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Interview mit Tamar Amar-Dahl über Netanyahu und den Neozionismus in Israel

»Der Anfang vom Ende der alten israelischen Ordnung«

Interview
Israelische Politik, Palästinenser und Apartheid
Das Jordantal ist rund 2.400 Quadratkilometer groß und umfasst damit rund ein Drittel des Westjordanlands. Nach Schätzungen der israelischen Menschenrechtsorganisation B՚Tselem leben dort rund 11.000 Israelis und etwa 65.000 Palästinenser. Foto: Thore Schröder

Historikerin Tamar Amar-Dahl über den deutschen Blick auf Israel – und warum ausgerechnet Benjamin Netanyahu einen Perspektivwechsel auf den Nahostkonflikt auslösen könnte.

zenith: Frau Tamar-Dahl, Sie erforschen Israels Gründungsgeschichte und Staatsräson zwischen Projektion und Wirklichkeit. Welche Erzählungen begegnen Ihnen dabei am häufigsten?

Tamar Amar-Dahl: Ein Mythos ist, dass Israels Kriegspolitik im Kern ein Verteidigungsakt gewesen sei. Das ist das Opfernarrativ: Israel sei umzingelt von Feinden, die aktiv im Begriff seien, Israel zu vernichten. Der Krieg sei daher eine Notwendigkeit. Die Politik und die Zivilgesellschaft akzeptieren, dass das Militär sich um die Sicherheit kümmern müsse. In meinem Buch habe ich das als »Zivilmilitarismus« bezeichnet: Die De-facto-Übertragung der Verantwortung für die Sicherheit von der Gesellschaft und der Politik auf das Militär. Die Armee selbst ist so zu einem Mythos als Schutz des zionistischen Staatsprojektes geworden. Das Problem ist, dass die israelische Gesellschaft auf Grund der De-Facto-Entpolitisierung der Sicherheit wenig über dieses Thema politisch mitzureden hat. So wird die Kriegspolitik gänzlich aus dem politischen Alltag herausgenommen und komplett dem Militär überlassen.

 

Wie erleben Sie als israelische Historikerin, die in Deutschland lebt und forscht, die mediale Darstellung Israels?

Tamar Amar-Dahl: Ich verfolge die hiesige Berichterstattung aus reinem Interesse am Israel-Diskurs in Deutschland. Und den erlebe ich als beängstigend einseitig und vor allem unsachlich. Das ist für die Erörterung der Zustände vor Ort nicht gerade dienlich – sei es im Hinblick auf den Palästina-Konflikt oder auf innerisraelische Verhältnisse. Insgesamt sind die deutschen Medien keine gute Quelle, um sich zu Israel zu informieren, weil sie immer noch weit davon entfernt sind, die Ereignisse vor Ort akkurat wiederzugeben.

 

Woran liegt das?

Die deutschen Medien sind tatsächlich noch immer sehr stark in Mythen verstrickt, denn sie haben das israelische Narrativ längst übernommen. Darin besteht die Problematik, hierzulande sachlich über den israelisch-palästinensischen Konflikt zu sprechen. Deshalb werden Palästinenser zunehmend angefeindet.

 

Welche Rolle spielt hier das Kabinett von Ministerpräsident Netanyahu, das seit Anfang des Jahres im Amt ist?

Es handelt sich hier um die rechtsradikalste Regierung in der Geschichte Israels – die offen und unverblümt im Begriff ist, die israelische Demokratie noch stärker zu schwächen. Die Berichterstattung in Deutschland scheint angesichts dieser dramatischen Entwicklung die Gründungsmythen neu zu bewerten. Ich habe aber den Verdacht, dass in den deutschen Medien nach wie vor unterschieden wird: zwischen dem Staat Israel und der rechtsradikalen Regierung in Jerusalem, die das Land sozusagen im Griff hat. Übersehen wird jedoch, wie stark das ganze Land nach rechts gerückt ist. Deshalb ist diese Regierung ja ins Amt gewählt worden.

 

Welche Folgen hat das?

Das Militär kann die gescheiterte Kriegspolitik fortsetzen und zur Eskalation des Konflikts beitragen, ohne dass es wirklich zur Rechenschaft gezogen wird, da es nach wie vor als die Sicherheitsinstitution wahrgenommen wird. Diese Sichtweise hält sich meines Erachtens auch in Deutschland. Dabei dürfen wir natürlich nicht den Antisemitismus und auch einen ausgeprägten Israelhass außer Acht lassen, die beide starke Motoren für das hierzulande ausgeprägte Opfernarrativ sind.

 

»Ich sehe daher keine Anzeichen dafür, dass die Bundesregierung mit und über Israel Tacheles reden würde«

 

Haben sich auch andere Mythen im deutschen Blick auf Israel verfestigt?

Ja, und zwar die Friedensideologie. Sie bildet das Gegenstück zum Narrativ der Notwendigkeit des Krieges, also zum Zivilmilitarismus. Der Mythos lautet hier, Israel sei schon immer im Begriff gewesen, Frieden mit den Palästinensern, oder überhaupt mit den arabischen Staaten, zu schließen. Diese seien jedoch nicht willens gewesen, Israels ausgestreckte Hand auch anzunehmen. Dabei blendet die Friedensideologie den Konfliktgegenstand gänzlich aus: Siedlungspolitik, Landraub und vor allem der mit der inzwischen 56-jährigen Okkupation einhergehende Entzug von Rechten eines ganzen Volkes erscheinen irrelevant.

