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Wehrdienstverweigerer in der Türkei

»Es ist kein Verbrechen, das Töten abzulehnen«

Feature

Wer den Militärdienst in der Türkei verweigert, muss noch immer mit Strafverfolgung und Repressalien rechnen. Der Widerstand dagegen wächst stetig – nicht zuletzt auch wegen der Zustände in der türkischen Armee.

Nach insgesamt drei Verhandlungen, die sich über mehrere Jahre hinzogen, wurde der türkische Kriegdienstverweigerer Halil Savda Mitte Dezember 2012 vor dem Gericht im zentralanatolischen Eskişehir freigesprochen. Das »Vergehen« des 38-Jährigen? Savda war im Jahr 2011 verurteilt worden, nachdem er bei einer Kundgebung zur Unterstützung anderer Verweigerer den Slogan »Jeder Türke wird als Baby geboren« gerufen hatte. Dabei bezogen sich die Demonstranten auf den bekannten türkischen Ausspruch »Her Türk asker doğar – Jeder Türke wird als Soldat geboren«.

 

Eine Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen und ein ziviler Ersatzdienst sind in der Türkei nicht möglich. Wer sich für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzt, hat schnell die türkische Justiz an seinen Fersen, die mit Artikel 318 des Strafgesetzbuches, der die »Entfremdung der Bevölkerung vom Militär« unter Strafe stellt und Haftstrafen von sechs Monaten bis zwei Jahren vorsieht, gegen Wehrpflichtgegner vorgeht. Artikel 318 verstößt aber gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention, zu deren Vertragsstaaten die Türkei zählt und der das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert.

 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Türkei wiederholt verurteilt, weil die juristische Verfolgung von Wehrpflichtgegnern die Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), Artikel 3 (Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung) und Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzen. Das Militär spielt in der Türkei seit dem Unabhängigkeitskrieg (1918-1923) eine herausragende Rolle und nimmt politisch, wirtschaftlich und auch sozial noch heute starken Einfluss auf die Gesellschaft. So ist es etwa quasi unmöglich, vor Ableistung des Militärdienstes einen Vollzeitjob zu erhalten oder zu heiraten: man ist einfach noch kein »richtiger Mann«. Die Verabschiedung der jungen Männer zum Wehrdienst mit Autokorso und öffentlichen Gesängen kommt, ähnlich der Beschneidung, einer Initiationsfeier gleich.

 

Viele Türken kennen den Osten des Landes eigentlich nur aus der abendlichen Berichterstattung

 

Es regt sich jedoch Widerstand: Immer weniger junge türkische Männer sind bereit, den langen und strapaziösen Militärdienst abzuleisten. Kritisiert werden neben den Unterbringungsformen und dem harten Drill auch die Größe der Armee. In Zeiten »intelligenter« Kriegsführung unterhält die Türkei innerhalb der NATO mit knapp 720.000 Soldaten das zweitgrößte stehende Heer nach den USA.

 

Zudem haben die jungen Männer Angst vor »dem Osten«: Viele Türken kennen diesen Teil des Landes eigentlich nur aus der abendlichen Berichterstattung, die den Eindruck vermittelt, hier sei »PKK-Land«; Kurden fürchten den Einsatz, weil er bedeuten könnte, auf Mitglieder der eigenen Ethnie schießen zu müssen. Allerdings trauen sich nur wenige, diese Meinung auch öffentlich kundzutun, zu groß ist die Angst vor einer Anklage und anschließender Haftstrafe.  Doch langsam wachsen die Mitgliederzahlen des Vereins »Savaş karşıtları – Kriegsgegner« oder auf der Plattform »Barış için vicdani ret – Wehrdienstverweigerung für den Frieden«.

 

Die Hoffnung der Wehrpflichtgegner liegt sowohl im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, als auch in einer neuen Verfassung für die Türkei. »Nach den kürzlich ergangenen Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte erarbeiteten wir Möglichkeiten, wie wir die rechtliche Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung durchsetzen können«, so Aktivisten bei einer Feier zu 20 Jahren Kriegsdienstverweigerung im Februar 2012. »Wir fordern, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Teil einer neuen Verfassung und als Recht für jeden Bürger anerkannt werden muss.«

 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei schon mehrfach aufgefordert, die Regelung zum Wehrdienst zu überarbeiten – etwa im Januar 2006 in Bezug auf den Verweigerer Osman Murat Ülke, als die Richter feststellten, dass die türkische Praxis der wiederholten Strafverfolgung und Inhaftierung von Kriegsdienstverweigerern gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Der in Deutschland geborene Ülke war zwischen 1997 und 1998 achtmal wegen seiner Verweigerung verurteilt worden.

