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Vermisste im Irak

Die einzige Spur

Reportage
Vermisste im Irak
Das Lager der zentralen Gerichtsmedizin in Bagdad. In diesem Abschnitt liegen die Überreste von Opfern aus dem Zweiten Golfkrieg. Foto: Alessio Mamo

Die meisten Iraker vermissen nach vier Jahrzehnten Krieg und Terror noch immer Angehörige. Hoffnung auf Gewissheit gab es kaum. Ein Team von Forensikern rollt nun alte Fälle wieder auf.

Aisha serviert Tee im Wohnzimmer. Kein einziger Tropfen schwappt über aus den bis zum Rand gefüllten kleinen Teegläsern; auch nicht, als sich ihre Tochter Jihan an ihre Beine klammert. Aisha wankt nicht. Die Kraft ihrer Arme und ihre sanften Gesten passen nicht so ganz zur Traurigkeit ihrer Augen: Jeden Moment könnte sie in Tränen ausbrechen. Aisha hat viel geweint in den letzten Jahren, jetzt kann sie nur noch warten. Als Profilbild auf Whatsapp hat sie das Konterfei eines Mannes ausgewählt: helle Haut, ein langer Schnurrbart und eine ausgeprägte Stirn, dazu ein tiefgründiger, ernsthafter Blick. »Das ist mein Ehemann«, sagt sie.

 

Aisha ist eine von 7.000 jesidischen Frauen, die seit dem August 2014 von den Extremisten des sogenannten Islamischen Staats (IS) entführt und als Sklaven verkauft wurden. Die Vereinten Nationen stufen diese Gräueltaten als Teil eines versuchten Völkermords an den Jesiden ein. Das Schicksal der Hälfte dieser Frauen ist weiterhin unklar. Niemand weiß, ob sie noch leben, wo sie sich befinden.

 

Bis zu 7.000 jesidische Männer wurden hingerichtet. Ihre Leichen liegen noch immer in den Feldern von Sindschar – in 67 Massengräbern, die ausfindig gemacht wurden, seit die Provinz Nineve im Nordwesten des Irak 2017 vom IS befreit wurde. »Ganz sicher kann ich nicht sein, aber ich gehe davon aus, dass mein Mann getötet wurde«, sagt Aisha. Sie lässt ihr Mobiltelefon nicht aus den Händen, als sie sich auf den Boden ihres kleinen Hauses in Sindschar setzt. Ihre Tochter Jihan bleibt an ihrer Seite und hakt sich bei ihrer Mutter ein.

 

Bis zu 7.000 jesidische Männer ließ der IS hinrichten. Ihre Leichen liegen wohl noch immer in den Feldern von Sindschar.

 

Adhib, Aishas Ehemann und der Vater von Jihan und ihren Schwestern Jamila und Jinan, gilt im Irak als vermisste Person. Im Irak gelten mindestens 250.000 Menschen als vermisst – die Schätzungen reichen bis zu einer Million. Die Geschichte der »Mafqudin« (Verschwundene und Vermisste) umspannt inzwischen 40 Jahre. Sie begann während des Krieges gegen Iran (1980–1988) und dauert noch immer an: »250.000 Vermisste ist die Minimalschätzung«, sagt Fawwaz Abd Al-Amir von der »Internationalen Kommission für vermisste Personen« (ICMP), »auch das ist schon eine riesige Zahl«.

 

Wie groß das Ausmaß des Problems ist, zeigt sich in der zentralen Abteilung für Gerichtsmedizin in Bagdad. In einem großen Lagerraum stapeln sich Hunderte weiße Kisten. Alle sind mit einem Code versehen – täglich kommen Angehörige, um sie abzuholen. Aber leerer wird der Raum nicht. Die Verwaltung der Gerichtsmedizin muss immer wieder zusätzliche Räume für neue Boxen bereitstellen.

