Lesezeit: 17 Minuten
1979 - Ein Jahr verändert die Welt

»Es ist eine neue Zeit!«

Analyse
1979 - Ein Jahr verändert die Welt

Wie heute nehmen die Deutschen 1979 großen Anteil an den dramatischen weltpolitischen Umbrüchen. Politiker, Medien und viele Bürger wollen nicht nur zuschauen, sondern sich einmischen.

Gestürzte Monarchen, steigende Benzinpreise: Das Jahr 1979 hat die Redaktion der Bild-Zeitung offenbar ziemlich mitgenommen. »Müssen wir jetzt alle Moslems werden?«, fragt die Bild beinahe verzweifelt auf ihrer Titelseite wenige Tage vor Jahresende. Genauer gesagt, lässt sie fragen, denn auch bei der Zeitung mit den großen Buchstaben gilt es, auf das Kleingedruckte zu achten.

 

Also, der Richtigkeit halber: Die Bild zitiert Karl Klasen, den ehemaligen Chef der Bundesbank, der in einem Gastbeitrag fragt: »Müssen wir eines Tages alle Moslems werden, wenn wir weiter von den Scheichs Öl haben wollen?« Daneben eine Fotomontage – Bundeskanzler Helmut Schmidt mit der Kuffiya, der aus vielen arabischen Ländern bekannten Kopfbedeckung.

 

Allzu oft schafft es der deutsche Regierungschef im Vorwahljahr 1979 übrigens nicht auf den Titel der auflagenstärksten deutschen Tageszeitung. Der Kanzler und die Innenpolitik bieten nicht so viele Dramen wie das Schicksal eines anderen Mannes, das die Bild beinahe obsessiv begleitet: Schah Mohammad Reza Pahlavi.

 

Von seiner Flucht aus Iran im Januar über seine Odyssee auf der Suche nach einem Exil (»Kein Land will den Schah«) bis zu seinem Kampf mit dem Krebs – mehr als 50 Mal findet sich der Schah mit Foto oder großer Überschrift auf der Titelseite. Eine Leidensgeschichte, wie gemacht für die große Boulevard-Zeitung.

 

Der Bundeskanzler ist sich sicher: »Die Ayatollahs können das Land nicht ewig regieren«

 

Für andere ist 1979 dagegen ein Jahr des Aufbruchs. Klaus Thüsing sitzt als Abgeordneter für die SPD im Bonner Bundestag. Am 1. Februar erhält er in den frühen Morgenstunden einen Anruf: »Klaus, du glaubst nicht, was passiert«, teilt ihm seine Büroleiterin aufgeregt mit. »Khomeini kehrt zurück nach Iran. Es ist eine neue Zeit!«

 

Wenn Thüsing heute mit 78 Jahren über seine Begeisterung für die Revolution in Iran spricht, fällt häufig das Wort »naiv«. »Damals waren wir noch voller Hoffnung, dass die Revolution sich in die richtige Richtung entwickelt – naiverweise«, erzählt der Sauerländer. Der überzeugte Linke sieht aber keinen Anlass, seine Haltung zu bereuen. »So war die Situation damals. Wir waren begeistert: endlich einmal eine Revolution in einem Land, das Geld hat. Und, das sage ich auch heute noch, alles war besser als das Schah-Regime«.

 

Thüsings Entschluss steht schnell fest. Er will möglichst bald nach Iran reisen. Erste Kontakte gibt es bereits. Der Khomeini-Vertraute Sadegh Ghotbzadeh hat ihn vor Monaten kontaktiert; laut Thüsing, um zu erörtern, ob der Ayatollah auch in Deutschland Unterschlupf finden könne, wenn es in seinem französischen Exil zu heikel werden sollte.

