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Jemens Manhattan der Wüste ist ein Sanierungsfall

Wolkenkratzer in der Wüste

Reportage
Wolkenkratzer in der Wüste
Die Häuser von Shibam müssen regelmäßig und aufwändig instand gesetzt werden. Im Laufe der Jahre wurden einige Gebäude aufgestockt. Foto: Lutz Jäkel

Die Stadt Shibam im Jemen zählt zu den spektakulärsten Baudenkmälern der Welt. Doch die Hochhäuser aus Lehm verfallen. Das Manhattan der Wüste ist ein Sanierungsfall.

Salomo wäre beeindruckt gewesen. Mächtig thront die eines Königs würdige Stadt auf der Talsohle des Hadramaut, in dem der Tod immer anwesend ist – so die Bedeutung des Namens dieses Wadis. Hätte die legendäre Königin Bilqis von Saba dem jüdischen König in Palästina diese Stadt zeigen können, wäre es die Krönung ihres Ruhmes gewesen. Vielleicht hätte sie ihm keinen Tribut leisten müssen. Doch im ersten Jahrtausend vor Christus gab es Shibam noch nicht.

 

Kaufleute gründeten einst diese Stadt im Westen des Jemen, strategisch günstig gelegen an der Weihrauchstraße. Von hier und aus dem heutigen Oman wurde dieses kostbare Gut, das in Gold aufgewogen wurde, von Karawanen an die Häfen des Roten und des Mittelmeeres transportiert und in alle Welt verschifft. Der Weg war lang und gefährlich, oft waren die Karawanen monatelang unterwegs.

 

Doch die Kaufleute von Shibam waren sich ihrer Sache offenbar sicher. Sie bauten ihre Häuser nicht an die Abhänge der steilen Felswände, wie andernorts in dem etwa 200 Kilometer langen und an einigen Stellen zehn Kilometer breiten Hadramaut üblich, sondern stellten sie mitten in das Tal hinein. Nur eine hohe Mauer sollte ihnen Schutz bieten. Von hier aus konnten sie den Durchzug der Karawanen am besten kontrollieren, sich am Handel beteiligen – und Schutzzölle einfordern.

 

Doch die weiche, erdige Talsohle bot den Erbauern von Shibam nur ein begrenztes Felsareal als Fundament. Und so wuchsen die rund 500 Häuser dicht gedrängt bis zu 30 Meter in die Höhe. Die Gassen sollten nur so breit sein, dass gerade mal ein beladenes Kamel hindurch schwanken konnte. Kein Haus durfte das andere überragen, damit niemand auf das Dach des Nachbarn schauen konnte. Dort oben spielte sich in den kühlen Nächten das familiäre Leben ab. Das ist noch heute so. Ein Hochhaus dicht neben dem anderen – Manhattan in der Wüste.

 

Im 19. Jahrhundert wanderten einige Händler und Kaufleute des Hadramaut aus Ihnen drohten Armut und Elend durch immer wieder auftretende Hungersnöte und die Kriege zwischen den mächtigen Familien der al-Kathiris und der al-Qaitis. Auf demselben Seeweg, den rund 2000 Jahre früher die Sabäer und Hadramiten benutzt hatten, entdeckten sie die weite Welt.

 

Vor allem segelten sie nach Indien, Indonesien, Malaysia und Singapur und brachten von dort die Architektur mit, die maßgeblich von den europäischen Kolonialisten in Asien stammte – von Portugiesen, Holländern und Briten. Zu Geld gekommen, konnten es sich die jemenitischen Rückkehrer leisten, mit architektonischen Formen zu experimentieren. Paläste wurden nach europäischen und asiatischen Baustilen errichtet und in leuchtenden Farben bemalt, Minarette wurden nach dem Vorbild portugiesischer Kirchtürme gestaltet. Das Material zur Verwirklichung ihrer architektonischen Träume fanden die Leute von Shibam vor den Toren ihrer Stadt: Lehm, Zweige und Kalk.

 

Lehm ist kein Baustoff für die Ewigkeit

 

Doch Lehm ist kein Baustoff für die Ewigkeit. Lehmbauten unterliegen einem ständigen natürlichen Verfallsprozess. Dafür sorgen vor allem die periodisch auftretenden Regenfälle zur Zeit des Monsuns, ebenso wie undichte Wasser- und Abwasserleitungen. »Da die Häuser regelmäßig gewartet, überholt und aufgestockt werden müssen, weiß niemand genau, wie alt die Häuser wirklich sind«, sagt Hadi Eckert, seit 1996 Raumplaner bei der jemenitischen Altstadtbehörde GOPHY (General Organization for the Preservation of Historic Cities). »Nach meiner Meinung sind die Häuser nicht älter als 150 Jahre, wenn auch Teilelemente älter sein können«, fügt er hinzu.