 

Der Krieg gegen Iran war nicht der einzige Grund, warum die Zahl der Mafqudin Anfang der 1980er-Jahre so anschwoll. Seit Saddam Hussein Ende der 1960er-Jahre an die Macht kam, verschwanden tausende Oppositionelle und solche, die als verdächtig galten. Gegen Ende des Ersten Golfkrieges flog das Regime Angriffe auf die Kurden im Norden. Der Giftgas-Angriff auf Halabdscha 1988 im Rahmen der »Operation Anfal« tötete Tausende, die genaue Opferzahl ist nicht bekannt. Viele der Opfer gelten weiter als vermisst. Anfang der 1990er-Jahre folgten der Einmarsch in Kuwait, die Massaker an den Schiiten im Süden, die US-Invasion im Jahr 2003, der Terror von »Al-Qaida im Irak« und der Bürgerkrieg 2006 bis 2008. Zuletzt kamen die Massaker des sogenannten IS hinzu.

 

Die Suche nach den Vermissten ist für die Angehörigen ein bürokratischer Hindernislauf.

 

Die sektaristischen Konflikte haben den Staat ausgehöhlt. Bis heute gibt es weder ein zentrales Register für die Vermissten noch ein einheitliches Meldeverfahren für Angehörige. Carrie Comer bemüht sich beim ICMP gemeinsam mit ihren Kollegen, Opferfamilien zusammenzubringen und sie im Sumpf der Bürokratie zu unterstützen. »Um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, müssen Angehörige sich an mehrere Behörden wenden. An welche, das hängt auch davon ab, ob sie in der Autonomen Region Kurdistan oder in anderen Landesteilen leben. Noch komplizierter wird es, wenn ein Angehöriger in eine andere Provinz umgesiedelt wurde.«

 

Sich in diesem bürokratischen Durcheinander zurechtzufinden, schrecke viele Menschen ab, sagt Comer, nicht zuletzt wegen der Kosten, die mit den Behördengängen verbunden sind. Derzeit müssen die Angehörigen eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben, dann werden sie aufgefordert, ihre Meldung vor einem Ermittlungsrichter zu bestätigen. Anschließend müssen sie bei der Gefängnisbehörde einen Antrag stellen, um festzustellen, ob die vermisste Person in Haft ist.

 

Weitere Schritte sind Vermisstenanzeigen in Lokalzeitungen und der Besuch bei der Abteilung für Massengräber der Märtyrer-Stiftung, einer Behörde, die direkt dem Kabinett unterstellt ist. Dort gilt es, ein weiteres Formular auszufüllen, damit nach der vermissten Person in den Datenbanken gesucht werden kann. Zuletzt müssen die Angehörigen noch Blutproben bei der Gerichtsmedizin abgeben, um einen Abgleich mit den Opfern in den Massengräbern zu ermöglichen.
Aisha erinnert sich immer wieder an den Augenblick, als sie ihren Mann zuletzt sah. »Wir waren in Qani, unserem Dorf. Genau in dem Moment, als uns jemand anrief und uns warnen wollte, kam Daesh. Die Kämpfer trennten Männer und Frauen, führten etwa 80 Männer ab. Keine Ahnung, wohin. Als die Dawaesh zurückkamen, war ihre Kleidung blutverschmiert. Wir waren immer noch im Dorf – uns war klar, dass unsere Männer getötet worden waren.«

 

Der IS hat Aisha nicht nur ihren Mann genommen, auch ihre Töchter waren jahrelang verschwunden.

 

Aisha spricht von Daesh, dem abwertenden arabischen Akronym für den »Islamischen Staat im Irak und der Levante«. Der Plural Dawaesh bezeichnet die Kämpfer – Männer oder Frauen, Soldaten oder Anhänger. Niemand in Sindschar käme auf die Idee, den IS anders zu bezeichnen.