 

Zwei deutsche Diplomaten sind als Botschafter in arabischen Staaten stationiert, als sie von der iranischen Revolution erfahren, Reinhard Schlagintweit im saudischen Dschidda, Heinz-Dieter Winter in Damaskus. Schlagintweit vertritt die BRD, Winter die DDR. Der ostdeutsche Diplomat, der später stellvertretender Außenminister der DDR werden sollte, teilte zenith mit: »Mit dem Umsturz in Iran wurden unmittelbar nach dem Ereignis eher Hoffnungen verbunden, zumal die kommunistische Tudeh-Partei am Sturz des Schahs beteiligt war. Zu dem Botschafter der Islamischen Republik in Damaskus hatte ich einen guten Kontakt. Auch er erwartete eine Verstärkung der Beziehungen, vor allem auch auf wirtschaftlichem Gebiet.«

 

Schlagintweit ist entsetzt. Er habe nie damit gerechnet, dass die saudische Armee so viele Menschen im eigenen Land töten würde

 

Schlagintweit ist 2018 90 Jahre alt. Manche Erinnerung ist verblasst, andere Erlebnisse aus seiner Zeit in Saudi-Arabien hat er noch lebhaft vor Augen. Kurz nach dem Gespräch mit zenith über 1979 ist er im Oktober gestorben. Wenn er außer Dienst war, unternahm er häufig Ausflüge in die Wüste oder in die Sommerfrische nach Ta’if.

 

Immer mit dabei: seine Kamera. Mit der machte er Aufnahmen, die den Alltag in einem Land zeigen, das am Beginn eines rasanten Wandels stand. »Einmal stießen wir auf eine Gruppe Saudis, die gerade beteten«, erzählt Schlagintweit. »Ein junger Mann forderte mich auf: ›Sprechen Sie mir nach: Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet. Sonst schlage ich Sie tot.‹

 

Die Situation löste sich dann aber friedlich auf – die Menschen in Saudi-Arabien hatten einfach noch überhaupt keine Erfahrung im Umgang mit Ausländern.« Die Revolution in Iran hatte, so seine Erinnerung vierzig Jahre später, keine Auswirkungen auf sein »normales Diplomatenleben «. Später sollte er aber noch zu tun bekommen mit dem iranischen Regime – als er in einer heiklen Affäre zwischen der BRD und der Islamischen Republik vermitteln muss.

 

Der Bundeskanzler erfährt auf Mallorca vom sowjetischen Einmarsch in Afghanistan

 

Die Bundesregierung in Bonn ist in den ersten Monaten des Jahres vor allem froh, dass ihre schlimmsten Ängste nicht eintreffen: Die Revolution in Iran ist in der Anfangszeit nicht so blutig wie befürchtet. »Wie man Khomeini bewerten sollte, war damals völlig unklar«, sagt der Potsdamer Historiker Frank Bösch. »Viele trauten ihm wenig zu, sahen ihn als Übergangslösung. Helmut Schmidt sagte wörtlich: ›Die Ayatollahs können das Land nicht ewig regieren.‹ Man gab Khomeini im Prinzip ein paar Jahre und glaubte, dass der Spuk dann vorbei sei.«

 

Bösch hat sich ausführlich mit den weltpolitischen Umbrüchen des Jahres 1979 beschäftigt. Sein Buch »Zeitenwende 1979. Die Welt am Beginn unserer Gegenwart« erscheint im Januar 2019. Man dürfe nicht vergessen, sagt Bösch, dass Iran noch 1978, bevor die Proteste begannen, der größte Öllieferant der Bundesrepublik war und auch sonst ein geschätzter Geschäftspartner. Die sozialliberale Regierung knüpft also schnell erste diplomatische Kontakte zu den neuen Machthabern in Teheran und sieht ansonsten keinen großen Handlungsdruck.

 

Die Kommunisten in Polen fürchten den Papst und den »Khomeini-Effekt«

 

Vorsichtiges Abtasten ist auch die Devise der deutschen Außenpolitik, wenn es um den Nahost-Konflikt geht. Im Prinzip gilt das für beide deutsche Staaten, wenn auch die Vorzeichen unterschiedlich sind: Die DDR beurteilt den Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten, der im März in Washington unterzeichnet wird, negativ.

 

»Wir waren in dieser Hinsicht einverstanden mit der Ablehnung durch die Mehrheit der arabischen Staaten. Für die Lösung des Nahostproblems sahen wir darin keinen Fortschritt«, so der ehemalige Diplomat Winter. »Wir haben aber nach Möglichkeit vermieden, Ägypten offiziell zu verurteilen, um die bilateralen Beziehungen nicht zu belasten.«

 

Für die Außenpolitiker in Bonn ist der Friedensvertrag dagegen grundsätzlich ein Schritt nach vorn. Viele Abgeordnete der Regierungsparteien SPD und FDP halten ihn aber für unvollständig, solange die Palästinenser nicht miteinbezogen werden. Sie suchen, von der Regierung durchaus mit Wohlwollen begleitet, den Kontakt zur PLO.

