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Regierungsbildung und politische Gewalt im Irak

Hat sich Muqtada Al-Sadr verzockt?

Analyse
Regierungsbildung im Irak
Durch geschicktes Taktieren konnte Muqtada Al-Sadr trotz Stimmenverlusten Sitze im Parlament hinzugewinnen. privat

Muqtada Al-Sadr warf alles in die Waagschale, um doch noch seine Koalition durchzuboxen. Dann musste er zurückrudern. Warum die Gegner des Populisten dessen Bluff durchschaut haben.

Am Montag, den 29. August, kündigte Iraks berühmtester Protestpolitiker, der schiitische Kleriker Muqtada al-Sadr, seinen – diesmal angeblich endgültigen – Rückzug aus der Politik an.

 

Die Meldung folgte kurz nachdem der geistliche Anführer der Sadr-Bewegung – Ayatollah Kazem Al-Haeri – seinen eigenen Rückzug aus gesundheitlichen Gründen bekannt gegeben hatte. Im gleichen Atemzug forderte er seine Anhänger auf, dem obersten Führer Irans – Ayatollah Ali Khamenei – als religiöse Referenz zu folgen.

 

In seinen Abschiedsworten griff Al-Haeri dadurch indirekt seinen ehemaligen Schützling Muqtada Al-Sadr an. Er deutete an, dass Personen ohne die Qualifikation als Mujtahid, also jemand, der religiöses Recht auslegen kann, keine Führungsrolle für sich beanspruchen sollten. Selbst wenn Muqtada Al-Sadr öffentlich seine Zweifel an den Beweggründen Al-Haeris äußerte und dabei Einmischung von außen witterte, empfand Iraks umstrittenster Politiker den Zeitpunkt dieses Angriffs auf seine Autorität als Verrat.

 

Vor allem, da sein Vater – der Großajatollah Mohammed Sadiq Al-Sadr – Al-Haeri selbst als seinen legitimen Nachfolger gekrönt hatte, stand Muqtada Al-Sadr plötzlich unter Druck und geriet argumentativ in die Defensive. Um zu belegen, dass die Mobilisierung seiner Anhänger nicht den eigenen Machtspielchen dient, drohte der 48-Jährige erneut damit, sich aus dem politischen Geschäft zurückzuziehen. Damit versetzte er seine Anhängerschaft in eine weitere Sinnkrise.

 

Unklar bleibt der Wahrheitsgehalt zweier Erklärungen, die im Nachgang als Momentum für Sadrs Intervention kolportiert wurden

 

Kurz nach der showreifen Übertragung von Sadrs Rücktritts, stürmten seine aufgewühlten Anhänger unaufgefordert den »Republikanischen Palast« in der hochgesicherten Grünen Zone der Hauptstadt Bagdad. Während die Demonstranten ihre Emotionen im majestätischen Schwimmbadbecken des Palasts abzukühlen suchten, bereiteten die politischen Rivalen des Klerikers die nächste Eskalationsstufe vor.

 

Am 30. August vermeldete der arabische Nachrichtensender Al-Jazeera die Bilanz der folgenden Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden und den irakischen Sicherheitskräften: 30 Tote und mindestens 700 Verletzte. Premierminister Mustafa Al-Kadhemi setzte die Kabinettsitzungen bis auf weiteres aus, die Armee verhängte eine Ausgangssperre. Iraks internationale Partner riefen alle Parteien zur Deeskalation auf.

 

Eilends berief Sadr eine Pressekonferenz ein, auf der er sich nicht nur bei dem irakischen Volk für die Gewaltspirale entschuldigte, sondern auch seinen Anhänger ein sofortiges Ende der Proteste verordnete. Unklar bleibt der Wahrheitsgehalt zweier Erklärungen, die im Nachgang als Momentum für Sadrs Intervention kolportiert wurden. So soll entweder ein Anruf des libanesischen Hizbullah-Führers Hassan Nasrallah oder eine Botschaft des irakischen Großayatollahs Ali Al-Sistani den Ausschlag gegeben haben.

 

Ungeachtet des mutmaßlichen Drucks von außen, bleibt Sadrs Kalkül schwer nachzuvollziehen. Indem er seinen Anhängern lediglich 60 Minuten einräumte, um sich von allen staatlichen Einrichtungen und öffentlichen Plätzen zurückzuziehen, stellte der Kleriker erneut unter Beweis, dass er trotz des angekündigten Rücktritts weiterhin beabsichtigt, der ultimative Strippenzieher der irakischen Straße zu bleiben. Diese Aussicht alarmiert Sadrs politische Rivalen und zementiert deren Bereitschaft zur Eskalation.