 

Während die Terrorgruppe im Irak und in Syrien militärisch weitgehend besiegt wurde, dauert der ideologische Kampf um die Deutungshoheit weiter an. Und unter der Erde der Wiege der Zivilisation liegen Abertausende Menschen begraben. »Irgendwo da muss mein Mann sein«, sagt Aisha. Das erste Massengrab in Sindschar wurde am 15. März 2019 freigelegt. In Kocho, einem Dorf, das wie kein zweites für den Völkermord steht. Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad kommt aus Kocho. Als das Massengrab geöffnet wurde, forderte sie in ihrer Rede, dass die Verbrechen des IS gesühnt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

 

Bei den Vereinten Nationen wurde dafür eigens ein Ermittlungsteam zusammengestellt: UNITAD soll innerhalb von zwei Jahren genug Beweise sammeln, damit die Verbrechen des IS auch strafrechtlich verfolgt werden können. Wie so viele Frauen hat Aisha nicht nur ihren Mann verloren. Jahrelang wusste sie nicht, wo ihre drei Töchter sind: Jamila und Jihan, die sieben und sechs Jahre alt waren, als sie ihr weggenommen wurden. Und Jinan, die kleinste, damals vier Jahre alt.

 

Dann wurde Aisha als Sklavin an eine IS-Familie in Syrien verkauft, bei Tadmor, in Deutschland besser bekannt als Palmyra. »Ich bin ständig in Ohnmacht gefallen, ich musste die ganze Zeit an meine Töchter denken«, erinnert sie sich. Deswegen wollten ihre Peiniger sie verkaufen, an einen anderen IS-Kämpfer. Ihrem Vater gelang es irgendwie, Kontakt zu dem Mann aufzunehmen. Er flehte ihn an, ihm seine eigene Tochter zu verkaufen. Der Kämpfer stimmte zu, und Aisha kehrte nach Sindschar zurück. Ihre Töchter waren aber immer noch verschwunden.

 

Vermisste im Irak
Aisha ist eine von 7.000 Jesidinnen, die seit dem August 2014 von den Extremisten des sogenannten Islamischen Staats (IS) entführt und als Sklaven verkauft wurden. Foto: Alessio Mamo

 

Im Januar 2018 wurde Jinan aus Syrien zurück in den Irak geschmuggelt. In einem Waisenhaus in Mosul wurde sie ausfindig gemacht und zu Aisha zurückgebracht. Im ersten Moment erkannte sie ihre Mutter nicht wieder. Die zwei Jahre ältere Jihan kam ebenfalls aus der Gefangenschaft in Syrien zurück nach Sindschar. Sie fiel ihrer Mutter sofort in die Arme.

 

Seit diesem Augenblick weicht sie Aisha nicht mehr von der Seite. Die älteste Schwester, Jamila, ist weiterhin vermisst. Zwölf Jahre ist sie jetzt alt. »Als sie sie mir weggenommen haben, hat sie bitterlich geweint«, erzählt Aisha. »Und ich konnte nichts tun, um sie zu beschützen.« Zwei Töchter hat sie wieder an ihrer Seite, eine fehlt und ihr Mann ist verschwunden, vermutlich tot.

 

Ibtisam Aziz wurde 2003 als Witwe anerkannt. In Bagdad eilt sie täglich von Termin zu Termin. Sie ist Generaldirektorin der staatlichen Abteilung für Frauenförderung. Zum Interview erscheint sie mit einem prall gefüllten Aktenordner und mehreren Umschlägen voller Fotos. Sie zieht ein Papier hervor: »Das ist die Sterbeurkunde meines Mannes.«

 

Ibtisam Aziz war gerade einmal 23 Jahre alt, als ihr Ehemann kurz aus dem Haus ging, um Besorgungen zu machen. Er kam nie zurück. Sie war damals noch Medizinstudentin. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Ihr Mann Ahmed Saheb Ali war Ingenieur. Er verschwand 1980 – ein Jahr, nachdem Saddam Hussein die alleinige Macht an sich gerissen hatte.

