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Interview mit palästinensischem Politiker Ghassan Khatib

»Der Mord an Rabin war der Wendepunkt«

Interview
Interview mit palästinensischem Politiker Ghassan Khatib
Der israelische Premierminister Jitzchak Rabin, US-Präsident Bill Clinton und der PLO-Vorsitzende Yasser Arafat Executive Office of the President of the United States

Der palästinensische Politiker und Politologe Ghassan Khatib über das langfristige Scheitern der Oslo-Abkommen, Europas Rolle bei den Verhandlungen – und welche Weichen Brüssel hätte stellen können.

zenith: Vor 30 Jahren im August wurde das Oslo-I-Abkommen unterzeichnet. Heute ist die Region durch zahllose illegale Siedlungen im Westjordanland zersplittert, eine Zwei-Staaten-Lösung erscheint in weiter Ferne. Welches Konzept zur Beilegung des Nahostkonflikts bleibt da noch?

Ghassan Khatib: Ich denke tatsächlich, dass eine Zwei-Staaten-Lösung noch möglich ist. Was heute fehlt: Israels Bekenntnis zu diesem Prozess, denn das Land hat sich dramatisch verändert. Es ist nicht mehr das Israel, mit dem wir vor 30 Jahren verhandelt haben. Der Wendepunkt war der 4. November 1995, als der Terrorist Yigal Amir Premier Jitzchak Rabin ermordete. Ab da an verringerte sich die Kompromissbereitschaft der folgenden israelischen Regierungen Schritt für Schritt. Nun haben wir einen Punkt erreicht, an dem in Israel die kritische Masse fehlt, die die Idee der Zwei-Staaten-Lösung unterstützt. Die Mehrheit der Israelis ist der Meinung, dass ihr Staat die verschiedenen Teile des historischen Palästinas auf unterschiedlichen Ebenen kontrollieren sollte.

 

Wenn überraschend doch Friedensverhandlungen anberaumt würden, welche Themen müssten auf der Agenda stehen?

Israel würde Sicherheit ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Die palästinensische Seite wiederum vertritt die Position, dass die israelische Besatzung grundlegende Rechte untergräbt. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen haben in einer Reihe von Berichten detailliert Israels Verstöße dokumentiert, etwa illegale Enteignungen und Übertragung von palästinensischem Territorium für den Siedlungsausbau. Menschenrechte stünden für die Palästinenser also an erster Stelle auf der Agenda – und dazu gehört auch das Recht auf Land.

 

Sie waren Mitglied der palästinensischen Delegation während der Friedenskonferenz von Madrid 1991 sowie den palästinensisch-israelischen Verhandlungen 1991-1993 in Washington …

… Es lagen schon damals sehr klare Indizien für das spätere Scheitern von Oslo vor. Für uns Palästinenser ging es im Friedensprozess um ein Ende der Besatzung. Für den israelischen Teil der Delegation im Gegenzug um Sicherheit. Die Tatsache, dass Israel sich in den Verhandlungen weigerte, einen Hinweis auf die Notwendigkeit des Siedlungsausbaustopps in den Vertragsentwurf aufzunehmen, war für uns ein Indikator dafür, dass es Israel nicht ernst meint. Und deshalb haben wir in der Delegation, die zwei Jahre lang verhandelt hat, darauf bestanden, dass jedes Abkommen mit Israel eine klare israelische Verpflichtung enthalten muss, die künftige Ausweitung der Siedlungen zu stoppen. Schließlich konsolidiert der Siedlungsausbau die Besatzung.

 

Norwegen hat eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung des Friedensprozesses gespielt, indem es etwa Geheimverhandlungen 1993 in Schweden initiierte. Dennoch hielt sich Europa im Vergleich zu den Vereinigten Staaten eher im Hintergrund. Hätte Brüssel mehr ausrichten können?

Zu einhundert Prozent ja. Ich denke, dass die dominante Rolle Washingtons dem Friedensprozess geschadet hat. Das Problem war: Die Vereinigten Staaten waren nicht neutral und konnten folglich nicht die Rolle des Vermittlers einnehmen. Wäre Europa beteiligt gewesen, hätten die Verhandlungen ausgewogener gestaltet werden können. Das hätte vielleicht zu besseren Ergebnissen geführt. Wir haben die EU immer ermutigt, sich als Partner der Vereinigten Staaten an der Unterstützung des Friedensprozesses zu beteiligen. Aber leider ist Europa aufgrund der transatlantischen Dynamik immer davon ausgegangen, dass der Friedensprozess eine amerikanische Domäne ist.

