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Alternative Szene

Iran ist ein Kunststück

Reportage
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Amene Rahimi; Everyday Golshah

Vergesst den Hauptstadt-Hype! Wer nur auf die Teheraner Szene schaut, übersieht die Künstler, die so vielfältig wie Iran selbst sind. Zum Beispiel die Afghanen von Golshahr.

Am Rande der iranischen Millionenstadt Maschhad, auf den Straßen und in den Geschäftszeilen, in engen Gassen und auf Märkten döst Afghanistan vor sich hin. Kein Marktplatz, keine Moschee oder Sehenswürdigkeit bildet das Zentrum des Viertels, sondern ein einfacher, überschaubarer Kreisverkehr. Von hier aus verzweigen sich die Straßen in enge Gassen, es wimmelt von Mechanikern, fliegenden Händlern, Passanten. Für rund 40.000 Afghanen ist das Viertel Golshahr eine Heimat geworden. Die iranische Bevölkerungsmehrheit von Maschhad nennt das Viertel »Kabulshahr – Kabul-Stadt«. Für den Besucher ist Golshahr exotisch, kosmopolitisch, afghanisch, iranisch. Reza, 35 Jahre alt, Afghane, ist auf dem Weg zu seinem Lieblingsafghanen und führt den Besucher durch sein Viertel Golshahr. Kurz deutet er auf eine offene Metalltür, dann auf das afghanisch-iranische Sprachenzentrum, enthusiastisch auf das Betongebäude an der nächsten Straßenecke: »Dort fand unsere letzte Fotoausstellung statt.« Reza: magere, zu hohe Schultern, Karo-Hemd, scharfsinnig, Fotograf, Kurator. Natürlich hat der Besucher kurz einen Blick hinter die Metalltür geworfen: ein leerer Raum, zwei weiße Plastikstühle, in der Mitte ein rostiger Metalltisch, ein Blumenstrauß aus Plastik. Ob dies das Büro sei, fragt er flüsternd. Reza lacht. Ja, an manchen Tagen herrsche hier Betrieb, sagt Reza absichtlich laut, und registrierten sich afghanische Freiwillige für den Kriegseinsatz in Syrien. 

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An einem religiösen Feiertag beobachten vier Afghanen das geschäftige Treiben vor einer Moschee in Golshahr. Foto: Foto: Sajjad Erfani; Everyday Golshahr Foto: Sajjad Erfani; Everyday Golshahr

Staatliche iranische Stellen haben bestätigt, dass Afghanen aus Iran im Dienste der iranischen Streitkräfte und aufseiten des Assad-Regimes im syrischen Bürgerkrieg kämpfen. Der Besucher fragt, wie alt man für den Krieg sein müsse. Zwischen 20 und 30 Jahre. Wie lange die afghanischen Freiwilligen an der Front blieben? Ein paar Wochen. Warum gingen sie nach Syrien? Na, nicht wegen ihres schiitischen Glaubens, sagt Reza. Für Geld, was dächte er denn? Er kenne jemanden, der sei zweimal in Syrien gewesen, danach habe der den Glauben verloren. 

Froh, das Thema abgehakt zu haben, macht Reza ein Foto von einem Mann hinter einer Glasscheibe, Rauschebart, pfiffige Äuglein, Goldzahn. Der Besucher läuft Reza hinterher, schaut auf die Motorenöl und Speiseflecken, die die engen Gassen bedecken. Irgendwann zupft Reza ihn am Arm. »Wir sind da.« 

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Eine Straßenszene in Golshahr. »Straße« nennt Ali Hoseinzade sein Foto. Der 18-jährige Afghane lebt sein fünf Jahren in Golshahr und fotografiert, um »das Geschehene und das Unwiederbringliche festzuhalten«. Foto: Ali Hoseinzade

Reza Shabidaks Lieblingsafghane ist das Restaurant »Kabuler Nächte«. Der Inhaber ist ein Afghane aus der ersten Einwanderergeneration, der in den 1980er Jahren während des sowjetisch-afghanischen Krieges (1978–1989) nach Iran floh. Hungrig springt Mohammed zur Begrüßung aus einer Sitzecke auf. Er strahlt Gemütlichkeit aus. 31 Jahre alt, Afghane, Familienvater, Fotograf, ölverschmierte Hände, denn zum Broterwerb arbeitet er in einer Autowerkstatt. Der Inhaber serviert Schälchen mit afghanischen Vorspeisen auf einem großen, silbernen, iranischen Tablett; gegrilltes Fleisch und ungesäuertes Brot, das als Sättigungsbeilage und Teller dient. Er erzählt von Bertolt Brecht und dem Theater, in einem fort freut er sich über Angela Merkel – »so eine starke Frau«. 