 

Die Bauweise der Häuser von Shibam hat sich seit der Zeit der berühmten Königin von Saba kaum verändert, in den Metropolen Ur und Babylon in Mesopotamien hatte man nicht anders gebaut. Die Kenntnisse werden seit Generationen von einem Handwerker zum anderen mündlich überliefert. Erde und Wasser prägen diese Architektur, die in einer kargen Landschaft in beeindruckender Pracht die Höhen erklimmt.

 

Das Baumaterial ist billig, lässt sich schnell verarbeiten – und ist sowieso das einzige vorhandene Baumaterial. Der überall verfügbare Lehm wird mit Wasser und Häcksel aus Stroh zu einem Brei vermischt und in Schablonen zu flachen, rechteckigen Ziegeln gepresst. Zunächst in langen Bahnen auf den Boden gelegt, werden sie nach dem ersten Trocknungsprozess kunstvoll übereinander gestapelt. So dörren die Ziegel mehrere Wochen in der Sonne und härten aus.

 

Früher wurde die Grube für das Fundament eines Hauses mit Zweigen, Kalk und Salz ausgelegt, um Feuchtigkeit und Ungeziefer nicht in das Gemäuer eindringen zu lassen. Heute bedient man sich eines beständigeren Mittels: Das Fundament wird mit Zement ausgegossen. »AIIerdings«, erklärt Hadi Eckert, »verwendet einer der Meister, Said Ba-Swidan, dafür ein eigenes Rezept.« Also nur ein kleines Zugeständnis an die Moderne.

 

Nachdem die Ziegel ausgehärtet sind und die ersten von ihnen zu einem neuen Haus oder für Reparaturarbeiten übereinandergesetzt werden, wird in Lehmöfen Feuer entfacht. Auch hier hat die Moderne Einzug erhalten, denn als Brennmaterial werden immer häufiger alte Autoreifen verwendet, und so sind auch schon aus der Ferne die Arbeitsstätten der Kalkbrenner an den schwarzen Wolken zu erkennen, die aus ihnen herausquellen. In diesen Öfen werden mehrere Tage lang Kalksteinbrocken geröstet und anschließend mit langen Stöcken zu Pulver gedroschen. Nach dem Löschen des Kalkstaubs verarbeitet man diesen mit Knüppeln zu einer zähen Masse, der häufig ein Bindemittel wie Alabasterpulver beigemischt wird.

 

Die so entstandene leuchtendweiße Paste wird je nach Geldbeutel und Geschmack des Besitzers in mehr oder weniger aufwändiger Dekoration auf Teile der Fassade und der Inneneinrichtung gestrichen. Damit wird der fertiggestellte Bau gegen Regen imprägniert, und die helle Farbe gibt den wie mit Puderzucker bestäubt erscheinenden Häusern das charakteristische Aussehen.

 

Eine Stadt ohne Straßennamen

 

In Shibam gibt es weder Straßennamen noch Hausnummern. Wozu auch, man kennt sich und weiß, wo der eine Nachbar und die andere Nachbarin wohnen. Dem Außenstehenden mag das fremd erscheinen, denn die Häuser sehen alle mehr oder weniger gleich aus. Auch die Aufteilung innerhalb eines jeden Hauses folgt immer dem gleichen Prinzip: Im ersten Stock befinden sich Tierställe und lagern Vorräte.

 

Zugang hat man meist durch ein mächtiges Holztor, dessen Schlüssel ebenfalls aus Holz ist und einer überdimensionierten Zahnbürste gleicht. Die einzelnen Schlüsselstifte passen genau in ein Schloss, durch das der Riegel angehoben und verschoben werden kann. Gelöst werden kann der Riegel auch von einem Bewohner mit Hilfe einer Schnur, die bis in das oberste Stockwerk führt. Klopft man laut und hat sich durch Zuruft zu erkennen gegeben, zieht jemand im Haus an der Schnur, der Riegel verschiebt sich und der Besucher erhält Einlass.

 

Im zweiten Stock liegen das Bad und der Madschlis – der Raum, in dem die Männer sitzen und in dem Besucher empfangen werden. An Einrichtung braucht es nicht viel in einem Madschlis: bunte Vorhänge vor den kunstvoll verzierten Holzfenstern, Teppiche, Kissen, ein Ventilator und ein Fernseher. Das genügt, um hier das öffentliche Leben stattfinden zu lassen und sich spätestens am Nachmittag zu Qat-Runden zu treffen. Hier frönen die Männer – und in einem anderen Raum auch die Frauen – der »salomonischen Stunde«, die man nach der gelassenen Stimmung benannt hat, die sich durch die leicht berauschende Wirkung der Blätter des Qat-Strauches ergibt.

 

Qat hat allerdings erst nach der Wiedervereinigung mit dem Norden im Jahr 1990 Einzug in die südjemenitische Gesellschaft gefunden. In die darüber liegenden Stockwerke soll und wird sich kein Besucher verirren, denn hier lebt der Rest der Familie, vor allem die Frauen, die im privaten Bereich des Hauses natürlich unverschleiert sind.

