Im Gespräch mit zenith schildert Afghanistans jüngste Bürgermeisterin Zarifah Ghafari, wie man mit Putzkolonnen Politik macht und wie die Angst vor der Rückkehr der Taliban sie tagtäglich begleitet
zenith: Frau Ghafari, Sie sind mit 26 Jahren zur Bürgermeisterin der Stadt Maidan Shahr in der Provinz Wardak ernannt worden. Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?
Zarifah Ghafari: Eigentlich möchte ich die Freiheit haben, überall in Afghanistan herumzuspazieren. Ich möchte mich mit jedem unterhalten und jedem zuhören können. Ich liebe romantische Musik, vor allem sehr alte Songs. Ich kann nicht hinterhältig oder falsch sein. Was ich im Äußeren habe, habe ich im Inneren und umgekehrt. Ich liebe es, Klamotten zu kaufen. Meine Mutter sagt mir manchmal: »Du bist Bürgermeisterin und musst besonders vorsichtig sein.« Aber ich sage: »Nach der Arbeit will ich die sein, die ich in Wirklichkeit bin.«
Hatten Sie keine Angst angesichts der unsicheren Lage in der Provinz?
Als mein Wali, also der Provinzgouverneur, mich am Anfang in der Behörde vorstellen sollte, sagte er mir, dass es in der momentanen Situation nicht gut sei, dass eine Frau das Haus verlässt. »Wenn du bei deiner Arbeit hier bei einem Attentat ums Leben kommst, wäre das für uns eine Schande«, sagte er. Aber dann hieß es: »Schauen wir mal!«
Sie wurden im März 2019 zur Bürgermeisterin ernannt. Wie sind Sie den Job angegangen?
Als ich die Arbeit aufnahm, habe ich mir erst einmal angeschaut, wie es um das Bürgermeisteramt bestellt war. Ich habe den Zustand der Behörden ausgewertet und untersucht, wie zufrieden die Bevölkerung mit deren Arbeit ist. Der Grund für den Unmut war mir ja grundsätzlich bewusst: Ein Großteil der Behörde steht unter der Kontrolle einer kleinen Gruppe, etwa vier bis fünf Personen, die für sich in Anspruch nehmen, das Volk zu vertreten. Ich habe dann zunächst versucht, das Vertrauensverhältnis zu verbessern und die Bevölkerung mehr in Entscheidungen einzubeziehen. Die Menschen sollten ihre Meinung in die Lokalpolitik einbringen können.
Wie haben Sie diesen Ansatz in die Praxis umgesetzt?
Als ersten Schritt haben wir einen Bürgerbeirat eingerichtet. In dem Gremium sitzen ein bis zwei Vertreter aus jedem Stadtteil. Sie kommen hier zu Tagungen zusammen und tragen Anliegen aus der Bevölkerung vor. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden? Ja, denn wir konnten wir die Menschen überzeugen, dass wir uns für sie einsetzen und ihr Feedback zur Verbesserung unserer Dienstleistungen ernst nehmen. Wir brauchen die Menschen hier an unserer Seite, um ein Mindestmaß an staatlicher Versorgung gewährleisten zu können. Als wir die Initiative »Grünes und sauberes Maidan Shahr« ins Leben riefen, habe ich selbst Kartoffelschalen vor einem Laden weggeräumt. Das kamen vielen erst mal komisch vor, einige Passanten haben sich sogar drüber lustig gemacht, weil sie das nicht glauben konnten. Wenn ich heute auf dem Markt vorbeischaue, sieht das schon anders aus.
Wie organisiert man mehr Bürgerbeteiligung?
Einige der Dorfältesten aus dem Beirat rufen bei mir durch und erkundigen sich nach der nächsten Sitzung und den Themen auf der Agenda. Oft reicht es, wenn ich auf Facebook eine Sitzung ankündige. Dann erscheinen am nächsten Tag mindestens 20 bis 30 Personen, ohne dass wir Einladungen verschicken müssen.
Wie sehen Sie Ihre Arbeit vor Ort vor dem Hintergrund der Großwetterlage in Afghanistan?
