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40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 4

»Nach dem Putsch erlebten die Künste einen Aufschwung«

Interview
40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 4
Lale und David Ezra Okonşar überreichen 1996 dem damaligen türkischen Präsidenten Süleyman Demirel ein Ölporträt.

Zeitzeugen, Journalisten und Forscher schildern in zenith, wie der Putsch vor 40 Jahren die Türkei bis heute prägt. Heute mit dem Künstlerpaar Lale und David Ezra Okonşar und dem Psychologen Gündüz Vassaf.

Lale Okonşar (*1956), Malerin & David Ezra Okonşar (*1961), Pianist und Komponist, Ankara

Lale Okonşar wuchs als Tochter einen Diplomaten in verschiedenen europäischen Städten auf. Nach dem Studium Französischer Literatur in Straßburg wurde sie 1979 Schülerin des Malers Lüftü Günay in Ankara und begann 1983, ihre ersten Gemälde auszustellen. 1988 wurde sie auf der Biennale von Enghien mit einem Preis ausgezeichnet, 1992 mit einem Exponat in die Brüsseler Kunstsammlung aufgenommen. David Ezra studierte in Ankara und Brüssel Klavier und gewann in den 1980er und 1990er Jahren internationale Wettbewerbe in Europa und den USA. 1992 wurde er mit Unterstützung Süleyman Demirels zum Staatskünstler ernannt.

 

zenith: Inwiefern waren Sie am 12. September 1980 vom Putsch betroffen?

David Ezra Okonşar: Lales Vater war Generalkonsul in Essen. Sie wohnte dort, ich in Brüssel. Unsere Väter mussten sich als unpolitische Staatsbeamte lediglich einem Verhör unterziehen. Generell konnten wir nach dem Putsch gerade in den Künsten einen deutlichen Aufschwung bemerken.

 

Erst 1992 kehrten Sie in die Türkei zurück. Was hatte sich in der Zwischenzeit verändert?

DEO: Die Anbindung an einen zentralen Hochschulrat (YÖK) bekam dem Bildungssystem ganz und gar nicht. Das Konservatorium von Ankara war in die Hacettepe-Universität integriert und aus seinem ursprünglichen Gebäude in eine ehemalige Schule verbannt worden. Die hervorragenden Instrumente hatte man teils verkauft, teils durch Abnutzung zugrunde gerichtet. In so einem Betrieb wollte ich mich nicht engagieren und beschloss, auf eine akademische Karriere zu verzichten. Die klassische Musik erholte sich erst gegen Ende der 1980er Jahre vom Evren-Regime und genoss unter Turgut Özal und Süleyman Demirel endlich einen bevorzugten Status. Außerhalb von Istanbul und Ankara wurde viele neue Staatsorchester gegründet, beispielsweise in Adana (1988), Antalya (1989) und Bursa (1995). 1987 hatte man die Besoldung von Staatskünstlern aufgestockt. Zunächst verdiente ich genauso viel wie ein Parlamentsabgeordneter. Gleichwohl sind deren Gehälter gestiegen und unsere auf das Niveau gewöhnlicher Beamter zurückgefallen.

 

Süleyman Demirel war von 1991-1993 Premierminister, von 1993-2000 Staatspräsident. Welche Verbindung unterhielten Sie zu ihm?

DEO: Während der 1970er Jahre arbeitete mein Vater als Finanzexperte für die Regierung. Demirel war über meine Laufbahn informiert. Ohne seine Hilfe hätte man mich nicht zum Staatskünstler gemacht. Das heißt nicht, dass wir seiner Partei nahe standen. Mein Vater war ein sozial-liberaler Ökonom, der bis zu seinem Tod an einen Beitritt der Türkei zur damaligen EWG geglaubt hatte. Die Entourage von Bülent Ecevit dagegen empfand ich als undurchdringlich. In dieser Zeit bestimmten kemalistische Künstlerdynastien die Kultur. Ohne familiäre Beziehungen fiel es mir schwer, mich durchzusetzen.

 

Lale Okonşar: Ich malte 1996 ein Portrait Demirels in Öl, das ich ihm bei der Eröffnung des Kulturzentrums von Antalya im selben Jahr überreichte [siehe Foto].

 

Wie steht es heute um die Künste?

LO: In den 1990er Jahren ging es uns gut. Der entscheidende Wechsel begann 2002, als die Galeristen bei den Vernissagen keinen Alkohol mehr ausschenken durften. Viele Künstler zogen sich in ein inneres Exil zurück. Sie stellen nicht mehr aus und verkaufen ihre Werke über andere Kanäle. Zwangsläufig mussten immer mehr Galerien schließen. Die Kunst ist deswegen in der Öffentlichkeit weniger sichtbar. Das gilt auch für mich: David Ezra und ich arbeiten von zuhause aus.