 

Shibam könnte ein Idyll sein. Doch das Gesicht der Stadt verändert sich. Immer mehr Bewohner verlassen ihre Heimatstadt, weil sie kein Geld für die Sanierung ihrer Häuser haben. Immer mehr Häuser verfallen, weil die Bewohner sie verlassen ein – Teufelskreis. Die Menschen ziehen in das neue Shibam gegenüber, wo es moderne Häuser mit Kanalisation und Telefonanschluss gibt, oder sie ziehen in die Großstädte Sanaa, Aden oder in das nahe gelegene Städtchen Saiyun.

 

Den Menschen fehlt eine tragfähige wirtschaftliche Lebensgrundlage. Nachdem sich die jemenitische Regierung im Jahr 1991 während des Golfkrieges nicht eindeutig gegen den Irak stellte, verschlechterte sich die Situation noch. Viele jemenitische Gastarbeiter wurden daraufhin aus Saudi-Arabien ausgewiesen, die Geldüberweisungen in den Jemen blieben aus. Früher lebten in Shibam bis zu 10 000 Menschen, heute sind es noch rund 1 800 überwiegend arme und alte Leute, die zum Teil als Hausverwalter oder Mieter von »Häusern der Awqaf, der religiösen Stiftungen, die Stadt nicht verlassen wollen oder können.

 

Die Gelder für den Erhalt der Altstadt fließen spärlich

 

»Welcher Mensch bleibt in einer wirtschaftlich ausgegrenzten und toten Stadt ohne Erwerbsmöglichkeiten und in Häusern mit viel zu kleinen Zimmern?«‚ fragt Hadi Eckert und ergänzt leicht resigniert: »Unsere Vorschläge für eine wirtschaftliche Wiederaufrüstung der Region und eine angepasste Entkernung von Wohnbauten werden nicht umgesetzt.« Lediglich die Bourgeoisie nicht nur aus Sanaa oder Aden, sondern auch aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten kommt nach Shibam und verbringt hier den Fastenmonat Ramadan und das Aid al-Kabir, das große Opferfest nach der Pilgerfahrt. Für kurze Zeit ist das schick, auf Dauer leben möchte man hier aber nicht – zu unbequem, zu viel Arbeit und im Unterhalt zu teuer.

 

Obwohl Shibam seit 1984 zum Weitkulturerbe der Unesco gehört, werden nur wenige Gelder zum Erhalt der baufälligen Häuser bereitgestellt. Und auch andere ausländische Hilfen sind schnell überschaubar: Seit dem Jahr 2000 unterstützt die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) ein Stadtentwicklungsprojekt. Doch Restaurationen werden prinzipiell nicht finanziert. Holländische Entwicklungshelfer ließen ein Haus sanieren, aus dem ein Museum entstehen soll.

 

Doch diejenigen, die ein Museum besuchen könnten, die Touristen nämlich, bleiben auch im Jemen seit dem 11. September 2001 aus. Da sowohl den Flugzeugattentätern als auch der Terrororganisation Al-Qaida Verbindungen in den Jemen nachgesagt werden, ist ein dauerhafter Schaden für den Tourismussektor des Landes zu befürchten.

 

Der Raketenangriff auf ein Auto Anfang November dieses Jahres in der Provinz Marib, bei dem sechs mutmaßliche Terroristen der Qaida ums Leben gekommen sind und zu dem sich der amerikanische Geheimdienst CIA bekannt hat, rückt den Jemen weiter in die Ecke der Staaten, gegen die sich der so genannte Kampf gegen den Terrorismus richtet. Eckert hält die Verbindungen des Jemen zum Terrorismus in diesem Maße für übertrieben und spricht von einer Hetzpropaganda gegen dieses Land auch in deutschen Medien, die sich vernichtend auf den Tourismus auswirken werde.

 

Der Eindruck, den der junge Musikwissenschaftler und Reiseschriftsteller Hans Helfritz in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts beim Verlassen der Stadt Shibam gewann, ist auch heute noch wahrnehmbar: »In einem breiten Tal mit freundlichen Siedlungen ging es dahin. Noch lange standen am Horizont die scharf abgesetzten Umrisse der Wolkenkratzerstadt Shibam, mehr und mehr zu einer geschlossenen braunen Masse verschmelzend, gekrönt von dem Weiß der hochragenden Paläste, das in der sinkenden Sonne golden aufleuchtete. Dann versank die Stadt in dem bläulichvioletten Dunst des tropischen Abendhimmels.« Diesen Einblick können Besucher Shibams bis heute genießen. Doch die Wolkenkratzerstadt in der Wüste vereinsamt.


Dieser Artikel stammt aus der zenith-Ausgabe 4/2002.

Von: 
Lutz Jäkel

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