktritt – und eine Minderheit fordert das Kabinett bereits jetzt zum Rücktritt auf.

 

Und Sie?

Netanyahu sollte im Gefängnis sitzen – verurteilt wegen Korruption und Betrug – und weil er uns dahin geführt hat, wo wir heute stehen. Aber lassen Sie mich Folgendes hinzufügen: Die gesamte internationale Gemeinschaft trägt die Verantwortung für das, was geschehen ist.

 

» Jede Kontrolle ohne palästinensische Führung wird nur eine weitere Form der Besatzung sein«

 

... für den 7. Oktober?

... für die Vorstellung, dass Israel weiterhin palästinensische Gebiete besetzen kann, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.

 

Sie haben einen Plan für einen Waffenstillstand und einen neuen Friedensprozess vorgelegt. Er umfasst unter anderem eine Reform der Palästinensischen Autonomiebehörde, einen Marshallplan für Gaza sowie eine neue Phase der Verhandlungen über territoriale Fragen. Ist das realistisch?

Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Jede Kontrolle ohne palästinensische Führung wird nur eine weitere Form der Besatzung sein. Deswegen müssen wir die Palästinenser von eben jener Besatzung befreien. Das beste Szenario, das wir anstreben können, ist eine multinationale arabische Koalition, die die neue zivile Regierung im Gazastreifen unterstützt – unter palästinensischer Führung. Engagement für die Zweistaatenlösung bedeutet Anerkennung des Staates Palästina durch alle Länder, unter anderem durch Aufnahme als Vollmitglied der Vereinten Nationen.

 

Hat ein Neustart des Friedensprozesses bessere Chancen unter einer anderen israelischen Regierung – etwa unter Führung von Yair Lapid oder Benny Gantz?

Yair Lapid ist genauso schuldig wie Netanyahu, weil er sich weigert, sich mit der palästinensischen Frage zu befassen. Und als Gantz in den Jahren 2018/2019 für seine neu gegründete Partei HaMachane HaMamlachti (»Das Staatslager«) in den Wahlkampf zog, veröffentlichte er ein Video von sich, in dem er damit prahlt, wie viele Palästinenser er während des Krieges 2014 getötet hat. Keiner von beiden, weder Lapid noch Gantz, wird den notwendigen Sinneswandel herbeiführen, um den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen.

 

Wem könnte das gelingen?

Es liegt in den Händen der Amerikaner, entsprechenden Druck auf Israel auszuüben. Es ist an der Zeit, dass die Biden-Administration auf den progressiven Flügel innerhalb der Demokraten zu hören. Tatsächlich erhöhen die USA auch den Druck in einigen Bereichen. In dieser Woche etwa drohte Biden, dass seine Regierung gewalttätigen Siedlern keine Visa mehr erteilen werde.

 

»Wir brauchen Friedensvereinbarungen, auch wenn wir einander nicht trauen«

 

Wird das ausreichen?

Nein. Aber die Biden-Administration könnte Israel zur Kooperation drängen. Ohne die amerikanische Militärhilfe würde die israelische Armee bald zusammenbrechen. Wenn es die Amerikaner wollten, könnten sie Israel sehr wohl dazu zwingen, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen und auf einen Friedensprozess einzulassen.

 

Was wären weitere Bedingungen für einen Neustart des Friedensprozesses?

Es muss einen Wandel in der Verhandlungskultur geben: Der Oslo-Prozess wurde von dem Kissinger-Prinzip der »konstruktiven Ambiguität« geleitet. Bewusst blieben wichtige Punkte unerwähnt, um die Gespräche so am Laufen zu halten. Zu keinem Zeitpunkt des Dialogs wurde vereinbart, dass Israel die Siedlungen im Westjordanland nicht ausbauen würde. Man ging davon aus, dass Israel nicht so handeln würde – aber es gab keine klaren Überprüfungsmechanismen für die Umsetzung. Das verleitete beide Parteien letztlich dazu, Vereinbarungen eher zu brechen, denn den Forderungen der anderen Seite zu schrittweise nachzukommen.

 

Wie die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits 2008 in der Knesset erklärte, gehört Israels Sicherheit zu Deutschlands Staatsräson. Oft interpretieren deutsche Politiker das als bedingungslose Solidarität mit der israelischen Regierung. Welche Rolle kann Deutschland in der Konfliktlösung spielen?

Ich habe mich in den letzten zwei Jahrzehnten mit vielen deutschen und europäischen Diplomaten ausgetauscht. Viele von ihnen sagten mir unter vier Augen, dass die Zweistaatenlösung nicht mehr machbar sei – aber sie erwähnten sie trotzdem in jeder verabschiedeten Resolution. Deutschland muss verstehen, dass Gerechtigkeit für Israel auch Gerechtigkeit für das palästinensische Volk erfordert. Als Israel gegründet wurde, wurden die Palästinenser zu Kollateralschäden. Ich rufe zur Solidarität mit der Vision von 7 Millionen Israelis und 7 Millionen Palästinensern auf, die vom Fluss bis zum Meer in Koexistenz leben – zwei Staaten für zwei Völker. Deutschland muss den Staat Palästina so bald wie möglich anerkennen.

 

Das Massaker vom 7. Oktober war auch ein Anschlag auf die israelische Zivilgesellschaft. Sie haben, wie viele andere auch, Freunde und Kollegen verloren. Darunter die bekannte Friedensaktivistin Vivian Silver, die Sie als »moralischen Kompass« bezeichnet haben. Wie kann sich die israelische Zivilgesellschaft von diesem Schock erholen?

Beide Seiten dieses Konflikts schreiben in diesen Tagen ihr kollektives Gedächtnis um. Wir werden nicht vergessen. Es gibt keinen Grund, zu vergessen. Aber wir müssen auch miteinander reden. Anstatt zu warten, bis beide Seiten Vertrauen ineinander aufgebaut haben, müssen wir Überwachungs- und Überprüfungsmechanismen unter internationaler Kontrolle einführen und uns an den Verhandlungstisch setzen. Wir brauchen Friedensvereinbarungen, auch wenn wir einander nicht trauen.


Dr. Gershon Baskin, 67, ist britisch-israelischer Analyst und Friedensaktivist. Er ist der Nahost-Direktor der Londoner NGO »International Communities Organisation«. Baskin wurde 1994 an der Greenwich University mit einer Analyse über die »Souveränität und das Territorium in Jerusalem« promoviert. Er verhandelt seit mehr als 15 Jahren mit Hamas-Vertretern und war der wichtigste Vermittler beim Gefangenenaustausch von Gilad Shalit im Jahr 2011.

Von: 
Pascal Bernhard

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