 

23 Jahre musste Ibtisam Aziz warten – dann hatte sie Gewissheit, was mit ihrem Mann geschehen war.

 

»Eines Tages, es muss 1982 gewesen sein, hat mir ein Beamter, der für das Finanzministerium arbeitete, erzählt, dass es eine neue Liste mit Namen von Hingerichteten gebe. Der Name meines Mannes stehe darauf. Ich wollte es seiner Familie nicht sagen, versuchte aber, seiner Mutter doch begreiflich zu machen, dass wir nicht ausschließen könnten, dass er hingerichtet wurde. Ihre Reaktion war schroff: Sie schrie mich an und sagte, da könne ich ja gleich hoffen, dass er tot sei.«

 

Einige Jahre später landete Ibtisam Aziz selbst ins Gefängnis. Ihr wurde vorgeworfen, Deserteuren geholfen und sie medizinisch versorgt zu haben – Männer, die nicht gegen Iran kämpfen wollten und die sich im Wald versteckt hätten, nicht weit von Diyala, wo sie als Ärztin im Krankenhaus gearbeitet hatte. Sie habe aus humanitären Gründen gehandelt, verteidigte sich Ibtisam Aziz damals. Ohne Erfolg. Sie wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. An die Suche nach einer Bestätigung für den Tod ihres Mannes war erstmal nicht zu denken. Nach drei Jahren im Gefängnis wurde sie vorzeitig entlassen, dank einer Amnestie gegen Ende des Krieges gegen Iran im Jahr 1988. »Damals konnte man kaum an Geburtsurkunden kommen, wie hätte ich da dem Schicksal meines Mannes nachgehen können?«

 

Mit dem Ende von Saddams Herrschaft 2003 eröffnete sich für Ibtisam Aziz die Möglichkeit, die Suche wieder aufzunehmen: Auf dem Mohammed-Sakran- Friedhof an der Straße zwischen Bagdad und Diyala lohne es sich nicht, teilte ihr ein Friedhofswächter mit: »Reine Zeitverschwendung.« Zu viele Leichen seien hier vergraben. Jede Woche seit mehr als 20 Jahren seien Hunderte Tote hier chaotisch verbuddelt worden. Der Wächter gab ihr den Tipp, beim Rashid-Militärkrankenhaus anzufragen: Dort gab sie den Namen ihres Mannes an: Ahmed Saheb Ali, geboren 1950 in Bagdad.

 

Und mit einem Mal erhielt sie die Bestätigung. 27. August 1982 – an diesem Tag starb ihr Ehemann laut Sterbeurkunde. Todesursache: Hinrichtung durch den Strang. Seine Kleidung wurde nicht aufbewahrt, es gibt keine sterblichen Überreste – nur dieses Papier, unterzeichnet von Saddams Offizieren. Eine endgültige Bestätigung, 23 Jahre nachdem ihr Mann verschwand.

 

Vermisste im Irak
Das erste Massengrab in Sindschar wurde am 15. März 2019 freigelegt. In Kocho, einem Dorf, das wie kein zweites für den Völkermord steht. Foto: Alessio Mamo

 

Damals war die staatliche Gerichtsmedizin in Bagdad noch nicht in der Lage, DNA-Tests bei Tausenden Angehörigen durchzuführen, und die Märtyrer-Stiftung hatte noch nicht damit begonnen, aktiv nach den Vermissten aus der Zeit des alten Regimes zu suchen. Ein paar Jahre später arbeitete Doktor Dhia Karim an seinem ersten Massengrab. »2008 ging es los: Seitdem heben wir Gräber aus, zunächst jene aus der Zeit des Ba’ath-Regimes, aus dem Krieg gegen Iran, jenem gegen Kuwait, des Bürgerkriegs und zuletzt die Massengräber der Opfer von Daesh«, berichtet er.

 

»Aber die forensische Archäologie ist nur ein Teil unserer Arbeit. Wir halten darüber hinaus Kontakt zu Angehörigen und Hinterbliebenen. Sie vertrauen uns.« 2008 wurde im Ministerium für Menschenrechte eigens eine Abteilung für die Untersuchung von Massengräbern eingerichtet. Dhia Karim leitete dort das Team, das die Ausgrabungen koordinierte und sich um Fragen der juristischen Aufarbeitung kümmerte.