 

Ganz vorne mit dabei auch hier Klaus Thüsing von der SPD. 1967/68, damals war seine politische Heimat noch die Junge Union, hatte er ein Jahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem studiert. »Ich habe erlebt, wie Israel nach dem Sechstagekrieg zur Besatzungsmacht wurde.« Seither ist Thüsing zu einem scharfen Kritiker der israelischen Regierung geworden. 1979 kann er es kaum erwarten, »einmal im Leben schneller zu sein als Möllemann«. Im April trifft er den PLO-Chef Yassir Arafat in Beirut.

 

Er ist bei Weitem nicht der einzige westdeutsche Politiker, der Kontakte mit der PLO-Führung pflegt. Vor allem Hans-Jürgen Wischnewski, Spitzname »Ben Wisch«, seinerzeit Staatsminister im Bundeskanzleramt, trifft sich regelmäßig mit Vertretern der palästinensischen Organisation.

 

Doch so intensiv der Austausch ist, er bleibt inoffiziell. Bundeskanzler Schmidt stellt klar: »Es bleibt dabei: Eine Anerkennung der PLO als rechtmäßige Vertretung des palästinensischen Volkes kommt für uns so lange überhaupt nicht infrage, wie die PLO nicht bereit ist, das Existenzrecht Israels in gesicherten Grenzen anzuerkennen.«

 

Der sensible Umgang mit Israel ist ohne den Blick auf die Vergangenheit nicht zu denken. So intensiv wie nie zuvor beschäftigen sich die Deutschen 1979 mit der eigenen Geschichte, mit den eigenen Verbrechen. Sebastian Haffners »Anmerkungen zu Hitler«, 1978 erschienen, ist auch im Folgejahr eines der meistgelesenen Sachbücher in der BRD. Im Mai kommt Volker Schlöndorffs Verfilmung der »Blechtrommel« von Günter Grass in die Kinos.

 

20 Millionen Deutsche verfolgen an vier Tagen im Januar die Geschichte der fiktiven jüdischen Arztfamilie Weiß

 

Vor allem aber ist es eine Fernsehserie, die verantwortlich dafür ist, dass sich weite Teile der Bevölkerung mit dem Völkermord an den Juden beschäftigen: »Holocaust«. 20 Millionen Deutsche verfolgen an vier Tagen im Januar die Geschichte der fiktiven jüdischen Arztfamilie Weiß in den dritten Programmen der ARD. Bei den Sendern gehen 30.000 Anrufe von Zuschauern ein. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt Holocaust 1979 zum Wort des Jahres, auf den Plätzen zwei und drei folgen »Boat People« und »Nachrüstung«.

 

Im März blickt Fernsehdeutschland nach Israel. In Jerusalem findet der »Grand Prix Eurovision de la Chanson« statt. Deutschland hofft nach mehreren mageren Jahren mal wieder auf einen der vorderen Plätze; mit einem neuen Auswahlverfahren und einer eigens für diesen Anlass gegründeten Band: Dschingis Khan. Deren gleichnamiger Wettbewerbstitel könnte jedoch in Israel falsch verstanden werden, befürchten Kritiker: als das »hohe Lied auf den starken Mann«.

 

Der Spiegel schreibt, tatsächlich könne »der alte Mongole, selbst im Disco-Sound und mit Kasatschok-Gehopse, ganz gewisse Erinnerungen an deutsche Hunnen-Taten wecken. Dschingis Khan metzelte sich das größte Weltreich aller Zeiten zusammen, schickte seine Reiterhorden auf Blitzkriege und hinterließ verbrannte Erde.« Komponist Ralph Siegel wittert negative Stimmungsmache und hat am Ende den Erfolg auf seiner Seite. »Dschingis Khan« landet auf Platz vier und aus Israel gibt es immerhin sechs Punkte.