 

Verteidigungsminister İsmet Yılmaz räumte ein, das Urteil des EGMR von 2006 würde umgesetzt und die Strafverfolgung von Kriegsdienstverweigerern auf ein Mal begrenzt werden. Allerdings wandte er sich im November 2012 vehement gegen den Vorschlag des stellvertretenden Ministerpräsidenten Bülent Arınç, der die Einrichtung eines alternativen Zivildienstes befürwortete. Wie so häufig hatte Premierminister Erdoğan das letzte Wort und beendete die Diskussion mit der Aussage, eine Abschaffung der Wehrdienst werde es in der Türkei nicht geben.

 

934 türkische Soldaten nahmen sich in den letzten zehn Jahren das Leben

 

Savda ist überzeugt: »Es ist kein Verbrechen, das Töten abzulehnen.« An seine Unterstützer, die ihm während einer hunderttägigen Haftstrafe seit Februar 2012 über 500 Solidaritätsbriefe geschickt hatten, schrieb er: »Ich weiß, dass die türkischen Politiker die Heiligkeit des Lebens, den Wert von Meinungsfreiheit, die Verteidigung von Rechten und die Möglichkeit, frei zu denken, obwohl man eingesperrt ist, nicht verstehen. Sie werden nie erleben, wie es sich anfühlt, frei zu denken – und das ist eine ausreichende Strafe. Ich träume noch immer von einer demokratischen Türkei, die Menschenrechte respektiert. Ich glaube noch immer tief in meinem Herzen, dass dies möglich ist.«

 

Viele Türken sehen das ähnlich, sind in ihrem Widerstand aber nicht so kompromisslos wie Savda, der wegen seiner Verweigerung schon insgesamt fast zwei Jahre im Gefängnis verbrachte. Sie versuchen stattdessen, durch Heirat oder Berufstätigkeit im Ausland und der zusätzlichen Zahlung eines »Freikaufsbetrags« zwischen 5.000 und 10.000 Euro den Militärdienst zu umgehen. Aber auch dabei kann es Schwierigkeiten geben: In einem Fall weigerten sich die türkischen Behörden einige Monate, einen jungen Mann, der den deutschen Pass annehmen wollte, auszubürgern: Er hatte den Militärdienst noch nicht abgeleistet.

 

Aber ohne Ausbürgerung aus der Türkei war wegen des Verbots der doppelten Staatsbürgerschaft auch die Einbürgerung in Deutschland rechtlich nicht möglich. Gleichzeitig steigt auch die Rate der Selbstmorde in der türkischen Armee. Erst Anfang Dezember 2012 hatte sich in diesem Jahr der 66. Soldat das Leben genommen. Während die Militärführung argumentiert, durch Schulungen und Sensibilisierungen sei die Zahl der Selbstmorde in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent gesunken, dokumentierte eine parlamentarische Untersuchungsgruppe in den letzten 10 Jahren 934 Suizidfälle, der PKK etwa waren 818 Soldaten zum Opfer gefallen.

 

Was die Ursachen für die hohe Selbstmordrate anbetrifft, gehen die Meinungen weit auseinander: Einige argumentieren, schlechte Bedingungen in den Kasernen und Misshandlungen durch Offiziere seien Schuld. Der »Verein für die Rechte von Soldaten« hatte im Oktober einen Bericht vorgestellt, der 432 Fälle von Misshandlungen während der Wehrpflicht dokumentiert. Andere betonen, es hätte auch früher schon viele Selbstmorde gegeben, nur sei damals wegen fehlender Transparenz nichts an die Presse gelangt.

 

Eine dritte Gruppe führt an, die hohe Zahl von Strafverfahren gegen Militärangehörige im Zuge der Ergenekon-Prozesse sei der Auslöser, die Verantwortung sei also bei der Justiz zu suchen. Auffällig ist jedoch eines: Der Bericht der Menschenrechtskommission des Parlaments hat für die 20- bis 24-jährigen, also die Gruppe, in der auch die jährlich 400.000 Wehrpflichtigen eingeordnet werden, eine besonders hohe Selbstmordrate festgestellt.

Von: 
Charlotte Joppien

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