Reza und Mohammed gehören zur zweiten Einwanderergeneration; sie waren noch Kinder, als ihre Eltern mit ihnen über die afghanisch-iranische Grenze in den Osten Irans nach Maschhad flohen. Heute sind sie Teil des Fotografenund Künstlerkollektivs »Everyday Golshahr«. Vor drei Jahren gründete Reza es als visuelles Projekt. Mittlerweile fasst das Kollektiv rund zwei Dutzend Künstler und Kulturschaffende, die mehrheitlich aus Maschhad und der afghanischen Gemeinschaft in Iran stammen. Das Kollektiv organisiert Fotoausstellungen, Foto-Workshops und Seminare, Performances quer durch alle Genres, Konferenzen mit internationalen Gästen. 

Anfangs, erklärt Reza, habe man den Alltag der Afghanen in Golshahr fotografisch dokumentiert, das Leben, so wie es auch in anderen Städten und Ländern spiele: Menschen, die verschiedenen Berufen und Interessen nachgingen, Straßenszenen, Architektur, Landstriche. Dokumentieren, dass das Leben in Golshahr (oder Kabul-Stadt) genauso vielfältig, bunt und nicht zu kategorisieren sei wie anderswo, Afghanen hin oder her. Dann sei ihre afghanische Identität eine Motivation für die Gründung von »Everyday Golshahr« gewesen, fragt der Besucher. »Ja«, sagt Reza, als afghanischer Künstler müsse man auch über die schwierige Situation der Afghanen in Iran aufklären. Abstreifen könne man das Eigene ja nicht. 

Drei Millionen Afghanen leben in Iran, es ist das wichtigste Aufnahmeland für afghanische Flüchtlinge. Obwohl die Einwanderung schon vor 1978 begann, hat nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR nur ein Drittel der Afghanen im Land eine Aufenthaltsgenehmigung. Das Verhältnis zwischen der afghanischen Einwanderergruppe und der Mehrheitsgesellschaft ist nicht spannungsfrei. Alles in allem aber funktioniere die Integration, meint Mohammed, das könne man in Golshahr sehen. 

»Und habt ihr Probleme mit der Zensur?« 

»Wir erkunden doch nur. Die politische Gemengelage interessiert uns nicht. Wir erkunden Existenzen, Identitäten, Grenzen, Geheimnisse. In manchen Fotografie-Sequenzen stellen wir die Frage nach Einsamkeit, Verlorenheit, wiederum andere geben etwa in Performances Antworten darauf. Das sind Zonen menschlichen Lebens, wer sollte etwas dagegen haben?« 

»Der iranische Staat?« 

»Natürlich behandeln wir soziale Probleme wie Gewalt, Klassenunterschiede, Diskriminierung, aber das sind doch weltweite Phänomene, keine iranischen.« 

»Es gibt Barrieren, aber die sind nicht verhandelbar«, wirft Mohammed ein. 

»Ja, finanzielle sicherlich«, sagt Reza. »Kultur, Kunst kostet Geld. Viele von uns fotografieren mit ihren Mobiltelefonen, weil sie kein Geld für eine Fotokamera haben. Die Kulturszene in Teheran hat mit den gleichen Barrieren zu kämpfen.« Der Besucher, der aus dem Westen nach Osten blickt, findet, dass es außerhalb von Teheran doch sehr ruhig sei. Aus westlicher Sicht bestimme Teheran die iranische Kulturszene. Reza und Mohammed nicken. Auch darum, sagt Reza, habe man das Kollektiv gegründet, um eine stärkere Stimme zu haben, um mit anderen Künstlern und Organisationen in Kontakt zu treten. »In Teheran bemerkt man oft nicht, dass die Antworten auf die Herausforderungen für die Kulturszene auch außerhalb von Teheran gegeben werden.« 

Teheran ist am Abend zu Besuch. Reza fährt in einen hippen Stadtteil Maschhads. Das Stadtbild unterscheidet sich von Golshahr, teure Wagen parken vor Fast-Food-Restaurants; 

Mobiltelefonläden sind Apple-Stores und Cafébars Starbucks nachgeahmt. Vor einem Café trifft Reza auf einen befreundeten iranischen Dichter aus Maschhad und eine Kulturschaffende aus Teheran. Golnar, 32 Jahre alt, bildende Künstlerin, in Teheran geboren, in Kanada studiert, vor ein paar Jahren kam sie nach Teheran zurück, in elegantem Schwarz gekleidet, Stöckelschuhe. 