 

»Dschingis Khan« landet auf Platz vier und aus Israel gibt es immerhin sechs Punkte

 

Dass leichte Unterhaltung nicht vor politischer Empörung schützt, erlebt auch Rudi Carrell. In seiner Erfolgsshow »Am laufenden Band« witzelt er im November, dass Muslime, die nach Mekka beteten, doch eigentlich nur Khomeinis Kontaktlinsen suchten. Es gibt Proteste und die Bild-Zeitung titelt: »Moslems wollen Carrells Sender stürmen.« Ein allzu großer Aufreger ist das damals nicht, wohl aber ein Vorbote für den diplomatischen Eklat, den der Showmaster acht Jahre später auslösen sollte.

 

Im Februar 1987 zeigt er in »Rudis Tagesshow« eine Videomontage, in der Khomeini von verschleierten Iranerinnen mit Büstenhaltern beworfen wird. Kurz darauf klingelt das Telefon bei Reinhard Schlagintweit, damals in Bonn Beauftragter des Auswärtigen Amtes für den Mittleren Osten. Am Apparat ist der iranische Botschafter Mohammad Djavad Salari. Er verlangt eine offizielle Entschuldigung der Bundesregierung für die »Verletzung der Gefühle des iranischen Volkes«.

 

Carrell entschuldigt sich zwar persönlich, das Auswärtige Amt will aber keine Verantwortung für die Handlung Dritter übernehmen. Der iranischen Führung reicht dies nicht, sie erklärt zwei deutsche Diplomaten zu unerwünschten Personen, schließt ihre Generalkonsulate in Frankfurt und Hamburg und streicht Linienflüge der staatlichen Iran Air. In Teheran muss das Goethe-Institut schließen.

 

Im Frühjahr 1979 berichten deutsche Zeitungen verstärkt über Hinrichtungen in Iran und Exzesse der Revolutionsgerichte. Das Auswärtige Amt zeigt sich besorgt. Dennoch herrscht in Kreisen der Linken weiterhin Sympathie für die Islamische Revolution. Im Juni reist der SPDler Klaus Thüsing gemeinsam mit seinen Fraktionskollegen Norbert Gansel und Manfred Coppik für acht Tage nach Iran – ihre Fraktion informieren sie vorab nicht.

 

In der Zeitschrift konkret schreibt Thüsing kurz darauf, dass das Tragen des Tschadors »zu einem Symbol des Widerstandes und der eigenen nationalen und kulturellen Würde« geworden sei. Thüsing heute: »Wir haben naiverweise den totalitären Anspruch dieser religiösen Bewegung unterschätzt. Wir hätten uns intensiver mit der Ideologie von Khomeini beschäftigen müssen.«

 

Sein Kollege Gansel berichtet in der Zeit ausführlich über die Erfahrungen auf der Reise. Auch hier viel grundsätzliches Verständnis für die Revolution, gepaart aber mit Kritik an Menschenrechtsverletzungen. »Wir haben dem stellvertretenden Innenminister ein Protestschreiben von Amnesty International gegen die Exekutionen überreicht. Es wurde entgegengenommen, aber nicht verstanden.« Einen Kommentar kann sich Gansel, der im Bundestag seit Langem deutsche Waffenexporte anprangert, nicht verkneifen: »Exekutiert wird mit Gewehren aus deutscher Lizenz.«

 

Nach der Rückkehr gibt es Ärger. Der Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion spricht den drei Parlamentariern eine offizielle Rüge aus, Fraktionschef Herbert Wehner hält es nicht einmal für notwendig, die Abgeordneten anzuhören. »Wehner hat sich fürchterlich aufgeregt«, erzählt Thüsing. Politische Inhalte seien zweitrangig gewesen, »aber wenn Wehner etwas nicht leiden konnte, war es, dass Abgeordnete etwas ohne sein Wissen und seine Billigung unternahmen«.

