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Interview zu EU-Türkei-Beziehungen

»Mit welcher Türkei will die EU sich einlassen?«

Interview
Politologe Galip Dalay im Interview zu Türkei und EU
David Ausserhofer / Robert Bosch Academy

Der Politologe Galip Dalay darüber, wie man die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei verbessert – und sogar den Beitrittsprozess wiederbelebt.

zenith: Herr Dalay, welcher diplomatische Durchbruch ist denn nun eher zu erwarten: der EU-Beitritt der Türkei oder ein neuer Atomdeal mit Iran?

Galip Dalay: Offensichtlich ist ein neues Atomabkommen mit Iran viel wahrscheinlicher, der EU-Beitritt ist deutlich komplizierter.

 

Woran liegt das?

Letztlich hat der Beitrittsprozess eine transformative Agenda und braucht die Zustimmung aller EU-Mitgliedsstaaten. Die Zahl der Beteiligten und der Umfang der Aufgabe ist größer – und deshalb schwindet die Beitrittsperspektive angesichts des Zustands der Beziehungen zwischen beiden Seiten und der jeweiligen innenpolitischen Lage. Selbst als die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU ihre positivste Phase erlebten, etwa von 2004 bis 2008, war die Aussicht auf eine Mitgliedschaft bereits vom Tisch.

 

Was lief schief?

In diesem Zeitraum wurde der von den UN unterstützte Annan-Plan zur Lösung der Zypernfrage einem Referendum unterzogen – eine überwältigende Mehrheit der türkischen Zyprioten stimmte dafür, während die meisten griechischen Zyprioten dagegenstimmten. Und trotz der ungelösten Zypernfrage wurde Zypern Mitglied der EU. Das ist die strukturelle Grundlage der Krise zwischen der Türkei und der EU. Denn Ankara erkennt weder die Republik Zypern an noch den Anspruch der griechischen Zyprioten, ganz Zypern zu vertreten.

 

»Zypern ist nach wie vor einer der größten Risikofaktoren«

 

Wie haben sich Personalwechsel in der politischen Führung während dieser Phase der Verhandlungen ausgewirkt?

2005 kam Angela Merkel in Deutschland an die Macht, gefolgt von Nicolas Sarkozy in Frankreich 2007. Beide waren gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Die Christdemokraten in Deutschland sprachen von einer privilegierten Partnerschaft statt einer Vollmitgliedschaft. Und dann sagte Sarkozy ziemlich deutlich, dass die Franzosen bereits jede Aussicht auf eine Mitgliedschaft ablehnen würden. Selbst wenn die Türkei alle Kriterien erfüllen würde, müsste die Frage in einem Referendum entschieden werden. Und das zu einer Zeit, als die moderne Türkei eine der reformfreudigsten Perioden erlebte. Der EU-Beitritt war schon lange vor der autoritären Wende in der türkischen Innenpolitik aussichtslos.

 

Im Januar 2021 reiste der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach Brüssel, EU-Vertreter reisten im Gegenzug nach Ankara. Gibt es denn ein Interesse daran, den Beitrittsprozess erneut in Gang zu bringen?

Auch ohne eine solche Perspektive hat die Bedeutung füreinander nicht abgenommen. Die Türkei und die EU betrachten einander nicht als ein außenpolitisches, sondern ein innenpolitisches Thema. In Deutschland leben fast vier Millionen Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft oder türkischem Hintergrund, in der gesamten EU sind es rund sechs Millionen. Demografische, bildungspolitische, wirtschaftliche und soziale Beziehungen binden Türken in der Türkei und in der EU aneinander. Was immer auf den Straßen Istanbuls geschieht, wird auch auf den Straßen Berlins zu spüren sein. Außerdem ist die EU der größte Handelspartner und der größte ausländische Investor in der Türkei.

 

Wie unterscheiden sich denn Ankaras Beziehungen zu Brüssel etwa zu den Beziehungen zu Washington?

Die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA sind am Ende eine institutionalisierte Partnerschaft für Sicherheit, die im Kontext des Kalten Krieges entstanden ist. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU hingegen gehen weit darüber hinaus. Das heutige Europa ist zu einem gewissen Grad das Ergebnis der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Aber viele der europäischen Staaten blicken auch auf ihr imperiales Erbe zurück. Und das Osmanische Reich war einst selbst Teil dieser imperialen Ordnung. Wir sprechen also nicht nur von den heutigen modernen Staaten, sondern auch von ihren Vorgängern in ihrer imperialen Form.

