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Haftbericht

Jenseits der Zivilisation

Essay
Baal Tempel
Foto: Erik Albers

Die Wurzeln der Gewalt in Syrien liegen tief - unweit der antiken ­Stätten von Palmyra. Mustafa Khalifas Memoiren zeigen die ­Instrumente dieser Barbarei.

Die blutige Tragödie, die sich in Syrien abspielt, vollendet bald ihr siebtes Jahr. Menschen werden enthauptet, vergast, verbrannt oder zu Tode gefoltert. Die Brutalität erscheint maßlos, und zwar nicht erst, seit der »Islamische Staat« (IS) auf der Landkarte aufgetaucht ist, und auch nicht erst seit 2011, als die syrische Regierung die Proteste niederschlug. Mustafa Khalifa hat das Repressionssystem in einer früheren Zeit am eigenen Leib erfahren müssen. Er saß zwölf Jahre lang, von 1982 bis 1994, in dem für seine unmenschlichen Verhältnisse berüchtigten Wüstengefängnis Tadmor, das sich neben der antiken Ruinenstadt Palmyra befindet. Formell verurteilt wurde er nie. Sein als Roman verpackter Erlebnisbericht »Al Qawqa’a« – zu Deutsch: »Die Schale« – entführt den Leser in eine Welt des Schmerzes, des Sadismus und der Verzweiflung. In Beirut wurde das Buch 2008 auf Arabisch veröffentlicht, seit dem vergangenen Jahr liegt es als »The Shell« auch auf Englisch vor

Hafiz Al-Assad hatte in einem als »Korrekturbewegung« bezeichneten Putsch im Jahr 1970 die Macht an sich gerissen und den Grundstein für das Repressionssystem gelegt: ein Überwachungsstaat aus zahlreichen Geheimdiensten, die nicht nur die Bürger, sondern auch sich gegenseitig ausspionierten. Hinzu kam ein Instrumentarium von drakonischen Strafen beim geringsten Aufbegehren.

Unter dem Bleideckel der Diktatur hatte Präsident Hafiz Al-Assad im Jahr 1982 einen Aufstand der Muslimbrüder in der Stadt Hama mit kompromissloser Gewalt niedergewalzt. Große Teile der Innenstadt wurden zerstört und später planiert. Die Zahl der Opfer ist bis heute unklar. Schätzungen zufolge kamen zwischen 20.000 und 40.000 Menschen ums Leben.

In diesem Kontext gerät Mustafa Khalifa 1982 in die Mühlen des syrischen Repressionsregimes. Er hatte gerade sein Filmstudium in Paris beendet und wollte seiner Heimat mit seinen neu erworbenen Fähigkeiten dienen und das syrische Kino revolutionieren. Es kam anders. Am Flughafen ziehen ihn zwei unterwürfig-­höfliche Mitarbeiter der allgegenwärtigen »Mukhabarat«, der Sicherheitsdienste, aus der Schlange an der Passkontrolle. Es ginge nur um eine kleine Befragung, wird er beruhigt. Es folgt eine gespenstische nächtliche Autofahrt mit den beiden Geheimdienstlern im Auto vom Flughafen nach Damaskus.

Im Gebäude der Geheimpolizei ändert sich ihre Attitüde, die schmierig-verlogene Höflichkeit endet. Es folgen Schläge auf die Fußsohlen und mehrere Tage in einer überfüllten unterirdischen Gefängniszelle. Danach wird Khalifa mit anderen Häftlingen an einen unbekannten Ort transportiert. Die Fahrt dauert Stunden und führt in die Wüste. Eine Ahnung, was ihm bevorsteht, streift ihn, als die Geheimpolizisten sie mitleidig anblicken und ihnen ein »Gott stehe euch bei!« zuraunen, bevor sie die Häftlinge den Militärpolizisten übergeben und nach Damaskus zurückfahren.Es folgt die »Willkommenszeremonie« von Tadmor. Alle Neuankömmlinge müssen sich im Innenhof des Gefängnisses aufstellen und sich nach Berufen und Bildung gruppieren. Nach Ärzten, Anwälten, Ingenieuren und sonstigen Akademikern und einfachen Bürgern. Unter den Neuankömmlingen befinden sich auch einige Offiziere, denen Verrat vorgeworfen wird.

Der Gefängnisdirektor fordert einen Brigadegeneral auf, aus einem schmutzigen Abwasserrohr zu trinken, in dem Exkremente und Abfall fortgespült werden. Der General weigert sich. Er wird vor den Augen der anderen Häftlinge totgeprügelt. Danach trinken alle aus dem Abwasserrohr. Es folgt eine brutale Bastonade, an deren Folgen sechs Häftlinge sterben. Der Autor erwacht nach mehreren Tagen im Koma in einer Gefängniszelle, in der fast 300 Männer einsitzen.

Plötzlich haben sogar die Geheimpolizisten Mitleid

Zu diesem Zeitpunkt hat Mustafa Khalifa nicht die geringste Ahnung, weshalb er verhaftet wurde. Er glaubt an eine Verwechslung aufgrund der angespannten Sicherheitslage und des paranoiden Sicherheitsapparats. Er kann nur hoffen, dass sich das »Missverständnis« schnell aufklären wird. Er kommt aus einer griechisch-katholischen Familie und ist selbst Atheist. Mit den Muslimbrüdern hat er nicht das Geringste zu tun. Unglücklicherweise versucht er das »Missverständnis« mit diesem Argument aufzuklären. Der Gefängnisverwaltung sind seine Erklärungen gleichgültig.