 

Im Vergleich zu seinem Vater fehlten Muqtada Al-Sadr die notwendigen akademischen Qualifikationen

 

»Eine weitere Konfrontation zwischen den Konfliktparteien ist nicht auszuschließen, zumal beide Seiten unter dem Deckmantel der Selbstverteidigung alte Rechnungen durch Gewalt begleichen könnten«, glaubt Mohammed Al-Shimmary. Kompromisse könnten die Krise zwar vorübergehend entschärfen, aber nicht nachhaltig lösen, da jede neue Regierung unweigerlich über die bestehende Spaltung zwischen diesen zwei schiitischen Machtzentren stolpern würde, befindet der Gründer des irakischen Thinktanks Sumeria.

 

Doch warum verfiel das Land, das noch vor zehn Monaten – für irakische Verhältnisse – freie und friedliche Parlamentswahlen abgehalten hat, abermals in Chaos und Gewalt? Um diese Frage zu beantworten, muss man Sadrs gescheiterte Ambitionen zur Regierungsbildung genauer unter die Lupe nehmen. Wie konnte es dazu kommen, dass der einst furchteinflößende Milizenführer der berüchtigten Mahdi-Armee kurz davorstand, eine parlamentarische Mehrheitsregierung auszurufen?

 

Muqtada Al-Sadr wurde 1974 als Sohn des bedeutenden schiitischen Führers Großajatollah Mohammed Sadiq Al-Sadr geboren. Der junge Muqtada kämpfte hart darum, das Vermächtnis seines vom Baath-Regime 1999 ermordeten Vaters fortzusetzen. Legitimität schöpfte er nicht nur aus seinem Namen, sondern auch aus dem Netzwerk von Wohltätigkeitsorganisationen, welches bereits seinem Vater eine ergebene Anhängerschaft unter der verarmten schiitischen Bevölkerung Bagdads und des Südiraks gesichert hatte.

 

Doch im Vergleich zu seinem Vater fehlten Muqtada Al-Sadr die notwendigen akademischen Qualifikationen, um sich als Gelehrter auf dem Feld der schiitischen Jurisprudenz zu behaupten und den Titel eines Marja‘ (in etwa »Quelle der Nachahmung«) für sich zu beanspruchen. Im Jahr 2008, nach einer bitteren Niederlage seiner sogenannten Mahdi-Armee gegen irakische Regierungstruppen, musste sich der Kleriker neu erfinden.

 

Selbst als Wahlgewinner schaffte es Sadr, sich der Verantwortung zu entziehen und in die Rolle eines Oppositionspolitikers zu schlüpfen

 

In dieser militärischen Auseinandersetzung liegt auch die Feindschaft zwischen Sadr und dem damaligen Premierminister Nuri Al-Maliki begründet. Trotz regelmäßiger Studienaufenthalte an der Theologische Hochschule von Qom in Iran, fokussierte Sadr seit 2008 seine Bemühungen darauf, sich als Sprachrohr der Unterdrückten zu positionieren. Dabei entwickelte er seine eigene Spielart der Protestpolitik.

 

So gelang es dem Kleriker, seinen Einfluss über das politische System durch Druckmechanismen und Patronagenetzwerke zu zementieren, ohne dabei selbst zur Rechenschaft gezogen zu werden. Selbst nachdem die von ihm angeführte Sa’irun-Koalition bei den Wahlen von 2018 mit 54 von 329 Parlamentssitzen als stärkste Kraft hervorging, schaffte es Sadr, sich der Verantwortung zu entziehen und in die Rolle eines Oppositionspolitikers zu schlüpfen, sobald das Kabinett von Premier Adil Abdul-Mahdi unter Beschuss geriet.

 

Auch 2019 gelang es Sadr, die Seiten zu wechseln und sich zunächst als Verbündeter der irakischen Oktober-Protestbewegung zu inszenieren. Die Regierung und mit ihr verbündete Milizen zielten mit brutalen Repressionsmaßnahmen gegen Sympathisanten dieser Bewegung. Bei der gewalttätigen Niederschlagung der Proteste starben innerhalb von sechs Monaten mindestens 600 Personen, über 20.000 wurden verletzt.

 

Sadrs Unterstützung für die Protestbewegung erwies sich als wenig beständig, denn seine eigenen bewaffneten Truppen wendeten sich teilweise gegen die Demonstranten. Doch auch wenn dieser »Verrat« Sadr einige Stimmen aus den Reihen der Protestbewegung kostete, ging er im Oktober 2021 abermals als Wahlsieger aus den Parlamentswahlen hervor.