 

»Was auf den Straßen Istanbuls geschieht, wird auch auf den Straßen Berlins zu spüren sein«

 

Was sind die drängendsten Fragen, die nun auf dem Tisch liegen?

Es gibt eine Menge zu besprechen. Die militärische Präsenz der Türkei von Libyen über Syrien bis hin zu den Gewässern des östlichen Mittelmeers bedeutet eine fundamentale regionale Transformation, deren Ergebnis erhebliche Auswirkungen auf die Türkei und Europa haben wird. Nicht nur in Bezug auf die Sicherheitslage, sondern auch auf die Innenpolitik. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen zunehmendem Populismus in Europa, neuen zwischenstaatlichen Konflikten und der politischen Ordnung im Nahen Osten. Flüchtlinge, Migration, Terrorismus und Sicherheit sind Themen, die Populisten ausschlachten. Sie sind das Ergebnis des Zusammenbruchs der Ordnung im Nahen Osten.

 

Und was bedeutet diese Diagnose für die Zukunft der EU-Türkei-Beziehungen?

Wir werden weitere Besuche wie den von Çavuşoğlu im Januar erleben. Aber das bedeutet nicht, dass sich die Türkei und die EU wieder auf einen Beitritt zubewegen. Bislang sind die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel transaktional, der Geflüchteten-Deal ist ein gutes Beispiel dafür. Aber das kann keine geeignete Basis für eine neue Beziehung sein, denn die braucht eine normative oder transformative Dimension. Doch wie kann das gelingen, wenn nicht mit der Perspektive eines EU-Beitritts?

 

Ist unter diesen Umständen nicht eine Politik der kleinen Schritte sinnvoller, die sich auf lösbare Probleme konzentriert?

Schauen wir auf den Geflüchteten-Deal von 2016. Damals waren Millionen von Flüchtlingen auf der Flucht aus Syrien. Ihr erster Anlaufpunkt war die Türkei, bevor sie Europa erreichen konnten. Es gab also eine gemeinsame Herausforderung, und deshalb legten beide Seiten den größeren Rahmen der Beziehung für den Moment beiseite und konzentrierten sich auf ein spezifisches Abkommen – eines der wenigen konkreten Ergebnisse dieser Beziehung.

 

Können sich die Türkei und die EU also auf Bereiche konzentrieren, in denen es Einigkeit gibt, und die anderen Bereiche einfach beiseitelegen?

Die EU muss sich die Frage stellen: Mit welcher Türkei will sie sich einlassen? Mit einer Türkei, deren innenpolitische Ordnung sich wandelt oder zumindest demokratischer und transparenter wird? Oder will die EU die Türkei nur als geopolitischen Akteur einbinden? Und bedeutet das, dass die EU den Demokratisierungsprozess in der Türkei abgeschrieben hat? Denn die Rückschritte in puncto Demokratie werden auch außenpolitische Konsequenzen haben.

 

Wie kann Europa seine Stimme finden, um diese Themen, die auch Kernwerte der EU sind, anzusprechen?

Das innenpolitische Bild in Europa ist nicht sehr ermutigend. Insbesondere wenn man sich den Aufstieg populistischer Parteien und das Erstarken illiberaler Tendenzen in Ländern wie Polen oder Ungarn vor Augen führt. Wenn rechtsextreme Parteien in vielen europäischen Ländern mehr und mehr in den Mainstream gelangen, hat das natürlich Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit und die Fähigkeit Europas, als Referenzpunkt für die Demokratisierungs- und Transformationsagenda in vielen Teilen der Welt zu dienen. In ähnlicher Weise gibt auch die Innenpolitik der Türkei ein düsteres Bild ab angesichts der autoritären Wende der letzten Jahre, in denen Menschenrechtsverletzungen Routine geworden sind.

 

Gibt es einen Ausweg aus dieser Sackgasse?