Für das Verhältnis zu seinen Mithäftlingen, fast allesamt Anhänger der Muslimbrüder, hat sein Geständnis fatale Folgen. Christen gelten bei vielen Menschen in Syrien als Regimespitzel. Atheisten sind noch schlimmer. Sie werden als Teufelsanbeter angesehen, als Abschaum, von dem man sich fernhalten muss. Von diesem Moment an wird Khalifa von seinen Mithäftlingen gemieden, ausgegrenzt und geschnitten. Niemand richtet das Wort an ihn. Trotz der Überfüllung in der Zelle rückt sein Nachbar seinen Strohsack von ihm weg, um einen möglichst großen Abstand zwischen sich und ihn zu bringen.

So sitzt Khalifa jahrelang fast unbeweglich und ohne zu sprechen auf seinem Platz neben der Zellentür, schweigt, beobachtet. In seinem eleganten französischen Anzug, den er am Tag seiner Verhaftung trug und der langsam in seine Einzelteile zerfällt. Er zieht sich in einen imaginären Schutzpanzer zurück, aus dem heraus er alles beobachtet und im Geiste notiert und abspeichert, was er sieht und hört.

The Shell Cover
Mustafa Khalifa saß von 1982 bis 1994 im Gefängnis Tadmor. Formell verurteilt wurde er nie. Sein als Roman verpackter Erlebnisbericht »Al Qawqa’a« wurde 2008 in Beirut auf Arabisch veröffentlicht, seit 2016 »The Shell« auch auf Englisch vor

Zwölf Jahre ohne einen Stift, ohne ein Stück Papier. Nur sich selbst und seinen Erinnerungen ausgeliefert, macht er die Erfahrung, sich bei vollständiger Konzentration auch an kleinste verdrängte Details seines Lebens erinnern zu können. Er ergeht sich in Tagträumen, wie sein Leben draußen in Freiheit verlaufen könnte. Die Jahre vergehen. Die einzige Abwechslung bieten die wöchentlichen Hinrichtungen, die er durch ein winziges Loch in der Zellenwand beobachten kann.

Sein Status als Paria endet erst, als ein Häftling eine Blinddarmentzündung erleidet und unter großen Schmerzen zu Grunde zu gehen droht. Alle Häftlinge sammeln Metallstücke, damit die Ärzte unter ihnen eine Operation durchführen können. Khalifa übergibt seine Armbanduhr, die die Polizisten bei seiner Verhaftung unbegreiflicherweise übersehen hatten. Mithilfe eines an der Zellenwand angefeilten Glieds seines Uhrenarmbands wird der Häftling operiert. Er überlebt und erholt sich. Allein, es bringt ihm nicht viel: Ein Jahr später wird er gehenkt.

Erst am Ende seiner Haft erfährt Khalifa den Grund für seine Einkerkerung: Bei einem Abendessen in Paris hatte er einen harmlosen Witz über den Präsidenten erzählt, an den er sich noch nicht einmal mehr erinnern konnte. Ein syrischer Kommilitone hatte ihn denunziert.

»Caesar« ist vor ­diesem Hintergrund keine Überraschung

Vor seiner Entlassung wird er brutal gefoltert. Man lernt den Fundus der Barbarei kennen: den »Deutschen Stuhl«, den »Fliegenden Teppich«, den Autoreifen, die Falaqa (Stockschläge auf die Fußsohlen), Strom. Khalifa schreibt, dass die schlimmste Folter das Aufhängen an den Armen war. Wenn er stundenlang aufgehängt wird, mit den Zehen kaum den Boden berührt, wünscht er sich auf den »Deutschen Stuhl« oder den Autoreifen, denn das sei im Vergleich zum Hängen eine Erholung.

Im Jahr 1994 wird Mustafa Khalifa schließlich nach langwieriger Fürsprache eines Verwandten mit Verbindungen in Sicherheitskreise entlassen und sieht sich vor dem schwierigen Weg, der ihn zurück in ein ziviles Leben führen soll.

Das System aus drakonischen Strafen und brutaler Repression blieb auch nach dem Tod von Hafiz Al-Assad im Jahr 2000 unangetastet. Hoffnungen auf Tauwetter und Demokratisierung unter der Präsidentschaft seines Sohnes Baschar wurden brutal enttäuscht. Die Beharrungskräfte in der syrischen Regierung sind zu groß, und die Sicherheitskräfte haben bis heute nicht ihre Mentalität abgelegt, die Bürger ihres Landes als Feinde zu betrachten, die man rücksichtslos verfolgen darf.

Die Fotos mit den ausgemergelten und zu Tode gefolterten Menschen, die der Polizeifotograf »Caesar« im Jahr 2013 außer Landes geschmuggelt und der Öffentlichkeit enthüllt hat, sind hierfür beredte Zeugnisse.

Von: 
Thomas Walberer
Fotografien von: 
Erik Albers

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