Die fortschrittlichen Systeme dieser Welt entstanden nicht über Nacht. Menschen bauen sie auf. Die ganzen politischen und wirtschaftlichen Probleme, die Afghanistan heute plagen, haben andere Länder schon vorher erlebt. Jede neue Generation hat die Chance, es besser als die vorherige zu machen. Deshalb glaube, dass wir anpacken müssen. Ich habe studiert, mir bieten sich Möglichkeiten. Warum sollte ich die nicht nutzen? Afghanistan ist in dieser misslichen Lage, weil wir uns alle immer nur nach unseren Vorfahren orientierten: Wenn der Vater Bauer ist, wird das Kind auch Bauer. Ich bin eine freie Frau, die arbeiten geht. Das ist doch schon mal was. Natürlich sehen das mindestens hundert andere Frauen, die dann auch so leben und arbeiten wollen.
Wie blicken die Menschen Ihrer Meinung nach auf den Krieg und die Herrschaft der Taliban zurück? Und wie blicken sie in die Zukunft?
Ich kann hier nicht für 36 Millionen Afghaninnen und Afghanen sprechen. Aber ich kann Ihnen sagen, was ich denke: Als ich klein war, hatte mir mein Vater eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte gekauft. Ich hatte eine Bobfrisur wie die der Sängerin Googoosh. Das fand zumindest meine Mutter.
Die iranische Pop-Ikone der 1970er- und -80er-Jahre, die auch in Afghanistan populär war.
Eines Tages war ich mit meiner Mutter zu Besuch bei Bekannten. Ich war vier oder fünf Jahre alt, damals, unter der Herrschaft der Taliban. Als wir aus dem Haus traten, hatte ich mich wohl schlecht benommen. Da sagte meine Mutter zu mir: »Wenn du dich nicht benimmst, rufe ich die Taliban. Du hast eine Hose an und kurze Haare, dann nehmen sie dich mit und schlagen dich.« Natürlich hat meine Mutter das nur gesagt, damit ich mich endlich benehme. Ich hatte dennoch große Angst.
Ist diese Angst geblieben?
Sie ist immer noch da, weil die Lage im Land es nicht zulässt, dass wir keine Angst mehr haben müssen. Der Krieg hat mir die Kindheit genommen, meinen Bruder, meinen Vater, meine Mutter, meine Träume. Und der Krieg hat uns Afghanen unsere Kultur genommen, ebenso die Möglichkeit, uns an unseren Naturschätzen zu erfreuen, den Tausenden schönen Bergen, den Wasserfällen. Überall begleitet einen die Sorge, dass die Taliban oder der »Islamische Staat« einen erwischen.
Denken Sie, dass Sie und Ihre Generation Frieden in Afghanistan erleben werden?
Der Krieg wirkt sich auf sämtliche Bereiche aus, unter anderem auf Bildung, auf Landwirtschaft. Wir haben Angst vor dem, was passieren wird, wenn die USA und die internationale Gemeinschaft Afghanistan verlassen. Dann sind wir auf uns allein gestellt. Und wir haben so viel Zeit mit Krieg vergeudet, die wir zum Ausbau der Infrastruktur hätten nutzen sollen.
Was braucht Afghanistan, um den Weg in eine friedliche Zukunft zu beschreiten?
Meine Generation wurde im Krieg geboren und wird wohl weiterhin im Krieg leben. Eine Generation, die so vom Krieg beeinträchtigt wurde, kann noch nicht genug für Afghanistan tun. Es müssten also eine oder zwei Generationen heranwachsen, die dann das Ruder übernehmen.
Ins Deutsche übersetzt von Hamed Sobhani.
Zarifah Ghafari, 27, befand sich gerade auf Heimaturlaub vom Wirtschaftsstudium in Indien, als sie 2018 an einer Einstiegsprüfung für Beamte teilnahm, die unter Präsident Aschraf Ghani als Grundlage für die Postenvergabe eingeführt worden war. Im März 2019 folgte dann die Ernennung zur Bürgermeisterin von Maidan Shahr, einer Stadt mit 35.000 Einwohnern in Zentralafghanistan, etwa 40 Kilometer südlich von Kabul. In der Provinz Maidan Wardak, in der Maidan Shahr liegt, gehören etwa 70 Prozent verschiedenen paschtunischen Clans an, daneben leben hier größere Minderheiten von Tadschiken und Hazara.