Ich schlage vor, dass wir uns auf einen alternativen Rahmen konzentrieren, der einen EU-Beitritt nicht ausschließt, mehr Dynamik in die Beziehungen bringt und ein gewisses Maß an innenpolitischem Wandel innerhalb der Türkei in Bezug auf Menschenrechte und Demokratie zeitigt. Eine Möglichkeit wäre, dass die EU und die Türkei einen außenpolitischen Dialog für ihre gemeinsame Nachbarschaft aufnehmen. Es ist sinnvoll, dass die Europäer an dieser gesellschaftlichen und innenpolitischen Transformation der Länder im Nahen Osten, einschließlich der Türkei, beteiligt sind. Ich denke, es sollte ein Engagement auf mehreren Ebenen geben, einerseits der politische Dialog bei Themen von gemeinsamem Interesse. Andererseits sollte Europa den zivilgesellschaftlichen Dialog intensivieren.

 

Hat der EU-Beitrittsprozess eigentlich noch einen gesellschaftlichen Rückhalt?

Der Beitrittsrahmen in seiner ursprünglichen Form ist Geschichte, aber er wurde nicht durch eine Alternative ersetzt. Dennoch genießt die europäische Ausrichtung der Türkei eine recht große gesellschaftliche Unterstützung. Das ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit Unterstützung für eine türkische EU-Mitgliedschaft, aber zumindest ist die europäische Orientierung für einen großen Teil der türkischen Bevölkerung wichtig. Dafür gibt es verschiedene Gründe, seien es wirtschaftliche Vorteile oder demokratischer Fortschritt und gute Regierungsführung. Aber wenn man das mit den 1990er Jahren vergleicht, als Europa auch unter der türkischen Elite, unter den Intellektuellen sehr positiv gesehen wurde, hat die Unterstützung leider abgenommen. Das liegt auch an Europas Glaubwürdigkeitskrise.

 

»Die Rückschritte in punkto Demokratie werden auch außenpolitische Konsequenzen haben«

 

Wie hat die Erfahrung von 60 Jahren Migration nach Deutschland und das Leben von drei Generationen Deutschtürken die Perspektive auf Deutschland in der Türkei verändert?

Das deutsch-türkische Verhältnis ist für beide Länder ein innenpolitisches Thema, weil Millionen von Menschen beide Länder als ihre Heimat betrachten. Sie bilden, was ich die menschliche oder gesellschaftliche Trägerschaft dieser Beziehung nenne. Und deshalb denke ich, dass ein Bruch in dieser Beziehung nicht wahrscheinlich ist, trotz der politischen Krisen im deutsch-türkischen Verhältnis. Beide Länder konnten diese Krisen aufgrund der sozialen und menschlichen Bindungen immer noch überwinden. Und das wird auch weiterhin der Fall sein.

 

Wie verhält sich dieses politische Verhältnis zur gesellschaftlichen Erfahrung der Deutschtürken?

Für viele Deutsche ist ihre Vorstellung von der Türkei durch ihre Erfahrungen mit der türkischen Gemeinde in Deutschland geprägt worden. Und für viele in der Türkei waren die Deutschtürken lange Zeit in gewisser Weise soziale Unternehmer, ein Anknüpfungspunkt, wenn es um Deutschland geht. Sie wurden zu dem Objektiv, durch das die Türkei Deutschland und die Deutschen die Türkei sahen.

 

Wie wirkt sich die Diaspora auf die bilateralen Beziehungen aus?

Deutschland betrachtet die Türkei mittlerweile über die türkische Gemeinschaft in Deutschland hinaus, und das Gleiche gilt für die Türkei. Dennoch bleibt die Diaspora wohl eines der, wenn nicht sogar das wichtigste Thema in den bilateralen Beziehungen. Wenn Deutschland seine Außenpolitik gegenüber der Türkei gestaltet, berücksichtigt man natürlich immer die Präsenz einer großen türkischen Gemeinschaft in Deutschland. So wie Frankreich, wenn es seine Politik gegenüber Nordafrika definiert, die Tatsache berücksichtigt, dass große Gemeinschaften nordafrikanischen Ursprungs in Frankreich leben.

 

Wie geht man mit der Tatsache um, dass immer mehr Deutschtürken in die innenpolitischen Konflikte der Türkei hineingezogen werden, die oft ihr Privatleben und das ihrer Verwandten in der Türkei beeinträchtigen?