 

»Jede Verhandlung braucht ein neutrales Mandat«

 

Und wie genau hätte sich Europa einbringen können?

Die Vereinigten Staaten und Israel haben während der amerikanischen Vermittlung sowohl dem Völkerrecht als auch mehreren Resolutionen der Vereinten Nationen nicht Folge geleistet. Europa hingegen ist diesbezüglich generell sensibler. Wenn Brüssel also Teil der Mediation gewesen wäre, hätte man vielleicht dem Völkerrecht eine gewisse Bedeutung beigemessen. Das wäre bei den Verhandlungen sehr nützlich gewesen – jede Verhandlung braucht ein neutrales Mandat.

 

Die Gründung einer Reihe von NGOs und anderen Initiativen begleitete den Oslo-Prozess. Sie selbst haben Bitterlemons ins Leben gerufen, ein palästinensisch-israelisches Webmagazin. Außerdem waren Sie Direktor des »Jerusalem Media and Communication Center«. Wieviel an Friedensarbeit kann die Zivilgesellschaft heute realistisch erreichen?

Weniger als früher. Zu Zeiten der Oslo-Abkommen war Israel gespalten in ein Friedenslager und einen rechten Flügel, der gegen den Prozess wetterte. Diese Spaltung beruhte auf der Haltung gegenüber der Zukunft der besetzten Gebiete: Das Friedenslager glaubte an das Prinzip, die israelische Besatzung zumindest in einem Teil der palästinensischen Gebiete aufzugeben, um ein anderes Gebilde, möglicherweise einen palästinensischen Staat, zu errichten. Aber weil das Friedenslager heute in Israel praktisch nicht mehr existent ist, gibt es auch keinen Raum für einen Dialog zwischen den Menschen. Nur ein geringer Prozentsatz glaubt, dass Israel die Gründung eines palästinensischen Staates in irgendeinem Teil der besetzten Gebiete zulassen sollte.

 

… und auf palästinensischer Seite?

Selbst aktive NGOs auf palästinensischer Seite sind nicht mehr an einem Dialog mit Israelis beteiligt, weil es sehr schwer ist, Menschen zu finden, die an einer zukünftigen Zwei-Staaten-Lösung interessiert sind.

 

Sie haben also die Hoffnung, die Sie in den 1990er-Jahren noch hegten, größtenteils verloren?

Ja. Aber auch dafür mache ich die internationale Gemeinschaft, einschließlich der großen europäischen Länder und den Vereinigten Staaten, verantwortlich. Sie haben die Augen davor verschlossen, dass Israel den Friedensprozess untergräbt, indem es die Rechte der Palästinenser nicht achtet. Stattdessen genießt das Land weiterhin ein Höchstmaß an Unterstützung durch europäische Staaten und die USA. Diese Länder hätten ihre Beziehungen zu Israel mit Jerusalems Bereitschaft verknüpfen müssen, sich an das Völkerrecht zu halten. Israel hat erkannt, dass man sich so verhalten und trotzdem weiterhin eine bevorzugte Behandlung seitens dieser wichtigen Länder genießen kann. Diese Haltung der internationalen Gemeinschaft hat Israel also darin bekräftigt, Rechtsverstöße fortzusetzen, die zu der gegenwärtigen Situation geführt haben.



Interview mit palästinensischem Politiker Ghassan Khatib

Ghassan Khatib ist Vizepräsident für Entwicklung und Kommunikation an der Birzeit-Universität. Von 2009 bis 2012 war er Direktor des Medienzentrums der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Im Jahr 2002 war er Arbeitsminister und von 2005-2006 Planungsminister der PA. Khatib war zudem Mitglied der palästinensischen Delegation bei der Nahost-Friedenskonferenz von Madrid 1991 und bei den anschließenden bilateralen Verhandlungen in Washington von 1991 bis 1993.

Von: 
Judith Braun

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