 

Bei einer weiteren Iran-Reise gut ein Jahr später erlebt Thüsing, »dass immer mehr Limousinen mit verdunkelten Scheiben unterwegs waren. Der Geheimdienst war zurück, die Repressionen nahmen zu«. Auf einer Pressekonferenz in Deutschland kritisiert er die Entwicklungen. Per Telegramm teilt die iranische Führung dem »Bruder Thüsing« daraufhin mit, dass man enttäuscht sei: »Wir beten dafür, dass du wieder zur richtigen Auffassung zurückkehrst.« »Das war das Letzte, was ich von der iranischen Regierung gehört habe.«

 

Die Kommunisten in Polen fürchten den Papst und den »Khomeini-Effekt«

 

Im Nahen Osten ist 1979 ein Jahr epochaler Umbrüche, in Deutschland mehren sich Anzeichen des Wandels und eine ausgeprägte Krisenstimmung. Das erlebt auch der Historiker Bösch, damals als Neunjähriger: »Das Jahr 1979 begann mit einem besonders kalten Winter. Die Bundeswehr musste in Schleswig-Holstein und Niedersachsen einrücken, um Fahrzeuge von den Autobahnen zu befreien. In vielen Dörfern fiel der Strom aus. Das war für mich die prägende Erinnerung: der hohe Schnee und gleichzeitig die hohen Heizkosten. Öl erschien unsicher, viele Nachbarn entschieden sich, auf Gas umzusteigen.«

 

Die Zeit sei gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Ängsten, sagt Bösch: »Angst vor dem Atomkrieg, vor einem zweiten Kalten Krieg, in dem die Sowjetunion wieder eine ganz neue Bedrohung entfaltet, Angst vor der Zerstörung der Umwelt und vor der Atomkraft, die Sorge, künftig nicht genug Öl zu haben.« Dieser Krisendiskurs beschleunigt politische Entwicklungen.

 

Eine neue Generation von Politikern strebt in die Parlamente: allen voran die Grünen. Der Bremer Grünen Liste gelingt im Oktober der Einzug in die Bürgerschaft. Zum ersten Mal wird damit eine grüne Partei in ein Landesparlament gewählt. Im November wird beschlossen, eine grüne Partei auf Bundesebene zu gründen. Bei der SPD schickt sich der Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder an, im kommenden Jahr in den Bundestag gewählt zu werden.

 

In den westdeutschen Bestsellerlisten finden sich Romane und Erzählungen von Siegfried Lenz, Günter Grass und Heinrich Böll neben allerlei Trivialem wieder, die Charts werden vom Disco-Sound dominiert. Fußball-Deutschland leidet an und mit der Nationalmannschaft. Dem 1978 installierten Bundestrainer Jupp Derwall wird zwar attestiert, dass seine Frisur gut sitzt, nach torlosen Unentschieden gegen Malta und die Türkei muss er aber mit dem Vorwurf von Gerd Müller leben, dass er »Taktik für eine jugoslawische Grillspezialität hält«.

 

In der DDR gewinnt der 1. FC Magdeburg den FDGB-Pokal im Stadion der Weltjugend gegen den Berliner FC Dynamo, der den Oberliga-Titel holt. Im Westen wird der Hamburger SV Deutscher Meister. Großer Star im Team ist der Engländer Kevin Keegan. Auch das ruft die Gesellschaft für deutsche Sprache auf den Plan. Sie hat herausgefunden, dass seinetwegen immer mehr deutsche Eltern ihren Sohn beim Standesamt unter dem Namen Kevin anmelden. Ansonsten stehen Christian und Jan bei Jungen, Stefanie und Sandra bei neugeborenen Mädchen hoch im Kurs.

 

Was 1979 aber zur Zeitenwende auch in Deutschland macht, ist laut dem Historiker Bösch die intensive Begegnung mit der außereuropäischen Welt. Weit entfernte Länder wie Nicaragua und Afghanistan stehen plötzlich im Rampenlicht, die wirtschaftliche Öffnung Chinas beginnt. Die Deutschen sind dank der Satellitentechnik am Fernseher dabei, wenn Geschichte gemacht wird.

 

Sie schauen zu, wie Khomeini in Teheran zu den Massen spricht. Der Islam wird zum Thema, aber auch das Christentum tritt mit einer neuen Mischung aus öffentlicher Darstellung, Charisma und Politisierung in Erscheinung. Dafür steht die Befreiungstheologie in Lateinamerika, mehr noch aber der junge, 1978 gewählte Papst Johannes Paul II.

