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Wenn die Schlange anfängt, ihren Wirt zu beißen

Wenn die Schlange anfängt, ihren Wirt zu beißen

Analyse

Für das Wuchern des »Islamischen Staates« (IS) wird die Türkei mitverantwortlich gemacht – zurecht. Dennoch sollte man Fairness walten lassen. Das Land hat viel zu verlieren und trägt auch eine große Last des Syrienkriegs.

Seit die Organisation, die sich »Islamischer Staat« (IS) nennt, im Nahen Osten ihr Unwesen treibt, steht auch die Türkei mit auf der Liste der Verdächtigen. Obwohl sich die Ankläger noch nicht über das Ausmaß der Schuld einig sind: War die türkische Regierung ein Mitwisser oder gar ursprünglich ein Drahtzieher von IS? Auf den Vorwurf der Nichtvereitelung einer Straftat können sich die meisten einigen. Und vor dem Hintergrund des ohrenbetäubenden Schweigens, das aus Ankara dröhnte, nahm die Kritik zu.

 

Die westlichen Nato-Partner schonten die Türken allerdings sehr auffällig, und dafür gibt es triftige Gründe. Recep Tayyip Erdogan und sein Nachfolger Ahmet Davutoglu hatten sich früh für den militärischen Sturz des Assad-Regimes in Damaskus als politische Option entschieden. Sie wollten diesen Kampf um jeden Preis gewinnen – ganz gleich, mit wessen Unterstützung. Auch die Vortäuschung sogenannter Grenzzwischenfälle mit den Assad-Truppen schien da ein probates Mittel.

 

Erinnern wir uns daran, dass gemäßigte FSA-Rebellen in Aleppo noch vor wenigen Monaten sagten, die Welt habe sie aufgegeben. Nur auf die Türken könne man sich noch verlasen. Ankara wollte aber zugleich verhindern, dass die kurdische PKK und ihr syrischer Ableger PYD dabei an Einfluss gewinnen. Die PYD wiederum hatte ihren Burgfrieden mit dem Assad-Regime geschlossen und verteidigte den kurdischen Nordosten Syriens gegen dschihadistische Milizen aller Art, auch solche, die heute mit IS verfeindet sind.

 

Ankara scheint sich längst damit abgefunden zu haben, dass im Norden des Irak ein unabhängiger kurdischer Staat entsteht. Die Türken machen mit Erbil auch ausgezeichnete Geschäfte. Gleichzeitig fürchten sie sich vor den grenzübergreifenden Bestrebungen der PKK – und von einem Feind, den man seit Jahrzehnten bekämpft, lässt man ohnehin nicht einfach ab. Was die Finanzierung von IS und den Schmuggel mit Rohstoffen wie Öl betrifft, so kann als gesichert gelten, dass eingespielte Mafia-Netzwerke daran mitverdienen. Organisierte Kriminalität wuchert in der Türkei seit langem – zu Beginn des Krieges in Syrien wurden dort schon ganze Fabriken demontiert und als Diebesgut nach Anatolien verschleppt.

 

Auf welchen Deal mit IS hat sich die Türkei für die Freilassung der 49 Geiseln eingelassen?

 

Was aber nun den türkischen Staat anbelangt, so verhält es sich mit den Beziehungen zu IS ähnlich wie mit denen Saudi-Arabiens, Katars oder Kuwaits: Es kursieren viele Anschuldigungen, es gibt einige konkrete Indizien, manche Beobachtungen, plausible Interpretationen und vor allem: Fragen. Die erste ist: Hat die Regierung Erdogan wirklich die Kontrolle über die Aktivitäten ihrer Geheimdienste und sind diese überhaupt in der Lage, alles zu steuern und zu kontrollieren, was an der Südgrenze geschieht?

 

Die zweite: Hat sie beim Grenzverkehr und der Rekrutierung von IS ein Auge zugedrückt, um ihre eigenen Interessen nicht zu gefährden? Etwa aus Angst vor Anschlägen auf türkischem Boden? Wollte die Türkei schlichtweg verhindern, dass die Schlange, die sie sich zunächst selbst ins Haus geholt hat, nun ihren eigenen Wirt beißt? Die türkischen Geheimdienste haben schließlich Erfahrungen mit dschihadistischen Umtrieben, denn sie selbst haben solche Gruppierungen früher einmal in der Osttürkei aufgebaut, um die PKK zu schädigen.