 

Aber israelische Stimmen, die genau das kritisieren, finden doch auch Gehör in deutschen Medien.

Darin besteht ja der Ansatz: Demnach gebe es noch immer die »guten«, also die säkularen und die Demokratie schützenden Linkszionisten auf der einen Seite. Die seien im Grunde bereit, das Land mit den Palästinensern zu teilen, um Frieden zu schaffen. Auf der anderen Seite platziert man die »Demokratie-Zerstörer«, die Rechtzionisten, die ja offen und unverblümt nicht nur die Friedensideologie ad acta gelegt haben, sondern drohen, Israels demokratisches System gänzlich zu revolutionieren. Und letztere stehen hierzulande durchaus in der Kritik.

 

Welche Folgen sehen Sie in der Reproduktion dieser beiden Mythen in den deutschen Medien?

Der israelisch-palästinensische Konflikt steckt nicht lediglich in der Sackgasse, sondern ist auf Eskalationskurs. Da Opfernarrativ und Friedensideologie stark im dominanten Diskurs der deutschen Medien verinnerlicht worden sind, bleibt die sogenannte Sonderbeziehung zwischen Israel und Deutschland fast gänzlich unangetastet. Ich sehe daher keine Anzeichen dafür, dass die Bundesregierung mit und über Israel Tacheles reden würde. Im Gegenteil, sie nimmt Israel in diversen Bereichen nach wie vor in Schutz.

 

Mit welchen Folgen?

Israel hat praktisch freie Hand, seine Palästina-Politik gänzlich nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Wenn die deutschen Medien die Zustände in den besetzten Gebieten im Ansatz widergespiegelt hätten, wäre es nicht so einfach gewesen, Israel in dieser Form weiterhin zu unterstützen. Man hat viel zu lange das falsche Narrativ inklusive der großen Mythen übernommen. Davon kommt man nur schwer weg.

 

»Den Neo-Zionismus sehe ich als Ergebnis einer tiefgreifenden Sinnkrise der zionistischen Staatsideologie«

 

In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie die rechtsgerichtete Regierung Israels als Konsequenz einer »neozionistischen« Ideologie.

Den Neozionismus sehe ich als Ergebnis einer tiefgreifenden Sinnkrise der zionistischen Staatsideologie. Auslöser ist der Ausbruch der Zweiten Intifada 2000 und die einhergehenden verheerenden Konsequenzen des Dauerkriegszustands, mitunter das Verschwindens jeglicher Hoffnung auf eine Friedensaussicht.

 

Die prägende politische Figur dieser letzten 20 Jahre ist Benjamin Netanyahu.

Netanyahu hat das neozionistische Israel wie kaum ein anderer geprägt. Er hat es geschafft, die Palästina-Frage gänzlich von der israelischen Tagesordnung zu nehmen. Sie spielt seit gut einem Jahrzehnt keine Rolle mehr als Wahlkampfthema. Der amtierende Premier hat zudem das Instrument der Friedensideologie ad acta gelegt. Die Neozionisten lehnen offen und unverblümt jegliche Kompromisse ab. Diese Ideologie steht voll und ganz zum zionistischen Staatsprojekt im Sinne des ersten Paragrafen 1A des 2018 erlassenen Nationalstaatsgesetztes: »Das Land Israel ist das historische Heimatland des jüdischen Volkes, in dem der Staat Israel gegründet wurde.«

 

Welches Problem sehen Sie mit diesem Paragrafen?

An der binationalen Demografie im Land kommt kein Grundgesetz und auch keine Demonstrationen gegen die neozionistische Revolution vorbei. Das, was wir seit ein paar Monaten in Israel sehen, ist der Anfang vom Ende der alten israelischen Ordnung. Die Lebenslügen dieser Ordnung werden jetzt offensichtlicher und verlangen nach nachhaltigen Antworten.

 

Sie haben eingangs erwähnt, dass die Mythenreproduktion in der deutschen Medienlandschaft abebbt.

Der Siegeszug des Neozionismus könnte durchaus eine derartige Wirkung entfalten. Wie will man heutzutage eine ausdrücklich homophobe, frauenverachtende und dazu auch der westlichen Demokratie abgeneigte Regierung ernsthaft unterstützen? Extrem Israel-affine Medien stottern, da sie sich nun neu orientieren müssen. In einer Hinsicht will ich optimistisch sein, dass wenigstens die Mainstream-Medien hierzulande wach werden und die richtigen Fragen zu Israel stellen. Politik und Gesellschaft sollten dann folgen. Das israelische Opfernarrativ muss einer ernsten Auseinandersetzung unterzogen werden – es ist einfach nicht mehr so tragbar. Und Netanyahus Comeback im November 2022 könnte paradoxerweise die Chance dafür bieten.



Interview mit Tamar Amar-Dahl über Netanyahu und den Neozionismus in Israel

Die israelisch-deutsche Zeithistorikerin Tamar Amar-Dahl lebt und arbeitet in Berlin.

Interview mit Tamar Amar-Dahl über Netanyahu und den Neozionismus in Israel

Ihr neues Buch »Der Siegeszug des Neozionismus. Israel im neuen Millennium« erschien dieses Jahr beim Promedia Verlag in Wien.

Von: 
Judith Braun

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