 

Über Pfingsten reist er in sein Heimatland Polen. Das Politbüro der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei befürchtete schon vorher einen »Khomeini-Effekt«. Mehr als zehn Millionen Polen erleben den Papst dann auf der neuntägigen Reise live. Er wird zum Symbol des Widerstands gegen die kommunistischen Machthaber.

 

Die deutsche Bevölkerung ist bewegt von den umstürzenden Ereignissen in aller Welt. Viele Menschen wollen Geschichte nicht nur am Fernseher konsumieren, sondern den Lauf der Welt mitgestalten. In Ost und West gewinnen kirchliche Friedensgruppen Zulauf, Unterstützervereine für Nicaragua werden gegründet. Und es kommt zur ersten großen Flüchtlingsbewegung aus einer außereuropäischen Region nach Deutschland, begleitet von einer ausgeprägten »Willkommenskultur«.

 

»Es kamen mehr Spenden, mehr Sachgeschenke, mehr Adoptionsanträge, als überhaupt umgesetzt werden konnten«, sagt Bösch. Die Flüchtlinge sind die »Boat People«, Menschen, die aus Vietnam und Kambodscha fliehen – auf maroden Schiffen, die drohen, im Südchinesischen Meer unterzugehen. Die Bundesrepublik nimmt Ende der 1970er, Anfang der 1980er rund 38.000 von ihnen auf.

 

Auf die Willkommenskultur folgt die Kampagne gegen »Wirtschaftsasylanten«

 

Auffällig ist, dass die Medien als Akteure der Flüchtlingshilfe auftreten. Die Zeit startet eine eigene Spendenaktion und fliegt Flüchtlinge aus Indochina ein. Der Deutschlandfunk-Redakteur Rupert Neudeck gründet 1979 die Hilfsorganisation »Ein Schiff für Vietnam« und chartert den Frachter »Cap Anamur« – der fast 10.000 Menschen aus dem Südchinesischen Meer aufnimmt. Finanziert wird die Aktion fast ausschließlich aus privaten Spenden.

 

Auffällig ist auch, dass es zunächst vor allem christdemokratische Politiker sind, die sich für die Aufnahme der »Boat People« einsetzen und die sozialliberale Bundesregierung vor sich hertreiben. Ernst Albrecht, der damalige niedersächsische Ministerpräsident, ist besonders aktiv.

 

Um 250 Flüchtlinge aus einem »Vietnamesenlager« an den Main zu holen, schickt der Frankfurter Oberbürgermeister Walter Wallmann seinen Magistratsdirektor nach Hongkong. Sein Name: Alexander Gauland. Den besonderen Einsatz der CDU-Politiker erklärt der Historiker Bösch mit mehreren Gründen: Viele von ihnen sind selbst Vertriebene aus den vormals deutschen Ostgebieten, dann fliehen die »Boat People« vor kommunistischen Machthabern und sie gelten als fleißig und gut integrierbar.

 

Die Willkommenskultur des Jahres 1979 hat aber Grenzen. Schnell gewinnt der Diskurs der Angst die Oberhand. Frank Bösch: »Die Stimmung kippt, weil gleichzeitig die Zahl der Asylbewerber aus anderen Ländern, insbesondere aus der Türkei und aus Polen, stark ansteigt, weil sich die Zahl der Migranten in Deutschland um 1980 durch den Familiennachzug deutlich erhöht hat, sie kippt auch im Bundestagswahlkampf, der von Franz-Josef Strauß geführt wird und erstmalig den Begriff ›Wirtschaftsasylant‹ aufbringt.«

 

Die wohl größten Ängste sind 1979 mit dem Thema Energie verknüpft. Infolge der Revolution in Iran steigt der Preis für Rohöl auf neue Rekordwerte und mit ihm die Kosten für Benzin und Heizöl. Während der ersten Ölkrise 1973 hatte die Bundesregierung noch vier autofreie Sonntage verordnet, jetzt verzichtet sie auf ähnliche Maßnahmen, aber die Lage ist dramatisch, die Sorgen vor einem Abschwung der Wirtschaft sind berechtigt.