Der iranische Dichter steht scherzend mit ihnen vor dem Café, Zigarette im Mundwinkel, ein Gläschen Tee zwischen den Fingern. Drinnen rustikale Backsteinwände, Holztische, aus den Kugellautsprechern ertönt die Musik der australischen Psychedelic-Rock-Band »Tame Impala«. Anders als in seinem Kollektiv in Golshahr fällt Reza hier aufgrund seines Erscheinungsbildes, seiner ethnischen Identifikation, auf. Am Tisch mit den erfolgreichen Kulturschaffenden aus Teheran – ist er Afghane oder Künstler? Oder ist er es zugleich, ohne auch nur irgendetwas davon zu sein? 

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Golshahr ist ein Randbezirk der Millionenstadt Maschhad. Die Afghanen bemühen sich um einen Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft. Für sie ist Iran eine Heimat geworden. Foto: Ali Hoseinzade

Der Dichter mit dem Schnurrbart, der Iraner, Angehöriger der Mehrheitsgesellschaft, mit einem Faible für Herta Müller, der die Hälfte ihrer Werke ins Persische übertragen hat, ist zornig, unzufrieden. Warum man hier nicht rauchen dürfe, so fängt er an, rausgehen müsse er mit seinem Tee, den er dann sicher verschütte, und dann: Teheran! Warum denn die Aufmerksamkeit stets auf Teheran liege, zürnt er in seinem süßen Dichter-Persisch. Golnar weiß nicht, wie sie reagieren soll, versucht es mit einem verständnisvollen Nicken, Reza bestellt sich noch einen grünen Tee. 

»Teheran!«, zürnt der Dichter, die internationalen Medien schrieben immer nur über die Teheraner Künstler und Literatenszene, dass sie Aufmerksamkeit verdient habe, vielfältig und kreativ sei. »Der Rest des Landes etwa nicht? Außerhalb von Teheran findet man nur Landwirte oder religiöse Extremisten oder wie?« Seine Poesie, ach, nicht mal seine Übersetzungen von Herta Müller – einer Deutschen! Nobelpreisträgerin! – schafften es in den Druck, denn die iranischen Verlagsvertreter blieben in Teheran und die internationalen Geldgeber und Kulturagenten, wenn sie denn nach Iran kämen, für die höre Iran am Ortsausgangsschild Teheran auf. Dann greift er zur Zigarettenschachtel. »Bitte entschuldigt meinen Unmut«, verabschiedet er sich herzlich und ist zur Tür hinaus. 

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Ein Obst- und Gemüsehändler in einer Straße in Golshahr. Der Fotograf und Kurator Alireza Shahbidak hat das Projekt »Everyday Golshahr« gegründet, um »Geschichten in einer eigenen Sprache erzählen zu können«. Foto: Alireza Shahbidak

Die dunkle Wolke über dem Tisch aber, die bleibt. Reza schaut den Besucher an. »Zugehörigkeit oder Exklusion, das wird nicht ausschließlich zwischen Mehrheit und Minderheit verhandelt. Teheran oder nix – das ist oftmals das Problem im Kulturbereich«, sagt er. Die iranische Gesellschaft ist von großer Vielfalt gekennzeichnet – ethnisch, kulturell, religiös. Spiegelt sich das in unserer westlichen Sicht auf die iranische Kulturlandschaft wider, fragt sich der Besucher. 

Auch Golnar scheint nachdenklich. »Oft geht unser Blick nicht über Teheran hinaus, das stimmt wohl, zumal wenn wir ausländische Medienvertreter oder Kulturschaffende empfangen.« Und sie sei viel zu sehr darin verstrickt, sich und die iranische Gesellschaft zu erklären, sogar in ihrer künstlerischen Arbeit ertappe sie sich dabei. Wie oft müsse sie gegen die vereinfachte Wahrnehmung kämpfen, dass Iran nur aus einem tyrannischen Regime und einer liberalen, urbanen Gesellschaft bestehe. Auch die Kräfte innerhalb des iranischen Machtapparates hätten eine Idee von Nation und Kultur, die von der kosmopolitischen Realität doch längst überholt worden sei. Da reiche doch schon ein Blick auf diesen Tisch: ein Maschhader Künstler afghanischer Herkunft und sie, in ihrem künstlerischen Dasein verwurzelt in Teheran und Kanada. Nun ist es Reza, der es mit einem verständnisvollen Nicken versucht. Dann blickt er mit bitterem Lächeln zum Besucher, der aus dem Westen in den Osten blickt.

Von: 
Florian Bigge

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