 

2015 wurde das Menschenrechtsministerium abgeschafft – offiziell, um die Exekutive zu entschlacken. Aus der Abteilung für Massengräber wurde ein eigenständiges Direktorat, geleitet von Doktor Karim. Es arbeitet eng mit der Gerichtsmedizin zusammen, wenn es um die Exhumierung von Leichen und die Identifikation der Toten geht.

 

2017 schuf der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit der Resolution Nr. 2379 die Grundlage, den Irak bei der Aufarbeitung der IS-Verbrechen zu unterstützen. Der britische Völkerrechtsanwalt Karim Ahmed Khan wurde 2018 mit der Leitung des UNITAD-Teams betraut. In allen Fragen zu den Massengräbern muss sich sein Team mit den irakischen Behörden abstimmen.

 

Die Gerichtsmedizin in Bagdad arbeitet noch an Fällen aus dem Krieg gegen Kuwait von 1991.

 

Mein zweiter Besuch bei der zentralen Gerichtsmedizin in Bagdad folgt auf eine intensive Woche in Kocho, kurz nach Öffnung der ersten Massengräber. Irakische und kurdische Teams arbeiten dort Seite an Seite mit UNITAD. »Wir sind noch nicht weit gekommen«, sagt mir Doktor Ali Hisham, einer der forensischen Anthropologen in der Abteilung. »Bevor wir uns mit den Gräbern in Sindschar befassen können, werden wir einige Fälle aus dem Kuwait-Krieg von 1991 abschließen.«

 

Die weißen Kisten im Lagerraum sind mit einem Code und einem Begleitbrief versehen. »Darin werden die Fallnummer und der Fundort vermerkt. Die Boxen enthalten auch, wenn vorhanden, die sterblichen Überreste und Kleidung«, erklärt Hisham. »Unser Ziel ist es, die Leichen an die Familien zu übergeben, um Platz zu schaffen für die Fälle aus Sindschar.«

 

Die Größe des Lagerraum gibt einen Eindruck vom Ausmaß des Problems. Am Anfang der Identifikation steht der Aufruf an Angehörige, DNA-Proben abzugeben. »Jedes Massengrab ist anders – jeder Fall ist einzigartig«, sagt Doktor Zaid Al-Jussif, der die Abteilung leitet. »Im Fall des Massakers im Camp Speicher, als der IS im Juni 2014 an einem Tag mehr als 1.600 Kadetten der Armee hinrichten ließ, ist die Zahl der DNA-Proben sieben Mal höher als die Zahl der Opfer.«

 

Auch jenseits der Zahlen gestaltet sich die Zuordnung oft schwierig, erklärt Doktor Jussif: »In manchen Gräbern finden sich Leichenteile ein- und derselben Person an ganz unterschiedlichen Stellen. Auch der Zustand der Überreste variiert stark. Natürlich spielt dabei eine Rolle, wie viel Zeit vergangen ist. Wir arbeiten ja auch noch an Fällen aus den 1980er-Jahren, für die oft keinerlei Zeugenaussagen vorliegen.«

 

Nach der Untersuchung der Leichen durch die Gerichtsmediziner werden die Informationen mit den Daten der möglichen Angehörigen abgeglichen. »Es ist ein multidisziplinärer Ansatz«, sagt Luis Fondebrider. Der forensische Anthropologe hat schon in seinem Heimatland Argentinien sowie in Bosnien Massengräber exhumiert und ist nun Teil des internationalen UNITAD-Teams im Irak. Der Prozess ist umständlich und mit ausufernder Bürokratie verbunden.

 

Ibtisam Aziz wäre dennoch froh gewesen, wenn sie früher Zugang zu einem solchen System gehabt hätte. Es ist das Ergebnis der Bemühungen um Aufarbeitung, die 2003 ihren Anfang nahmen. Aller Probleme zum Trotz ist der Fortschritt, den das irakische Team in den letzten zehn Jahren gemacht hat, unübersehbar. Inzwischen haben die Angehörigen eine viel größere Chance, schneller zu erfahren, was mit ihren Ehemännern, Brüdern oder Söhnen geschehen ist.