 

Dazu kommt das große Streitthema Atomkraft. Umstrittene Projekte wie der Bau des »Schnellen Brüters« im niederrheinischen Kalkar und die geplante Wiederaufbereitungsanlage nebst atomarem Entsorgungszentrum in Gorleben rufen erheblichen Widerstand hervor. Im März ist in Niedersachsen ein Demonstrationszug über mehrere Tage geplant, vom Wendland bis in die Landeshauptstadt Hannover. Der sogenannte Gorleben-Treck ist bereits unterwegs, da schlägt eine Schock-Nachricht aus den USA ein.

 

Plötzlich wirkt die Angst vor der Atomkatastrophe real

 

Im Kernkraftwerk Three Mile Island in Pennsylvania nahe der Stadt Harrisburg ist es in einem Reaktor zur partiellen Kernschmelze gekommen. Die Angst vor der Atomkatastrophe wirkt plötzlich real. Zur Abschlusskundgebung der Atomkraftgegner in Hannover kommen 100.000 Menschen, wenn man den Veranstaltern glaubt, die Polizei spricht von 50.000 Teilnehmern.

 

Auf all diese Ängste trifft im November 1979 die Nachricht von der Besetzung der Großen Moschee in Mekka, im Erdölland Saudi-Arabien. Der Botschafter der BRD, Reinhard Schlagintweit, ist entsetzt. Er habe nie damit gerechnet, dass die saudische Armee so viele Menschen im eigenen Land töten würde, sagt er. Allzu viel erfährt auch er damals nicht auf direktem Wege. »Nach Mekka kamen wir nicht rein.«

 

40 Jahre später sind es eher einzelne Eindrücke, an die er sich erinnern konnte. Eindrücke von einem Land, in dem einige durch das Öl sehr reich geworden sind. »Wenn die riesigen Straßenkreuzer eine Panne hatten, wurden sie einfach am Straßenrand stehen gelassen. An eine Reparatur wurde nicht gedacht, es war einfacher, ein neues Auto zu kaufen.« Andererseits bleibt das Land konservativ und in vieler Hinsicht verschlossen. »Ich habe in den ganzen Jahren im Land keine einzige saudische Frau kennengelernt«, erzählte Schlagintweit.

 

Der DDR-Diplomat Heinz-Dieter Winter sieht in der Besetzung der Moschee ein einschneidendes Ereignis, auch wenn seine Regierung damals nicht offiziell Stellung bezieht. Er persönlich, so Winter, habe »es schon damals für wichtig gehalten, sich stärker mit dem Problem des Islamismus zu befassen«. Die Einschätzung überschneidet sich mit einem düsteren Szenario, das der Spiegel entwirft. Das Hamburger Magazin zitiert dabei die ägyptische Zeitung El Ahrar: »Die Ereignisse in Saudi-Arabien sind das Vorspiel für einen langen Kampf. Sie werden sich bald wiederholen.«

 

Es ist diese Atmosphäre, die die Bild-Zeitung gegen Ende des Jahres verzweifeln und fragen lässt, ob die Islamisierung des Abendlandes der einzige Weg zu günstigem Öl sei. Aber noch ist das lange Jahr 1979 nicht zu Ende: Am 25. Dezember marschiert die sowjetische Armee in Afghanistan ein. Die Führung der DDR hatte zwar vorher schon einige Hinweise bekommen. Aber offiziell wird das Außenministerium in Ost-Berlin erst einen Tag vor der Invasion informiert, berichtet Heinz-Dieter Winter.

 

Den Bundeskanzler erreicht die Meldung in seinem Weihnachtsurlaub auf Mallorca: Helmut Schmidt will Gelassenheit demonstrieren – seinen Urlaub bricht er nicht ab. Aber es  ibt ein Problem: Die Neujahrsansprache ist bereits aufgezeichnet. Also lässt Schmidt ein Kamerateam nach Mallorca einfliegen: Auf den Einmarsch in Afghanistan geht er dennoch nicht direkt ein. Eher allgemein zeigt er sich beunruhigt über das Vorgehen der Sowjetunion in Afrika und Asien. Seine Hoffnung deckt sich durchaus mit der der Führung in Moskau: dass dieser militärische Einsatz von begrenzter Dauer sein wird.

Von: 
Moritz Behrendt

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.