Politisch-ideologische Identitäten und soziale Spaltungen, die in der Türkei existieren, spiegeln sich auch in der türkischen Gemeinschaft in Deutschland wider. Das ist eine unvermeidliche Folge der Migration und der gesellschaftlichen Verflechtung. Die türkische Innenpolitik wird sich immer auf die türkische Gemeinschaft in Deutschland auswirken. Dennoch sollten beide Länder darauf achten, dass dieser Einfluss keinen toxischen Charakter für die türkische Gemeinschaft in Deutschland annimmt. Es muss einen Weg geben, diese Spannung auf der Ebene der deutsch-türkischen Beziehungen von der gesellschaftlichen Dimension zu trennen – so schwierig das auch scheint.

 

»Die Innenpolitik in der Türkei wird sich weiterhin auf die türkische Gemeinschaft in Deutschland auswirken«

 

Was lief denn vor dem Abbruch des EU-Beitrittsprozesses schon gut, woran ließe sich anknüpfen?

Das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre war eine positive Phase. Die türkische Wirtschaft wuchs und Ankara verfolgte innenpolitische Reformen. Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU im Allgemeinen und die türkisch-deutschen Beziehungen im Besonderen hatten darauf einen positiven Einfluss. Auch auf gesellschaftlicher Ebene schien sich die deutsche Wahrnehmung der Türkei zu verändern und umgekehrt. Viele Deutschtürken gingen etwa aufgrund dieser neuen Möglichkeiten sogar zurück in die Türkei. Wenn sich wieder ein ähnliches Szenario einstellt, könnte das eine viel positivere Atmosphäre schaffen. Aber die Rückschritte in Sachen Demokratie, die Menschenrechtsverletzungen, die jetzt von einer Wirtschaftskrise begleitet werden, erzeugen natürlich eine vergiftete Stimmung mit Blick auf künftige Verhandlungen.

 

Sollte Deutschland eine aktivere Rolle bei der Gestaltung dieser Beziehung mit der EU einnehmen?

Die europäische Ebene wird immer eine sehr starke deutsche Perspektive einbeziehen. Einfach weil Deutschland die größte Volkswirtschaft Europas ist und angesichts der ohnehin starken sozialen Dimension der deutsch-türkischen Beziehung. Das sehen wir bereits heute. In den letzten Jahren haben die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU einen Tiefpunkt erreicht. Und Deutschland hat entscheidend dazu beigetragen, weitere Brüche in dieser Beziehung zu verhindern. In dieser Hinsicht denke ich, dass die Deutschen die wichtigsten Akteure bei der Formulierung jeglicher Form der Beziehung zwischen der Türkei und Europa sein werden, insbesondere da Großbritannien nicht mehr am Tisch sitzt. Deutschland bekommt in der Türkei-Politik auch erhebliche Unterstützung von Ländern wie Spanien und Italien.

 

Wo liegen die Risiken, wenn sich die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei weiter verschlechtern?

Zypern ist nach wie vor einer der größten Risikofaktoren. Die Idee einer Zweistaatenlösung für Zypern gewinnt in der Türkei an Bedeutung, und wenn Ankara seiner Position in der Zypernfrage Nachdruck verleiht, wird das zu einer tiefen Krise in den Beziehungen zwischen der Türkei und der EU führen. Im östlichen Mittelmeer erleben wir zwar eine Deeskalation der Krise, insbesondere zwischen der Türkei und Griechenland. Aber wenn dieser Konflikt erneut hochkocht und es zu einem Zwischenfall kommt, wäre das Gift für das diplomatische Klima.

 

Und in welchen Bereichen können beide Seiten am meisten gewinnen, wenn sich die Situation verbessert?

Im besten Fall würde sich die Türkei zu innenpolitischen Reformen oder mehr Demokratie verpflichten. Das würde sich positiv auf die gesamte Atmosphäre in den Beziehungen zwischen der Türkei und der EU auswirken. Gleiches gilt für den Fall, dass die Türkei und Europa auf außenpolitischer Ebene einen Weg für einen strukturierteren Dialog über gemeinsame Anliegen und Herausforderungen finden.


Galip Dalay ist Nonresident Fellow am Brookings Doha Center und Richard von Weizsäcker Fellow an der Robert Bosch Academy. Dalay ist spezialisiert auf Fragen der türkischen Außenpolitik mit Fokus auf Syrien und Irak sowie auf die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU.

Von: 
Robert Chatterjee

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