 

Wenn alle Massengräber geöffnet worden sind, wenn die Toten identifiziert sind und Adhib unter ihnen ist, ist Aisha offiziell eine Witwe. Bis dahin wird es aber noch dauern. »Mindestens zwei Jahre«, sagt Doktor Zaid von der Gerichtsmedizin. Und dabei bezieht er sich nur auf den Bezirk Sindschar. Aisha wünscht sich, dass sie irgendwann einen Anruf bekommt, der ihr Gewissheit bringt. Dass der Körper ihres Mannes oder vielleicht eher seine sterblichen Überreste gefunden wurden. Dann könnte sie ihn in Sindschar beerdigen.

 

Ibtisam Aziz hat einen solchen Anruf nie erhalten. Mitunter fragt sie sich, ob er jemals kommen wird. Was, wenn die Leiche ihres Mannes nie gefunden wird? Ebenso wie die vieler anderer, die in Saddam Husseins Kerkern hingerichtet wurden? Ihr Mann gilt nicht mehr als vermisst. Seine Sterbeurkunde bestätigt, dass er tot ist. Wenn die fürchterlichen Verbrechen des IS nun alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, fallen die Fälle aus den Jahren vor 2003 wieder unter den Teppich?

 

Die zuständigen Behörden in Bagdad und Erbil weisen solche Vorwürfe zurück: Die Verbrechen der Operation Anfal und an den Schiiten in den 1990er-Jahren stünden weiterhin oben auf der Agenda. Immer wieder fahren Teams nach Kurdistan und in den Südirak, um dort Gräber zu untersuchen.

 

Ibtisam Aziz hat sich entschieden, ihr Leben den Frauen zu widmen. Letztlich ist die Frage der Mafqudin auch eine Gender-Frage: Die meisten Vermissten im Irak sind Männer, dementsprechend groß ist die Zahl der Frauen, die wie Aisha und sie selbst allein bleiben und sich ohne Unterstützung um die Familie und das Einkommen kümmern müssen. »Ich war so jung, allein mit meinen zwei kleinen Kindern. Von meinem Mann fehlte jede Spur. Dann landete ich im Gefängnis und musste meine Kinder zurücklassen. Aber ich blieb stark und möchte nun anderen Frauen etwas weitergeben. Ich habe ja den gleichen Kampf gekämpft.«

 

Als Leiterin der Abteilung für Frauenförderung ist Ibtisam Aziz auch für die Frauen von IS-Kämpfern zuständig. »Auch sie haben ihre Männer verloren. Selbst wenn sie Verbrechen begangen haben, sind sie doch Teil unserer Gesellschaft.« Gleichzeitig hilft sie dabei, sichere Räume für Jesidinnen zu finden, die nach Jahren der Versklavung aus Syrien zurückkehren. Sie versucht, die Überlebenden mit ihren Familien zusammenzubringen, wie im Fall von Aisha und ihren Töchtern Jinan und Jihan.

 

»Niemand kann unsere Angehörigen von den Toten auferstehen lassen. Aber wenn die Massengräber geöffnet werden und manche Mädchen wieder zurückkehren, können wir anfangen, wieder zu atmen, wieder zu hoffen.« Mit diesen Worten verabschiedete sich der Dorfälteste von Kocho bei meinem Besuch in Sindschar.

 

Wochen später, als ich gerade meine Interviews aus dem Irak abhöre und transkribiere, klingelt mein Telefon. Ich sehe das Bild eines Mannes mit langem Schnurrbart. Aishas Whatsapp- Profilbild. »Ich habe Neuigkeiten«, sagt sie. Ihre älteste Tochter Jamila lebt. In Syrien. Nach fünf Jahren in den Händen der Dawaesh: »Sie wird bald nach Hause kommen.«


Marta Bellingreri hat in Neapel und Palermo studiert. Die Arabistin und Journalistin beschäftigt sich vor allem mit der Situation von Frauen und Kindern in der arabischen Welt.

Von: 
Marta Bellingreri
Fotografien von: 
Alessio Mamo

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