 

DEO: Man muss hinzufügen, dass Staatskünstler dem Gesetz nach eine gewisse Anzahl von Konzerten und Meisterklassen geben müssten. Solche Verpflichtungen sollte theoretisch das Kultusministerium koordinieren, das sich jedoch in der Praxis nicht kümmert. Özal und Demirel vergleiche ich gerne mit George Pompidou, der 1970 Pierre Boulez nach Paris zurückholte. Sie hatten zumindest eine Vision, was man von den Politikern danach nicht sagen kann. Heute ist die Situation in jeder Hinsicht hoffnungslos. Aber vielleicht brauchen wir das? Die Türkei ist wie ein Phoenix, der sich zyklisch dem Tod zuneigt und am Nullpunkt wieder aufersteht.

 


Gündüz Vassaf (* 1946), Schriftsteller und klinischer Psychologe, Istanbul

Der Sohn eines Psychiaters und Parlamentsabgeordneten wuchs im Umfeld der »Demokrat Parti« um Adnan Menderes auf. Nach dem Studium in Istanbul, Washington und Ankara lehrte er an Universitäten in der Türkei, Deutschland, Kanada und Österreich und war an zahlreichen internationalen Forschungsprojekten beteiligt. Seit den 1980er Jahren tritt er als Schriftsteller und Essayist hervor und ist durch seine gesellschaftskritische Kolumne in der Zeitschrift Radikal ebenso wie die Talkshow »Gerçek orada bir yerde – Die Wahrheit ist da draußen« beim Sender NTV einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Orhan Pamuk nannte ihn den »freiesten Geist türkischer Prosa«.


40. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei – Teil 4
privat

Warum haben Sie nach dem Militärputsch 1980 Ihren Lehrauftrag an der Boğaziçi Üniversitesi gekündigt?

Unter den neuen Bedingungen wollte ich nicht weitermachen. Mit dem Hochschulgesetz Nr. 2547 der neuen Verfassung wurde die Autonomie der Akademien de facto abgeschafft.

 

Was änderte sich durch das Gesetz?

Die Umwandlung, die 1981 zur Gründung des Hochschulrats (YÖK) führte, unterwarf alle Universitäten einer zentralen Behörde. Bis dahin herrschte eine intellektuelle und kreative Dynamik, die es jeder Fakultät erlaubte, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Diese Freiheit wird heute durch strenge Auflagen (beispielswiese die Achtung vor dem »Türkentum«) eingedämmt. Nicht zuletzt werden die Rektoren von Ankara aus bestimmt. In seiner neuen Rolle als Wächter der staatlichen Doktrin hat sich der durchschnittliche türkische Akademiker mit einer Art Beamtendasein arrangiert, das vor allem Konservatismus, Nationalismus und Faulenzertum fördert.

 

Inwiefern waren Sie von dem Gesetz betroffen?

Anders als beispielsweise Soziologen bekamen wir in der Psychologie die Auswirkungen weniger zu spüren. Einmal, in einer Umfrage, an der ich beteiligt war, hat jemand als Muttersprache Kurdisch angegeben, was eine Untersuchung nach sich zog.

 

Wie reagierte die Öffentlichkeit?

Nicht gänzlich ablehnend. Bekanntermaßen herrschte ja nach jahrelangen Zusammenstößen zwischen Links und Rechts zum ersten Mal Frieden. An den Universitäten wurde das Kontingent erhöht, so zog auch die Straßenjugend (anstatt sich zu radikalisieren) auf dem Campus ein. Das Militär mag sie so leichter überwacht haben. Jedoch sahen die Betroffenen und ihre Angehörigen in diesem Angebot einen Fortschritt: Schließlich wollten alle dasselbe, eine gesicherte Zukunft.

 

Was würden Sie der Türkei heute empfehlen?

Das Spiel nicht mehr mitzuspielen. Und das gilt nicht allein für die Türkei, sondern für die ganze Welt. In NS-Deutschland gab es jene, die glaubten, dass sie mehr bewirken, wenn sie bleiben. In Wirklichkeit hat jeder einzelne damit das System am Leben gehalten. Ich spreche nicht von einer Revolution oder einem Generalstreik, aber die Corona-Krise macht es uns vor: Was wäre, wenn einfach niemand mehr zur Arbeit ginge, wenn wir aufhörten, unsere Freiheit für Konsum und staatlich kontrollierte Massenmedien aufzugeben?

Von: 
Stefan Pohlit

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