 

Viele Beobachter meinen: Ankara hat sich bislang in IS-Fragen zurückgehalten, um das Leben von 49 Geiseln nicht zu gefährden, die sich unter ungeklärten Umständen in der irakischen Staat Mossul in IS-Gefangenschaft befanden. Diese Geiseln sind seit einigen Tagen wieder frei: Es wird spekuliert, dass die Türkei dafür im Gegenzug die Freilassung von IS-Kämpfern aus Gefangenschaft der Freien Syrischen Armee erwirkt habe. Aber so billig verkauft sich IS sicher nicht. Was auch immer die Türken dafür gegeben haben: Es wird deutlich mehr gewesen sein.

 

Im AKP-Umfeld buhlen obskure sunnitische Erweckungsbewegungen um Einfluss

 

Innenpolitisch erweckt die AKP-Führung in der Türkei den Eindruck, als könne sie kaum laufen vor Muskeln. Sie sitzt fest im Sattel und sieht sich durch Wahlergebnisse in ihrer Autorität bestätigt. Sogar Kurden in Ostanatolien hat die AKP als Wählerpotenzial entdeckt und dafür in den wirtschaftlichen Aufschwung und die Grundversorgung investiert. Aber auch die Fliehkräfte sind enorm: Korruptionsskandale, der schmutzige Kampf gegen die Gülen-Bewegung und die Unterdrückung kritischer Journalisten sind Ausdruck dieser Nervosität.

 

Ein anderer, in der Öffentlichkeit kaum bekannter Aspekt, scheint hier aber erwähnenswert: Im AKP-Umfeld gehen nämlich obskure sunnitische Erweckungsbewegungen um. Fromme, vom romantischen Ideal einer sunnitischen Führungsmacht Türkei bewegte Männer, die weder arm noch ungebildet sind. Hass auf heterodoxe Gruppen – Schiiten, Alawiten und die damit nicht zu verwechselnden türkischen Aleviten – ist eine wichtige Triebfeder für ihr Engagement. Diese Sekten sind ebenso religiös wie rechtsradikal. Ihre Adepten nehmen Einfluss auf die AKP-Spitze und sitzen zum Teil im Sicherheitsapparat.

 

Die Idee von einer radikalen sunnitischen Bewegung, die den angeblichen Vormarsch der Schia im Nahen Osten stoppt, passt jedenfalls vortrefflich in ihre Weltanschauung. In der syrisch-türkischen Grenzprovinz Hatay, in der viele Araber und Angehörige der alawitischen Glaubensgemeinschaft leben, hat Erdogans pro-sunnitische Außenpolitik viele Kritiker, um es vorsichtig auszudrücken. Die Lage in der Türkei kann schnell umschlagen.

 

Möglicherweise wartet die Türkei auf ein UN-Mandat, um eine Pufferzone einzurichten

 

Dass die Türken sich nun offensiver am Kampf gegen IS beteiligen, ist nicht auszuschließen. Aber der Preis, den sie nun ihrerseits dafür verlangen, wird entsprechend hoch sein. Manche Analysten glauben, die Türkei warte auf ein UN-Mandat, um an ihrer Syriengrenze eine Pufferzone einzurichten und die Zivilbevölkerung zu schützen. Das würde beinhalten, dass man auch eine Flugverbotszone einrichtet, um Bombardements durch die Assad-Streitkräfte zu verhindern. Die Patriot-Raketen dazu hat sie ja bereits von der Nato bekommen – niemand glaubt ernsthaft, dass die türkische Armee sie jemals zurückgeben wird.

 

Bei allen Erwägungen und aller Kritik an der unklaren – man kann auch sagen: zwielichtigen – Rolle Ankaras im Konflikt um IS sollte man allerdings Fairness walten lassen: Die Türkei hat hunderttausende syrische Flüchtlinge aufgenommen. Von ihrer liberalen und offenen Visafreiheit-Politik profitieren nicht nur Dschihadisten und Kriminelle, sondern auch Menschen auf der Suche nach Freiheit, ebenso rechtschaffene Kaufleute und Touristen.

 

Bei allem also, was wir der türkischen Regierung an Versäumnissen und möglichen Manipulationen vorwerfen, sollten wir also im Blick behalten, dass die Türkei viel zu verlieren hat. Sie bekäme die Kehrseite des IS-Terrors ebenso unmittelbar wie drastisch zu spüren. Eine halbwegs stabile Türkei ist auch im Interesse des Westens, Europas und der arabischen Staaten. Die Türkei ist, gleich wer sie derzeit regiert, ein Nato-Staat, ein Wirtschaftspartner, Investitionsstandort und nicht zuletzt ein Zufluchtsort für Verfolgte. Das Risiko, das die Türkei trägt, ist deshalb ein Stück weit auch unser Risiko.

Von: 
Daniel Gerlach

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