 

Interne Machtkämpfe spielten Sadrs politischen Rivalen in die Hände

 

Dank eines professionell geführten Wahlkampfs gewann die Partei des Klerikers die Mehrheit der Parlamentssitze. Die reformorientierte Rhetorik sowie das Versprechen, das bestehende ethno-konfessionelle Quotensystem zu überdenken, ermöglichten es Sadr, sowohl die »Sunnitische Koalition« als auch die Demokratische Partei Kurdistans (KDP) auf seine Seite zu ziehen. Trotz der gemeinsamen Vision einer Mehrheitsregierung scheiterten Sadr und seine Verbündeten aber daran, sich auf den Präsidentenposten zu einigen.

 

Interne Machtkämpfe spielten Sadrs politischen Rivalen in die Hände. Sie nutzten ihren Einfluss innerhalb der Judikative, um die (aus ihrer Perspektive) gefährliche Vision Sadrs einer Mehrheitsregierung ohne Beteiligung des schiitischen Bündnisses »Koordinierungsrahmen« zu torpedieren. In ihren Augen drohte Sadrs Projekt, nicht nur sie zu entmachten, sondern auch die Schiiten zu spalten.

 

Frustriert darüber, dass er nach neun Monaten des Ringens um eine Regierungsbildung von seinen Rivalen an den Rand gedrängt wurde, wies Sadr seine Abgeordneten im Juni an, ihr Mandat abzugeben. Der parlamentarische Rückzug verlief aber sicherlich nicht so, wie es sich Sadr vorgestellt hatte.

 

Seine politischen Konkurrenten aus dem sogenannten Koordinierungsrahmen bemühten sich nicht wirklich darum, Sadr zum Überdenken der Entscheidung zu bewegen. Stattdessen ersetzten sie einfach die vakanten Sitze mit eigenen Parteigängern. Wohlwissend, dass Nuri Al-Maliki und dessen Schützlinge noch immer eine rote Linie für den Geistlichen darstellten, nominierte der »Koordinierungsrahmen« Malikis ehemaligen Minister für Menschenrechte, Mohammad Shia Al-Sudani, als Kandidaten für das Amt des Premierministers.

 

Sadrs Glaubwürdigkeit in den Augen der irakischen Protestbewegung stark beschädigt

 

Sadr empfand diese Nominierung als Provokation und reagierte mit einer Machtdemonstration. Seine Anhänger besetzten am 30. Juli vorübergehend das irakische Parlament und nahmen damit die irakische Demokratie in Geiselhaft. Selbst wenn Sadrs Sympathisanten ihren Sitzstreik nach dessen Appell brav beendeten, ist nicht ausschließen, dass ein Twitter-Aufruf von Sadr oder seines Boten Mohamed Saleh Al-Iraqi genügt, um sie wieder auf die Barrikaden zu schicken.

 

In der Zwischenzeit ist Sadr darum bemüht, weitere nicht-sadristische Protestgruppen für seine Revolution zu gewinnen. Allerdings ist seine Glaubwürdigkeit in den Augen der irakischen Protestbewegung stark beschädigt, viele bezweifeln seine Absichten und möchte sich nicht noch einmal opfern lassen. Nicht einmal Sadrs schwülstiger Aufruf vom 30. August zum Rückzug sämtlicher Parteien, die seit 2003 am politischen Prozess im Irak mitgewirkt haben, verschaffte ihm die notwendige Unterstützung und Sympathie aus den Reihen der Oktober-Bewegung.

 

Darüber hinaus könnte die Auflösung des Parlaments Sadr dazu zwingen, seine radikalen Forderungen nach einer vollständigen und sofortigen Abschaffung des politischen Systems aufzugeben. Zumal Sadr viele eben jener Vertreter an Bord holen muss, gegen die er wettert, aber die er braucht, um den Weg zu vorgezogenen Wahlen zu ebnen.

 

Während der Kleriker zum wiederholten Mal mit Rücktritt droht, scheint der Kampf um die Staatlichkeit des Iraks auf dem Rücken seiner gesetzgebenden und rechtsprechenden Institutionen ausgetragen zu werden. Der größte Verlierer bleibt das irakische Volk, dessen Vertrauen in politischen Entscheidungsverfahren und Hoffnungen auf eine repräsentative Demokratie rapide schwinden.


Dr. Inna Rudolf ist Associate Partner bei der Candid Foundation sowie Senior Research Fellow am »International Center for the Study of Radicalisation« (ICSR) und Postdoctoral Research Fellow am »Center for the Study of Divided Societies«. Innerhalb des XCEPT-Konsortiums analysiert sie die Auswirkungen von Identitätspolitik und Mobilisierungsstrategien in Konfliktgebieten.

Von: 
Inna Rudolf

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